Der Mann müht sich ab. Ganz gewiss. Sogar nach Kräften. Aber irgendwie scheint sich Peer Steinbrück in einer Art öffentlichem Meinungs-Vakuum zu bewegen. Selbst als vor wenigen Tagen die Führung von Deutschlands Sozialdemokraten rund 200’000 Menschen aus dem ganzen Land zur Feier des 150. Geburtstags der SPD nach Berlin karren liess, damit sie ihrem Kanzlerkandidaten nach einer tatsächlich kämpferischen Rede zujubeln, kehrten die Genossen ganz offensichtlich nicht in dem Glauben heim, dass sich die politische Stimmungslage zwischen Flensburg und Konstanz, zwischen Rhein und Oder für sie noch deutlich verbessern werde.
Dabei herrscht doch – so suggerieren wenigstens die Parteien – Wahlkampf in Deutschland. In einem Monat (am 22. September) sind rund 62 Millionen Bundesbürger aufgerufen, ein neues nationales Parlament – den Bundestag – zu wählen. Und nicht nur das: Am selben Tag bestimmen 4,5 Millionen Hessen und bereits eine Woche zuvor 9,3 Millionen Wahlberechtigte in Bayern über ihre künftigen Landtage.
«Heisse Phase» – kühle Stimmung
Diese letzten vier Wochen vor der Entscheidung pflegen traditionell als die «heisse Phase» bezeichnet zu werden. Doch die allgemeine Stimmung (sofern überhaupt von einer solchen gesprochen werden kann) ist bislang eher mau bis kühl. Gewiss, es sind noch Sommerferien in Deutschland. Und die Werbestrategen in den Parteizentren raten dringend davon ab, «die Leute in der Erholungsphase zu belästigen». Doch das ist ganz sicher nicht der einzige und vielleicht nicht einmal der Hauptgrund dafür, dass über der politischen Szene im Vorfeld dieser Bundestagswahl beinahe so etwas wie Mehltau liegt.
Immerhin gehört die Entscheidung über das nationale Parlament doch zu den wichtigsten demokratischen Rechten eines Volkes. Und dies müsste – sollte man wenigstens meinen – eigentlich am stärksten in einer Nation verankert sein, die unter den Nationalsozialisten vollständig und anschliessend zu grossem Teil in einem kommunistischen Teilstaat darauf verzichten musste. Es sind in diesen Tagen gerade einmal 24 Jahre her, dass der Ruf nach freien Wahlen zu den Kernforderungen während der Demonstrationen zählte, mit denen die Menschen in der DDR das Unrechtsregime verjagten. Für dieses Recht sind in der Geschichte Tausende und Abertausende hinter Gitter gegangen und gestorben. In vielen Teilen auf der Erde hat sich bis heute noch nichts geändert.
Daran zu erinnern ist fast schon Pflicht, wenn man die Ergebnisse jüngster Untersuchungen über politische Kenntnisstände und Interessen innerhalb der deutschen Bevölkerung liest. Das gilt nicht zuletzt für junge Menschen – für jene Generation also, deren Leben (Bildung, Zukunft, Arbeit, soziale Absicherung, Frieden usw.) doch am allerstärksten vom politischen Geschehen bestimmt wird! So weiss zum Beispiel deutlich mehr als die Hälfte der 18- bis 29-Jährigen nicht einmal, dass am 22. September Bundestagswahlen sind. Bei den Älteren ist zwar das Wissen stärker ausgeprägt, kaum jedoch das Interesse. Ganze 28 Prozent der befragten Deutschen gaben nämlich an, am Wahlkampf «überhaupt nicht» oder allenfalls «weniger stark» interessiert zu sein.
Überfülle an Informationen?
