Der Hafenkran am Zürcher Limmatquai löste lange vor seiner Aufrichtung im April 2014 mehr Diskussionen aus als bisher die Manifesta 11. Die gross und als grossartig angekündigte «Europäische Biennale für zeitgenössische Kunst» findet seit bald einem Monat an 34 quer durch die Stadt verteilten Orten statt. Der Kran strahlte aus und polarisierte. Nicht so die Manifesta 11. Still erwartet sie die Entdeckung, still unsere Anstrengung mit Fussmärschen oder Tramfahrten und unsere Ausdauer fürs Lesen der Verständnishilfen.
Denkanstösse und Analysen
Die Manifesta ist eine Initiative der gleichnamigen Non-Profit-Organisation in Amsterdam, die seit 1996 alle zwei Jahre einen Gastort auswählt: jetzt Zürich, nach Rotterdam, Ljubljana, St. Petersburg und anderen Städten oder Regionen.
Nach eigenem Bekunden befasst sie sich «mit dem genius loci des jeweiligen Ausstellungsortes und dient als Denkanstoss zur Auseinandersetzung mit Fragen zu Lebensstil, Arbeitsumfeld, Geisteshaltung und Zukunftsaussichten im Kontext der immer dringlicher werdenden Herausforderungen in Europa im Zusammenhang mit wirtschaftlichem Abschwung, Migration und Klimawandel.»
Überdies will die Manifesta «eine facettenreiche und laufende Analyse der kulturellen Befindlichkeit in Europa» liefern.
Überschätzung
Ambitiöser kann ein Programm nicht sein. Mit dem zeitgeistigen Hoch- und Weitsprung verbittet sich die Manifesta allerdings auch gleich und elegant die Frage nach fassbaren und brauchbaren Erkenntnissen. Der Versuch etwa, aus der Verknüpfung der lokalen Identität mit dem Klimawandel die gesellschaftlichen Umwälzungen zu begreifen und daraus das kulturelle Grundgefühl von Hammerfest bis Kreta abzuleiten, ist eine Überschätzung dessen, was Kunst selbst als Mega-Festival der Interdisziplinarität zu leisten vermag.
Zu diesem Irrtum fügt sich die Begründung für den aktuellen Standort: «Die Entscheidung für Zürich war und ist verbunden mit der Frage 'Wo stehen wir heute?' Denn die Zürcher Perspektive erlaubt einen ungewöhnlichen Blickwinkel auf die gegenwärtige Krise Europas.» Eine Veranstaltung, die ihre Bedeutung so pompös zelebriert, sollte sich erstens tautologische Argumente ersparen und zweitens solche mit extrem kurzer Halbwertzeit.
Unüberschaubares Angebot
In Zürich gilt das besondere Manifesta-Interesse dem Thema «What People Do for Money: Some Joint Ventures». Gemeint ist der «Zusammenhang zwischen (Kunst-)Schaffen und (gewerbsmässiger) Arbeit», das die Veranstalter als Konzept bezeichnen, «das in unserem postindustriellen Zeitalter von besonders grosser Bedeutung ist – nicht nur hier in Zürich, sondern auf der ganzen Welt».
Ob die Menschen im Nahen Osten, am Horn von Afrika, in Venezuela oder Nordkorea dieser Behauptung zustimmen, ist eine rhetorische Frage als weiterer Hinweis auf die Unbekümmertheit, mit der die Manifesta 11 ihre Mission zu formulieren beliebt.
Das Angebot ist unüberschaubar und insofern auch schwierig erschliessbar, als die Öffnungszeiten erheblich voneinander abweichen. Aus der Fülle wählten wir für einen Augenschein die Wasserkirche aus, das Helmhaus und das Holzfloss auf dem Zürichsee beim Bellevue.
Hermetische Installation
In der sonst eindrücklich einfachen Wasserkirche hängt von der Decke ein riesiger blauer Schmetterling herab und verdeckt zur Hälfte die von Augusto Giacometti gestalteten Glasfenster. Zur Installation des russischen Künstlers Evgeny Antufiev gehören auch Skulpturen, Fundstücke und Texte. Ihm ging es gemeinsam mit Pfarrer Martin Rüsch um Vorstellungen vom ewigen Leben und um Gedenkrituale.
Was die Installation dem Auge des Betrachters nicht erschliesst, soll dem erläuternden Text gelingen. Er verweist auf Bezüge zu Leo Tolstoi, Anton Tschechow, Conrad Gessner, Augusto Giacometti und Vladimir Nabokov, der den Aha-Effekt am schnellsten auslöst, war er doch auch als Schmetterlingsforscher eine Instanz.
Ansonsten bleiben die Assoziationen und Faszinationen Antufievs hermetisch und beflügeln die Folgerung, die künstlerisch interventionsfreie Kirche bewege den Geist eindringlich genug.
Kopflastige Erklärungen
Nach Angaben des Helmhauses soll der Spanier Santiago Sierra zusammen mit einer Sicherheitsfirma das Museum zur uneinnehmbaren Festung umgebaut haben. Dem Besucher ist dieser Eindruck völlig verschlossen. Das Eintreten verläuft mühelos. Strahlend hell sind die Räume. Die Vitrinen und Ständer präsentieren sich als leichte Skulpturen. Doch die Ästhetik kommt vor dem Fall. Die vom deutschen Manifesta-Kurator Christian Jankowsi betreute Ausstellung ist banal und langweilig.
Videos der Amerikanerin Leigh Ledare reportieren in Echtzeit die gruppentherapeutisch ergründete Befindlichkeit von Zürcherinnen und Zürchern. Was im unmittelbaren Erleben aufschlussreich gewesen sein mag, ermüdet beim Zuschauen.
Und die «Themenkammern» über «menschliche Arbeit» als Untersuchungsgegenstand künstlerischer Reflexion? – Nur mit kopflastigen Erklärungen zur Bedeutung aufgebauscht.
Bürokratischer Irrwitz
Weithin sichtbares Zeichen der Biennale ist ein ästhetisch bestechendes, über einen Holzsteg erreichbares zweistöckiges Holzfloss auf dem Zürichsee beim Bellevue. Entworfen und gebaut vom Studio Tom Emerson, ETH Zürich, nennt es sich «Pavillon of Reflections», was umgangssprachlich Beiz, Aussichtsplattform und begehbares, aber nicht benutzbares Schwimmbad heissen würde. Die Umkleidekabinen, Haartrockner und Leitern ins Wasser ergeben in Kombination mit dem Badeverbot einen bürokratischen Irrwitz.
Vollends die Peinlichkeit erreicht Maurizio Cattelan mit seinem Spektakel, die paralympische Sportlerin Edith Wolf-Hunkeler in einem Rollstuhl in den See gleiten zu lassen als «ikonografische Assoziation mit dem über das Wasser schreitenden Jesus». Dazu ist mindestens anzumerken, dass eine bewundernswürdige Athletin nicht von einem Schaubudenbetreiber, sondern von einem Künstler unfair instrumentalisiert wird.
Die Manifesta 11 dauert bis zum 18. September. Ob sie es bis dahin schafft, über die Kunst und unser Verhältnis zur Kunst jene leidenschaftlich kontrovers geführte und spannende Diskussion anzustossen wie der schlichte und vergleichsweise kostengünstige Hafenkran, ist eine optimistische Hoffnung.