Wir kennen die Klage über das Artensterben, speziell das Vogelsterben, spätestens seit Rachel Carsons „Der stumme Frühling“ (1962). Und als eine der Hauptursachen wird die Vergrossstädterung unseres Planeten betrachtet. Wo das urbane Pflaster vordringt, hat die Natur das Nachsehen, flüchtet die Fauna, so lautet die verbreitete Meinung. Sie bedarf einer Revision. Der amerikanische Ornithologe und Urbanökologe John Marzluff begann Ende der 1990er Jahre einen genaueren und systematischeren Blick auf die Vogelpopulation in der Umgebung von Seattle zu werfen. Während eines Jahrzehnts beobachteten und zählten er und seine Studenten akribisch Vögel und erstellten Statistiken über deren Arten und Verteilungen. Das Resultat war überraschend: „Fast überall findet sich die grösste Vielfalt der Vögel nicht in Urwäldern, sondern in den gemischten Ansammlungen von Häusern und Kleingärten, auf verlassenem und leerem Land, auf Golfplätzen und anderen Freizeitanlagen, in Friedhöfen, an Bahnborden und Strassenrändern, in Businessparks und Shoppingzentren.“ Selbst die Vögel werden, so scheint’s, urban.
Die urbane Koevolution
Gewiss, auch das kennen wir, und zwar oft unter dem Rubrum „Vogelplage“. Regelmässig berichten die Medien von riesigen Vogelschwärmen in Städten, und gelegentlich wecken sie in uns Hitchcock’sche Urängste vor einer „Nemesis“ der Vögel. Was uns Bewohnern zivilisierter Gebiete eher als Belästigung oder gar Bedrohung erscheint, sehen freilich Urbanökologen als eine neue Form der Koevolution von Mensch und Tier. Die Arena der Artenbildung verschiebt sich von der unberührten Natur in die Städte. Die Urbanisierung des Planeten begann vor etwa 5000 Jahren. Heute lebt die Hälfte der Menschen auf verstädtertem Territorium. Und das interessiert auch die Vögel. Ihre Antwort auf die Urbanisierung lässt nicht auf sich warten. Ökologen klassifizieren die Arten in dieser Hinsicht grob nach ihren Strategien, mit geänderten Umweltbedingungen zu Schlage zu kommen. Es gibt die „Ausweicher“, die „Anpasser“ und die „Ausnutzer“. Bereits an dieser Kategorien bemerkt man, dass sie keine natürlichen, sondern natürlich-sozial gemischte sind; sie definieren die Vögel relativ zu den menschlichen Lebensformen.
Vögel als Innovatoren
Die adaptiven Strategien der Vögel verblüffen oft. Es scheint, als warte ihre Intelligenz nur darauf, den zivilisatorischen Reichtum und Überfluss für artspezifische Zwecke auszunutzen. Städte als grosse Abfallproduzentinnen kommen den geflügelten Bewohnern – den Anpassern und Ausnutzern – optimal entgegen. Tauben, Stockenten und Spatzen lauern permanent auf Brosamen und andere Essensreste. Unsere Neigung, Vögel zu füttern, kompensiert den Mangel an natürlicher Nahrung auf gepflästertem Areal. Mehr noch. Zivilisationsnutzende Vögel begnügen sich in der Regel nicht einfach mit Almosen. Sie entwickeln sich in der urbanen Symbiose mit dem Menschen auch zu besseren Ausnutzern. In den USA wurde beobachtet, wie eine bestimmte Amselart eine neue Strategie der Nahrungsbeschaffung entwickelte. Die kiebigen Vögel versammelten sich am frühen Morgen vor einem Einkaufszentrum. Kaum wurde es geöffnet, flitzten sie ins Ladeninnere und stibitzten, was in ihre Schnäbel kam.
Man sagt, der Mensch sei das Wesen, das seine natürlichen Mängel durch künstliche Innovationen behebe. Krähen tun das auch. Sie lieben Nüsse, aber ihre Schnäbel sind zu schwach, sie zu knacken. Was tun sie? In Tokyo beobachtete man Raben, die Nüsse auf einer Strasse platzierten, um sie von vorbeifahrenden Autos knacken zu lassen. Ein äusserst schlaues Umfunktionieren des Autos zum Nussknacker. „Hacken“ nennt man das Umgestalten eines Gerätes zu nicht vorgesehenen Zwecken. Raben sind vorbildliche Hacker. Andere Vertreter dieser Art stehlen in Ermangelung von Zweigen, Stengeln, Stielen Draht-Kleiderbügel, die sie dann mit ihren Schnäbeln geschickt zu Nestern umbiegen.
