Anfang November kam er dann doch, der Lockdown in Griechenland – und er wurde jüngst verlängert bis zum 7. Januar 2021. Ausserdem wurde ab 18. Dezember eine zehntägige Quarantänepflicht verhängt. Wie das im Detail für die Festtage aussieht, ist aber noch unklar. Die Situation ist konfus und insbesondere für getrennte Familien nicht einfach.
Die Kontrolle über die Pandemie verloren
Etwa als der Lockdown verhängt wurde, fiel uns auf, dass etwas nicht stimmen konnte. Die Fallzahlen waren nach wie vor moderat, im Vergleich zur Schweiz sehr moderat. Aber die Todeszahlen stiegen und stiegen und pendelten sich im Schnitt zwischen 80 und 90 Todesopfern pro Tag ein – nicht weit hinter der Schweiz. Und so ist das noch heute. Ich vermutete, dass entweder die Fallzahlen nicht stimmen oder das Gesundheitssystem bereits in die Knie gegangen ist und Patienten nicht adäquat behandeln kann. Es hat sich dann gezeigt, dass das erste der Fall ist. Während in den Spitälern das Pflege- und Ärztepersonal heldenhaft um das Leben der Coronaopfer kämpft, hat die Regierung die Kontrolle über die Pandemie verloren – und ich habe mich arg verschätzt. Während Griechenland noch bis vor kurzem den Status eines Musterschülers hatte, zirkulieren jetzt glaubwürdige Zeitungsberichte, wonach die laborbestätigten Corona-Fallzahlen auf zwei unterschiedlichen Plattformen registriert werden. Dadurch entstünde kein klares Bild und die Fallzahlen sind womöglich deutlich zu tief ausgewiesen.
Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass die Dunkelziffer extrem hoch ist. Wenn man die Anzahl Tests in Griechenland mit der Anzahl in der Schweiz vergleicht, kommt man aber eher zum Schluss, dass die Fallzahlen nicht richtig konsolidiert und zu tief ausgewiesen wurden. Das Problem besteht offenbar seit dem August, aber noch im September war es nicht sichtbar, da die Fallzahlen tatsächlich gering waren. Das hat wohl die Regierung dazu verleitet, Massnahmen zu spät zu ergreifen. Weihnachten und Neujahr werden in Griechenland wohl sein wie Ostern: Familien getrennt und die lauten und fröhlichen Neujahrsfeiern sind abgesagt. Ob Kirchen und Läden öffnen dürfen, ist noch unklar. Die Gastronomie bleibt zu. Ich habe grundsätzlich Verständnis für die Massnahmen. Aber sie wurden sehr kurzfristig getroffen und nicht klar und detailliert kommuniziert. In Bezug auf die Einreise aus dem Ausland ist immer noch nicht klar, was ab dem 18. Dezember genau gilt, ob man zum Beispiel, wenn man sich der Einreiseprozedur unterzieht, dann in sein Ferienhaus reisen darf oder nicht. Diese Information wäre aber eine Bringschuld der Regierung und zwar nicht erst am 18. Dezember.
Stärkste Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg
Das Land befindet sich gleichzeitig in der stärksten Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Wirtschaftsleistung (BIP) wird in diesem Jahr mehr als 10% geringer ausfallen als im Vorjahr. Das ist zwar ein schwächerer Einbruch als in Grossbritannien, aber deutlich schärfer als in der Schweiz. Und das nach der Schuldenkrise, wo zwischen 2008 und 2015 die Wirtschaftsleistung bereits etwa um einen Viertel eingebrochen war. Der zaghafte Aufschwung seit 2016 wurde durch die Pandemie also jäh abgewürgt. Immerhin hat Griechenland 32 Milliarden Euro aus dem europäischen Aufbaufonds zugute. Das macht den Einbruch zwar nicht ungeschehen, aber immerhin konzentriert sich der Plan nicht wie früher auf einzelne Prestigeprojekte, sondern auf viele kleine Programme, die die Wirtschaft besser und kompetitiver machen. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Geld nicht wie bei einigen früheren Programmen einfach aus dem Fenster geworfen wird. Der einzige Trost ist die Tatsache, dass Griechenland im Moment liquid und nicht akut durch einen Zahlungsausfall bedroht ist.
Die Eskalation der Coronavirus-Krise hat aber das Interesse an anderen Ereignissen und Entwicklungen überschattet, beängstigende Entwicklungen, die Griechenland direkt oder indirekt betreffen.