Am mangelnden Informationsangebot kann das freilich nicht liegen. Eher im Gegenteil. Nie zuvor war die mediale Breite mitsamt ihrer wichtigen und nebensächlichen Inhalte so gross. Ist die Folge davon vielleicht Übersättigung? Nehmen wir zum Beispiel die wöchentlich (wie Pegelstände) publizierten Umfrage-Ergebnisse zum Beliebtheitsgrad von Politikern und Parteien. Dazu auch noch die sogenannte Sonntagsfrage: «Wie würden Sie sich entscheiden, wenn am kommenden Sonntag Wahlen wären?» Hinsichtlich dieser Zahlen hat sich das Stimmungsbild in Deutschland seit Monaten eigentlich nur marginal verändert. Angela Merkel, die christdemokratische Bundeskanzlerin (und angeblich mächtigste Frau in Europa, wenn nicht gar darüber hinaus), rangiert auf dieser Beliebtheits‐Hitliste als Person mit zumeist zwischen 50 und 60 Prozent weit vor ihrem sozialdemokratischen Herausforderer Peer Steinbrück mit weniger als 30 Prozent.
Ähnlich düster sieht es mit der parteilichen Zuneigung aus: Während Merkel und die Union schon seit Längerem um die 40 Prozent Zustimmung erfahren, haben es Steinbrück und die SPD – trotz aller Pleiten, Pannen und Fehler des christlich‐liberalen Regierungslagers – offensichtlich während der jetzt auslaufenden Legislaturperiode nicht geschafft, erkennbar aus dem (mit dem damaligen Spitzenkandidaten Frank‐Walter Steinmeier) erlittenen 23-Prozent-Debakel herauszukommen.
Nun sind Stimmungen bekanntlich noch lange nicht Stimmen. Und schon gar nicht in einer Phase, in der rund 70 Prozent der befragten Wahlberechtigten selbst so kurze Zeit vor dem Urnengang bekennen, hinsichtlich ihrer Stimmabgabe noch nicht festgelegt zu sein. Dazu kommt, dass sich (gemessen an den bundesrepublikanischen Gründerjahren) die politische Landschaft in Deutschland ziemlich verändert hat. Statt der früher zumeist drei, später vier Parteien (CDU/CSU, SPD, FDP, Grüne) gehen heute national fünf (mit der mehrfach umgetauften und heute unter «Die Linke» firmierenden einstigen SED) und regional mit der ultrarechten NPD sowie den irgendwo im politischen Nirwana irrlichternden «Piraten» sogar sieben Parteien auf Wählerjagd. Vor diesem Hintergrund wird für die parlamentarische Zusammensetzung und Bildung der künftigen Regierung in Deutschland die Wahlbeteiligung von entscheidender Bedeutung sein.
Schwarz-Gelb, Rot-Grün – oder etwas ganz Neues?
Vordergründig haben sich die beiden «traditionellen» Lager gegenüber der Öffentlichkeit seit langem schon wieder festgelegt: CDU/CSU und FDP zum schwarz-gelben Block, Sozialdemokraten und Grüne auf das rot-grüne Bündnis. Innerhalb dieser scheinbar zementierten Burgwälle existieren freilich überall längst Kräfte, die – mehr oder weniger heimlich – über die Wälle hinaus blicken. Die Gründe dafür sind höchst unterschiedlich; manche allerdings liegen auf der Hand. Beide grossen Parteien wollen (zumindest im Prinzip) keine Grosse Koalition. Das gilt insbesondere für die Mehrheit der SPD und ganz speziell für deren Spitzenmann. Peer Steinbrück, der frühere Bundesfinanzminister im schwarz-roten Kabinett Merkel, hat für sich sogar von vornherein dezidiert ausgeschlossen, erneut in eine von der Union geführte Regierung zu gehen.
Was aber passiert, wenn CDU und CSU am 22. September zwar siegen, aber dennoch die Wahlen nicht gewinnen, weil entweder die ständig um 5 Prozent herum schwimmende FDP den Sprung in den Bundestag nicht schafft, oder (wie vor ein paar Monaten bei den Landtagswahlen im Bundesland Niedersachsen) den Christdemokraten zu viele Stimmen abluchst, so dass schlussendlich beide am Regierungsziel vorbeischrammen?
Ohnehin sind die Zeiten längst vorbei, in denen Unionisten und Liberale ihr Bündnis als «Liebesheirat» bezeichneten. Dazu hat es auf beiden Seiten zu viel Ärger und zu grosse Enttäuschungen gegeben. Nicht wenige bei den «Schwarzen» denken noch immer mit Wehmut an die Jahre zwischen 2005 und 2009, als Angela Merkel und Peer Steinbrück Hand in Hand die Bankenkrise meisterten und in den Fraktionen der unlängst verstorbene Peter Struck (SPD) und Volker Kauder (CDU/CSU) die Zügel in der Hand hielten. Bei seinem sehr anrührenden Nachruf auf «meinen Freund» Peter berichtete Kauder, dass sie sich (nach dem Ende der Grossen Koalition) bei Begegnungen stets gegenseitig fragten: «Fehl ́ ich Dir sehr?»