„Wirkliche“ Natur im Technozän
Die Koevolution ist nicht beschränkt auf die Vögel. Es leben – so sagen uns die Stadtökologen – unglaublich viele Arten in urbanen und suburbanen Umwelten. Diese Umwelten werden wahrscheinlich häufiger die künftigen Austragungsorte der Selektionskämpfe, der Darwinschen „Manufaktur der Arten“ sein. Der Ökologe Seth Magle, Leiter des grossangelegten Urban Biodiversity Monitoring Project in Chicago, erzählt, sein Dissertationsvorhaben, Tiere in der urbanen Wildnis zu studieren, sei zunächst mit der Frage gekontert worden: „Warum sollten wir unsere Zeit damit verschwenden, unnütze Tiere (‚weedy animals’) in Städten zu studieren, wo wir doch Zeit und Geld besser aufwenden, wenn wir in der wirklichen Natur arbeiten?“
Und genau im Begriff der „wirklichen“ Natur stossen wir auf den Problemkern. „Wirkliche“ Natur gibt es immer weniger, dafür immer mehr das Hybrid Mensch-Technik-Natur. Wir leben im Technozän, in einem Erdzeitalter, das nicht nur die Lebensformen der Tiere, sondern auch des Menschen stets tiefer durch Technik prägt. Um die Mitte des 21. Jahrhunderts dürften 10 Milliarden Menschen die Erde bevölkern, und viele dieser Menschen werden – nicht zuletzt dank Technik – Lebensformen erwarten und verlangen, die heute noch relativ wenigen vorbehalten sind. Nur muss das reziproke Verhältnis nicht notwendig gelten: Je grösser die Ausdehnung der menschlichen Population, desto kleiner die Population der anderen Tiere.
Das Paradox der „wilden“ Natur
Mit der „wirklichen“ Natur steht eine weitverbreitete und heute auch kommerziell ausgeschlachtete Wildnisideologie zur Debatte, die nichts anderes ist als die Rückseite eines dualistischen Naturverständnisses: hier der Mensch, dort die andern Tiere; hier Kultur, dort Natur. Befürworter der biologischen Diversität betonen oft die Wichtigkeit „unberührter“ Ökosysteme als reichhaltigsten Aufbewahrungsort all jener Arten, die wir erhalten wollen. Biodiversität ist ja sozusagen der verwissenschaftliche Wildnisbegriff. Aber immer noch haftet daran eine Wertigkeit, die man mit „reiner“ Natur verbindet. Das führt zu einem Paradox: Je mehr man die Biodiversität sich selbst überlassen will, desto mehr bedarf sie der Schutzanstrengung vonseiten des Menschen. Das schlagendste Beispiel sind die gefährdeten Arten. Ihr Überleben als wilde Lebewesen hängt entscheidend ab von einem überlegten Management ihres Habitats, für das unter Umständen ausdrücklich Gesetzesvorschriften gemacht werden müssen. Man halte sich vor Augen: Wir erlassen Gesetze, damit die Natur in Enklaven der Wildnis so sein kann, wie sie ist (was im Grunde bedeutet: wie sie in unseren Augen sein soll). Natur von Menschen Gnaden. Es hat etwas hochgradig Absurdes: Definiert man Natur als das, was dem menschlichen Einfluss entzogen ist, dann gibt es praktisch keine Natur mehr. Und genau das, was es praktisch nicht mehr gibt, schützt man noch.
Ein fundamentaler ökologischer Blickwechsel
Ein fundamentaler ökologischer Blickwechsel drängt sich auf. Die Zeitschrift „Nature“ aus dem Jahre 2010 brachte ihn auf den Punkt, als sie titelte „Ökologen gehen dem urbanen Dschungel aus dem Weg“. Ein Team um die Ökologin Laura Martin prüfte in einer Metastudie zehn führende Fachzeitschriften darauf, wie oft hybride Mensch-Natur-Systeme (sogenannte „Anthrome“) zwischen 2005 und 2010 studiert worden waren. Resultat: Nur gerade einer von sechs Artikeln befasste sich mit Nutzzonen. Dies in einem Zeitalter, in dem 75 Prozent der eisfreien Erdoberfläche von Menschen genutzt wird, und zudem die restlichen 25 Prozent sich keinesfalls durch pure Ursprünglichkeit auszeichnen. „Im Augenblick sind unsere Hinterhöfe Black Boxes“, schreibt Laura Martin: „Es gibt Vorstädte, Dörfer und Agrargebiete, welche im Bild dessen, was dort ökologisch abläuft, völlig weggelassen werden.“
Um hier kein Missverständnis aufkommen zu lassen. Ich argumentiere nicht gegen Artenvielfalt; vielmehr dafür, unsere Sensibilität und Aufmerksamkeit für diese Vielfalt bereits in unmittelbarer Nähe zu üben und zu pflegen. Schaut auf die Hinterhöfe, Brachen, Abräume, in die Mauerritzen, Drainagekanäle, Hecken am Strassenrand! Ökologie beginnt hier. Oder genauer: Ökologie beginnt im Kopf, beim fundamentalen Blickwechsel, der uns offenbart: Alle Vögel – und nicht nur sie – sind schon da.