Die Türkei dehnt ihren Einfluss aus
Die Türkei hat durch ihre aktive Unterstützung Aserbeidschans im Angriffskrieg gegen Armenien um Bergkarabach im Kaukasus Fuss gefasst. Präsident Erdogan hat zusammen mit Russland jeglichen Einfluss Frankreichs, der Vereinigten Staaten – eigentlich des ganzen Westens – in nur 40 Tagen zunichte gemacht. Der Westen hat diese Entwicklung scheinbar gleichgültig hingenommen. Wir können zwar nicht wissen, wie sich die Situation entwickeln wird, noch wie lange Russland eine Präsenz der Türkei tolerieren wird, aber zumindest vorläufig geht Ankaras Politik der «fait accomplis» auf, die Politik der Gewaltausübung, der Infragestellung von Abkommen, des maximalen Drucks und der Konfrontation mit dem christlichen Westen.
Gemäss t-online.de haben sich bei diesem sechswöchigen Krieg zwar beide Seiten nichts geschenkt, aber gemäss heutigem Wissensstand existieren bei Weitem mehr Beweise für aserbaidschanische Kriegsverbrechen als von armenischer Seite. Es ist bemerkenswert, dass einige der Soldaten, die diese Misshandlungen begangen haben, keine Bedenken hatten, gefilmt zu werden. Die Aseris waren sich also ihrer Sache sicher. Sie rechneten fest mit der Gleichgültigkeit des Westens. Obwohl Armenien gegenwärtig versucht, mit einer Kampagne auf diese Kriegsverbrechen aufmerksam zu machen, interessiert sich hierzulande kaum jemand für diesen Konflikt. Offenbar in der irrigen Meinung, dass uns das nichts angeht, dass der Kaukasus weit weg ist und dass uns sowieso nichts passieren kann. 105 Jahre nach dem Völkermord an den Armeniern in der Türkei ist dieses leidgeprüfte Volk wiederum Opfer von Kriegsverbrechen, wiederum unterstützt von der Türkei und wiederum wird dies durch den Westen schulterzuckend hingenommen. Schliesslich fliesst aserisches Öl in unseren Benzintank – und das wollen wir nicht gefährden, oder? Die Einsicht, dass das Ganze Teil eines grossen geopolitischen Spiels ist, bei dem die Türkei nicht mehr ein Trumpf im Ärmel des Westens ist, sondern selbst die grösste Pokerwette eingeht, ist nicht bis zu uns durchgedrungen. Und an diesem Spiel sind wir, ob wir wollen oder nicht, selbst genauso beteiligt und unsere Teilnahmslosigkeit könnte zu einem bösen Erwachen führen. Warum?
Auch in Syrien hat die Türkei sich ausgedehnt und der Westen hat es versäumt, seine dortigen Verbündeten, die Kurden, adäquat zu unterstützen.
Narrenfreiheit
Es liegt auf der Hand, dass Ankaras nächster Schritt in diese Richtung darin bestehen wird, den Status des besetzten Nordens von Zypern aufzuwerten. Wer glaubt, dass eine Lösung des Zypernproblems noch in Reichweite ist, macht sich etwas vor. Erdogan hat durch massive Drohungen bei den jüngsten Präsidentenwahlen in der international nicht anerkannten «Türkischen Republik Nordzypern» (TRNC) seinem Kandidaten und Vasallen zum Sieg verholfen, während der auf Verständigung mit den Griechischzyprioten hinarbeitende Amtsinhaber nach Todesdrohungen im Wahlkampf abgewählt wurde. Nach der Öffnung der vor der Teilung der Insel griechischzypriotisch besiedelten Stadt Varosha dürfte Erdogan dafür sorgen, dass Vasallenstaaten wie Aserbeidschan oder der Türkei freundlich gesinnte Länder wie Pakistan oder Libyen die TRNC diplomatisch anerkennen.
Es ist völlig logisch, dass die Türkei den Eindruck hat, Narrenfreiheit zu geniessen, denn in den letzten 100 Jahren hat die internationale Gemeinschaft Völkermorde, Pogrome, Repressalien und Vertreibungen gleichgültig hingenommen und die Türkei war nie wie Deutschland 1945 gezwungen, sich mit der eigenen blutigen Geschichte kritisch auseinanderzusetzen und die entsprechenden Schlussfolgerungen zu ziehen.
Angesichts der Niederlage von Donald Trump bei den US-Präsidentschaftswahlen ist klar geworden, dass sein Nachfolger Joe Biden der Türkei keine unbegrenzte Narrenfreiheit mehr gewähren wird, wie das der bisherige US-Präsident getan hat. Ob das aber reicht, den Provokationen Erdogans ein Ende zu setzen, ist mehr als fraglich.
Ob Europa seinerseits angesichts der türkischen Bedrohung aufwacht, wird sich anlässlich der Tagung des Europäischen Rates vom 10./11. Dezember 2020 zeigen. Traktandiert sind unter anderem die Lage im östlichen Mittelmeer und die Beziehungen zur Türkei.
Vollendete Tatsachen
Dass die Türkei Ende November ihr Vermessungsschiff Oruc Reis wieder in den Hafen von Antalya zurückbeorderte, wird in Athen wohl zu Recht als Winkelzug Ankaras bewertet, um die Lage vor dem Europäischen Rat zu entspannen. Zuvor war das Schiff fast eineinhalb Monate im Raum zwischen den griechischen Inseln Rhodos und Kastellorizo aktiv, ein Gebiet, das zum griechischen Festlandsockel gehört.