Doch abgesehen von derartig nostalgischen Reminiszenzen haben hier wie dort sowohl Freidemokraten als auch Grüne besonders in jüngerer Zeit ebenso aufmerksam wie ärgerlich registriert, wie sowohl die Kanzlerin als auch führende Genossen mehr als einmal «nicht ausschliessen» wollten, dass nach dem 22. September «die Verhältnisse» eine Wiederauflage des schwarz-roten Bündnisses notwendig machen könnten.
Ein sozialdemokratisches Trauma
Wie sollten sie denn auch? Sicher, nach dem seit Wochen stabilen demoskopischen Stimmungsbild in Deutschland wäre unter bestimmten sehr günstigen Umständen ein sozialdemokratischer Bundeskanzler mit grüner Beteiligung denkbar, wenn man «Die Linke» mit ins Boot holen würde. Also die Nachfolger ausgerechnet jener Partei, in der die SPD nach dem Krieg in der DDR mit der kommunistischen KPD zwangsvereinigt wurde und widerspenstige Sozialdemokraten zu leiden hatten wie keine anderen.
Gewiss, die Zeit hat auch hier manche Wunden geheilt, Deutschland ist wieder vereint, und auch innerhalb der «Linken» haben sich einige Veränderungen vollzogen. Trotz alledem ist das Trauma in der SPD noch bei weitem nicht überwunden. Im Übrigen würde sich in diesem Fall die spannende Frage stellen, welche Führungspersönlichkeit in der SPD für eine derartige Konstellation parat stünde. Denn Steinbrück hat – genau wie gegenüber Angela Merkel – ein Zusammengehen mit den Linken für sich kategorisch ausgeschlossen.
Klar, das alles ist reine Kaffeesatz-Leserei. Aber es ist symptomatisch für diese so merkwürdig verlaufende Vorwahlkampfzeit in Deutschland, dass sich die Öffentlichkeit (und hier vor allem die Medien) sehr viel stärker auf im Grunde überflüssige Spekulationen oder später möglicherweise anstehende Personalquerelen (Wer folgt bei der SPD auf Steinbrück? Was passiert, wenn Merkel an einen Baum fährt?) stürzen als auf «harte» Themen. Selbst die gerade ausgebrochene Aufregung um eine angeblich sensationell neue Aussage von Finanzminister Schäuble hinsichtlich möglicher weiterer Griechenlandhilfen ist bei Lichte besehen ein blosser Sturm im Wasserglas. Nichts anderes wäre beispielsweise nachzulesen in den Beschlusspapieren des jüngsten Brüsseler EU-Gipfels.
Viel wichtiger (aber natürlich auch schwieriger) wäre endlich einmal eine seriöse – durchaus streitige – Auseinandersetzung über das, was nach den deutschen Vorstellungen eigentlich die Europäische Union der Zukunft darstellen soll? Die blosse Aufnahme von immer mehr Mitgliedern kann es ja wohl nicht sein, wenn man an dem eigentlichen Ziel einer Wertegesellschaft festhalten will. Was muss geschehen, damit dieses verfasste Europa nicht nur Geschäfte macht, sondern auch aussen- und sicherheitspolitisch wahrgenommen wird?
«Zu schwere Kost»
Das sei, sagen die Berater und Werbefachleute der Parteien, zu schwere Kost. Es interessiere «die Leute» nicht. Aber ist nicht gerade das die vornehmste Aufgabe der Politik, den Bürgern auch Unpopuläres nahezubringen? Und was wäre dazu besser geeignet als ein Wahlkampf. Im Übrigen: Der im parteipolitischen Getümmel in diesem Sommer grösste Aufreger, die weltweite Spähaktivität der amerikanischen Geheimdienste, interessiert in Deutschland gerade einmal 17 Prozent der Leute. Sagen die Demoskopen.