In praktisch jedem andern Land hätten 49,3% der Stimmen gereicht, um im Parlament eine Mehrheit zu erringen. In Schweden werden die Mandate im Reichstag jedoch streng proportional verteilt, und so braucht es in einer Situation, wo keine einigermassen bedeutende Partei an der 4%-Hürde scheitert, fast 50% der Wählerstimmen, um sich eine Mehrheit im Parlament zu sichern. Das hatten die Väter und Mütter der schwedischen Verfassung so gewollt, erscheint in der heutigen politischen Situation mit immer mehr Parteien aber doch sehr unbedacht.
Im Parlament wurden Lose gezogen
Ursprünglich hatte man den Reichstag sogar mit einer geraden Zahl von 350 Mandaten ausgerüstet, was in den Wahlen von 1973 zum sogenannten Lotterie-Reichstag führte: Beide Blöcke verfügten über je 175 Mandate. Mehrere Abstimmungen im Parlament mussten durch Losziehen entschieden werden.
Mit dem Wahlresultat vom 19.September 2010 wird Schweden - wie 1973 - mit der Tatsache leben müssen, dass weder die bürgerliche „Allianz“ noch die Rotgrünen über eine Mehrheit verfügen. Denn beide Blöcke schliessen eine Zusammenarbeit mit den Schweden-Demokraten aus. Regierungschef Fredrik Reinfeldt von den liberal-konservativen Moderaten will zwar weiter regieren, eine Kooperation mit der Schwedenpartei kommt für ihn jedoch nicht in Frage. Dasselbe gilt auch für die Sozialdemokraten, die Linkspartei und die Grünen.
"Erst nach der verpassten Mehrheit wollen sie mit den Grünen sprechen"
Reinfeldt will nun versuchen, mit den Grünen ins Gespräch zu kommen, ist damit aber vorerst auf Granit gestossen: „Ein Partei, die Kranke aus der Krankenkasse ausschliesst, die keine Klimapolitik führt und zehn neue Kernkraftwerke bauen will, können wir nicht unterstützen, sagte Maria Wetterstrand, eine der beiden „SprecherInnen“ der kollektiv geführten grünen Umweltpartei. Und ihr Kollege Peter Eriksson doppelte nach: „Erst jetzt, nachdem sie die Mehrheit im Reichstag eingebüsst haben, wollen sie mit uns sprechen. Dabei geht es ihnen nur darum, Verantwortung auf uns abzuladen.“
Eriksson dürfte vor allem an die Möglichkeit gedacht haben, dass den Rotgrünen der Vorwurf unheiliger Allianzen gemacht wird, wenn sie eine Vorlage der Regierung gemeinsam mit der Schwedenpartei zu Fall bringen sollten. So etwas könnte die Rotgrünen schwerlich auf sich sitzen lassen; sie könnten daher gezwungen sein, aus ihrer Oppositionsrolle herauszutreten, um im Gespräch mit der Regierung „Verantwortung“ zu übernehmen.
Den Wohlfahrtsstaat erhalten
Schweden hat eine lange Tradition von Minderheitsregierungen. Die meisten sozialdemokratischen Regierungen, die Schweden in den letzten Jahrzehnten hatte, waren Minderheitsregierungen, die sich die Mehrheiten für ihre Vorlagen von Fall zu Fall beschaffen mussten. Oft stimmten die Kommunisten (die Vorläuferin der heutigen Linkspartei) zusammen mit der Regierung, oft aber auch eine der bürgerlichen Parteien. Das war ein Muster, das lange gut funktionierte und das nun auch in der kommenden Mandatsperiode zur Anwendung kommen dürfte.
Die Unterschiede zwischen den beiden Blöcken, haben sich in den vergangen Jahren weiter vermindert. Insbesondere die liberal-konservativen Moderaten von Regierungschef Fredrik Reinfeldt haben sich der politischen Mitte zugewandt, wo auch die meisten der Sozialdemokraten anzusiedeln sind. Auch die Moderaten wollen wie die Sozialdemokraten und die Grünen den schwedischen Wohlfahrtsstaat erhalten, wenn auch in einer etwas schlankeren und bezahlbareren Form.
Für die These, dass es letztlich doch zu einer irgendwie gearteten Kooperationen zwischen den Parteien der rot-grünen Blocks und der Allianz kommen wird, spricht auch der Umstand, dass die Grünen in der vergangenen Mandatsperiode in 20 Gemeinden und Städten mit Parteien der Allianz zusammenarbeitet haben – und umgekehrt die bürgerliche Zentrumspartei in 18 Gemeinden zusammen mit den Sozialdemokraten. Rund ein Fünftel der 290 schwedischen Gemeinden wurden in den vergangenen Jahren von solchen blockübergreifenden Koalitionen regiert.
Zahlen und Trends
Bestätigt hat sich mit den Reichstagswahlen vom 19. September der Abwärtstrend bei den Sozialdemokraten. Erneut büssten die Sozialdemokraten massiv Stimmen ein (-4,2%) und sind nun mit 30,8% nur noch knapp die grösste Partei. Noch vor zwanzig Jahren galten 45% für die Sozialdemokraten als „normal“.
Zweitgrösste Partei sind die Moderaten von Fredrik Reinfeldt, die um 3,8% zulegen konnten und damit auf 30,0% kommen.
Zu den Gewinnern der Wahlen gehören ausser der Schwedenpartei (5,7%) auch die Grünen (7,2%), die damit erstmals seit ihrer Gründung drittgrösste Partei sind.
Die bürgerliche Allianz erhält im neuen Reichstag 172 der 349 Mandate. Die Rot-Grünen (Sozialdemokraten, Grüne und Linkspartei) kommen auf insgesamt 157. Die Schweden-Demokraten erhalten 20 Abgeordnete.