Interessant wird in diesem Zusammenhang die Frage, ob Deutschland von seiner Politik der «Turkophilie» abrückt, die das Verhältnis zwischen Ankara und Berlin seit dem Ende des Erste Weltkriegs prägt – vornehmlich aus wirtschaftlichen Gründen. Der griechische Aussenminister Dendias übte in den letzten Tagen insbesondere Kritik an der deutschen Rüstungspolitik gegenüber der Türkei. In einem Interview sagte er, er könne nicht verstehen, dass Deutschland nicht die gewaltige Kraft seiner Wirtschaft einsetze, um klar zu machen, dass sich Staaten dem internationalen Recht unterordnen müssten. Dendias warf Deutschland ausserdem vor, dass das Land seiner Führungsrolle in der EU nicht gerecht werde, wenn es darum gehe, gegen die Türkei zum Beispiel ein Waffenembargo durchzusetzen. Hintergrund für diese unmissverständlichen Worte ist die Tatsache, dass derzeit in der Türkei sechs aus deutschen Werften stammende U-Boote zusammengebaut werden. Durch die Indienststellung dieser Schiffe könnte sich das Kräfteverhältnis im östlichen Mittelmeer zu Gunsten der Türkei verschieben. Stellt Deutschland die Rüstungszusammenarbeit ein, passiert das nicht.
Ankara hat in den letzten Monaten sein Vermessungsschiff Oruc Reis eingesetzt, um eine Reihe von vollendeten Tatsachen zu schaffen. Es handelte sich um eine Strategie des maximalen Drucks, der Infragestellung von Abkommen der Schaffung von «fait accomplis» und der Konfrontation. Ankara hat die Aktivitäten des Schiffes nie wirklich eingestellt, abgesehen von einigen kurzen Intervallen, die darauf abzielten, die europäischen Regierungen zu beruhigen.
Europa versteht nicht, was auf dem Spiel steht
Die Türkei behauptet hartnäckig, dass es in der Ägäis «graue Zonen» gibt. Diese Auffassung wird verbal, aber auch durch Überflüge türkischer Kampfflugzeuge sowie durch Aktionen der türkischen Marine und Küstenwache immer wieder zum Ausdruck gebracht. Ausserdem würde die Türkei eine Ausdehnung der griechischen Küstengewässer – wie es nach Völkerrecht möglich wäre – offiziell als «casus belli» betrachten. Es gibt (zumindest in Europa) kein anderes Beispiel dafür, dass ein Land so offen versucht, die etablierte nationale Souveränität eines anderen Landes in Frage zu stellen. Es gibt – das ist klar festzuhalten – keine grauen Zonen in der Ägäis. Die Grenze zwischen Griechenland und der Türkei ist durch die Verträge von Lausanne und Paris ganz klar festgelegt und kann nur durch gegenseitige Übereinkunft verändert werden. Die Amerikaner und die Europäer verstehen oft nicht, was hier auf dem Spiel steht. Sie sehen zwei Länder miteinander streiten und drängen sie dazu, sich zusammenzusetzen und ihre Differenzen zu klären. Sie sehen nicht, dass hier durch die Theorie der «grauen Zonen» oder durch den Druck der Türkei auf Griechenland, Truppen von einer Insel abzuziehen, die offensichtlich durch die Türkei bedroht ist, die Souveränität eines EU-Landes und Nato-Partners akut gefährdet ist.
Die EU und die USA sollten ihr ganzes Gewicht in die Waagschale werfen, damit klar kommuniziert wird, dass es zwar in Bezug auf die Ausschliessliche Wirtschaftszone (AWZ) und über die Frage des Festlandsockels Klärungsbedarf gibt, dass die anderen Fragen aber nicht verhandelbar und abschliessend geregelt sind, dass es keine «grauen Zonen» gibt und dass Kriegsdrohungen – warum auch immer – unter zivilisierten Ländern fehl am Platz sind. Sonst würde die Strategie Ankaras im Wesentlichen legitimiert und Präsident Erdogan würde so lange vollendete Tatsachen schaffen, bis diese akzeptiert und die Türkei als Grossmacht anerkannt wird. Und das hätte dann auch Auswirkungen auf Europa, das heute mutlos Griechenland sich selbst überlässt. Der ständige Druck, der die Türkei mit den Flüchtlingen als Pfand heute auf die EU ausübt, wäre dann nur ein Vorgeschmack gewesen für das, was noch kommen könnte, um nicht nur Griechenland gefügig zu machen. Die Tagung des Europäischen Rates vom 10./11. Dezember 2020 wäre eine gute Gelegenheit, einiges klarzustellen.