Der Amtssitz von Präsident Putin ist in der Nacht zum Mittwoch mit zwei Drohnen angegriffen worden. Russland macht ukrainische Terroristen dafür verantwortlich. Aber: Steckt die Ukraine wirklich hinter dem Anschlag oder ist alles nur russische Inszenierung? Wir wissen es nicht. Aber einige Überlegungen seien erlaubt.
Mit selten dagewesener Offenheit sprechen Kreml-Sprecher Dmitri Peskow und russische Propagandisten von dem Angriff. Diese Offenheit macht stutzig. Was könnte sie bezwecken?
Der russische Krieg in der Ukraine verläuft alles andere als nach Plan. Das russische Militär und die russische Militärführung demonstrieren tagtäglich ihr Unvermögen. Trotz hunderttausend russischer Toten und Verletzten scheint das russische Volk noch hinter Putin zu stehen. Wichtig für den Kreml ist, dass das so bleibt.
«Die USA wollen Russland in die Knie zwingen»
Mit dem behaupteten ukrainischen Drohnenangriff auf Putins Amtssitz könnten die russischen Propagandisten versuchen, das Volk weiter hinter sich zu scharen. Jetzt wird der Westen immer unerschrockener und todesmutiger, so die Botschaft, jetzt greift er sogar unsere Hauptstadt an. Jetzt werde deutlich, dass es den USA und den übrigen Nato-Staaten nicht um die Ukraine gehe, sondern darum, das stolze Russland endgültig in die Knie zu zwingen und langfristig zu schwächen. Der westliche Drohnenangriff auf Moskau sei der Beweis dafür. Kreml-Sprecher Peskow hat bereits die USA für den Angriff verantwortlich gemacht. Kiew führe nur aus, was die USA befehlen, sagte er.
Also, wird gefolgert: «Stehen wir zusammen, jetzt erst recht, kämpfen wir gemeinsam gegen den westlichen Feind! Nehmen wir Opfer in Kauf! Es lohnt sich. Retten wir die Ehre unseres Volkes, verteidigen wir die heilige russische Erde!» Der Drohnenangriff könnte in Russland dazu dienen, eine neue Mobilisierungswelle zu rechtfertigen. Es gibt gute Gründe dafür anzunehmen, dass sich die russische Propaganda das so ausgedacht hat, dass also der Angriff von russischer Seite aus erfolgte, um das russische Volk gegen die Ukraine und den Westen aufzustacheln.
Auftrieb für die Falken
Ein weiteres Ziel könnte sein, die russischen Hardliner mit dem behaupteten Drohnenangriff zu stärken. Die bisherige russische Kriegsführung ist nach Ansicht der Falken allzu zögerlich. Also: «Geben wir endlich das Letzte, zögern wir nicht mehr, schonen wir niemanden, werfen wir alles in die Schlacht! Bombardieren wir Kiew, den Regierungspalast, versuchen wir Selenskyj zu töten! Setzen wir jetzt endlich unsere geballten Kräfte ein, um die Ukraine in Schutt und Asche zu legen. Mobilisieren wir weiter!»
Fragen muss man sich allerdings, ob es propagandistisch klug war, einen Drohnenangriff auf das russische Machtzentrum zu inszenieren. Denn: Russland gibt damit ein klägliches Bild von sich selbst ab. Schiesst sich die russische Propaganda mit dieser Drohnen-Erzählung nicht ins eigene Bein?
Ukrainische Angriffe auf russische Ölanlagen
Im vergangenen Oktober ereignete sich auf der Kertsch-Brücke, der einzigen Verbindung zwischen Russland und der Krim, eine schwere Explosion, offenbar ausgelöst von pro-ukrainischen Partisanen. Anschliessend brannten auf der Krim immer wieder strategisch wichtige russische Treibstofflager. In Belarus, an der Grenze zur Ukraine, fanden Angriffe auf russische Güterzüge statt. Am Donnerstag wurde eine der grössten Ölraffinerien im Süden Russlands, die Ilsky-Raffinerie in der Nähe des Schwarzmeerhafens Novorossiisk in der Region Krasnodar, Ziel eines Drohnenangriffs. Doch all diese Zwischenfälle ereigneten sich nahe der ukrainischen Grenze, zum Teil in Reichweite westlicher Raketen.
Jetzt aber plötzlich das weit entfernte Moskau.
Russische Blamage
Würde es stimmen, dass die Ukraine den Angriff durchgeführt hat, wäre diese eine schreckliche Blamage für die Russen. Mit der Beschuldigung der Ukraine würde Russland bestätigen, dass es ukrainischen Drohnen gelungen ist, durch die russische Luftverteidigung hindurch bis nach Moskau zu fliegen. Russland würde so demonstrieren, dass es nicht mehr in der Lage ist, die eigene Hauptstadt zu schützen.
Wenn es aber – andererseits – stimmt, was westliche Geheimdienste vermuten, dass nämlich alles eine russische Inszenierung ist, so muss man sich fragen, ob sich die russischen Propagandisten bewusst waren, welche Blösse sie sich mit dieser Drohnen-Erzählung geben.
Propagandistischer Gau?
Die russische Hauptstadt liegt 700 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Wie kann es sein, dass westliche Drohnen über diese lange Distanz fliegen können, ohne von der russischen Abwehr abgeschossen zu werden?
Die russischen Propagandisten sind sich offenbar nicht bewusst, dass sie sich mit der Erzählung vom ukrainischen Drohnenangriff eine schreckliche Blösse geben. Handelt es sich um einen propagandistischen Gau?
Natürlich schossen schnell Spekulationen ins Kraut. Eine besagte, dass es innerrussische Partisanen sein könnten, die den Angriff auf Putins Amtssitz durchgeführt haben. Amerikanische Think Tanks glauben eher an eine Inszenierung des Kreml.
«Lächerlich»
So oder so: Ob nun die Ukraine oder der Kreml oder Partisanen hinter dem Angriff stehen. Die russische Armee gibt ein klägliches Bild von sich selbst ab. Der Kreml-Bezirk galt bisher als einer der am stärksten bewachten Regierungskomplexe der Welt. Auch die russische Grenze zur Ukraine ist geschützt. Und hier schlagen Drohnen ein.
Washington bezeichnete inzwischen die russische Darstellung, wonach die USA hinter dem Angriff stünden, als «lächerlich». Und Selenskyj sagte klipp und klar: «Wir greifen weder Putin noch Moskau an; wir kämpfen auf unserem Territorium.»
Sollte es sich wirklich um eine Inszenierung handeln, könnte man sich fragen: In welchem Zustand befindet sich eine Nation, die sich selber mit Drohnen beschiessen muss, um ihr Tun zu rechtfertigen?