Das monumentale Werk, in deutscher Übersetzung „Unter der grossen Sonne, von Liebe beladen“, gilt als die einzige Revolutionsoper des 20. Jahrhunderts. Es beschreibt die verheerenden Bedingungen, die sozialen Auswirkungen und den Kampf der westlichen Arbeiterschaft, welche zu Revolutionen und Kommunismus führten. Der historische Bogen erstreckt sich also über rund 100 bewegte Jahre hinweg, von der Pariser Kommune 1871 über die russischen Revolutionen von 1905 und 1917, den Streik der Turiner Fiat-Arbeiter 1943 bis zu den kubanischen Revolutionen der 50er und 60er Jahre und „Che“ Guevaras Guerillakrieg in Bolivien, bis hin zum Militärputsch in Chile von 1973 und zum Vietnamkrieg. Gescheiterte Hoffnungen und Gewalt, wohin man blickt.
Die musikalische Spannweite des Bellini- und Schönberg-Verehrers Luigi Nono (1924–1990) hingegen eröffnet einen berückenden Kosmos von Klängen, der bis in die heutige Zeit und darüber hinaus weist. Denn der bekennende Kommunist Nono war auch ein leidenschaftlicher Bewunderer der menschlichen Stimme, der er erstaunliche Facetten abzuringen wusste. Womit wir mitten im Thema Oper sind. Nonos Gesangslinien sind trotz aller aktuellen Bezüge oft von hinreissender Schönheit.
Musik für den Mond
Neben den Solisten, einem grossen Chor und einem eher herkömmlichen Orchester mit grosser Schlagwerk-Palette spielt auch zugeschaltetes Tonband- und Elektronik-Material eine grosse Rolle. Diese Zuspielungen werden in Basel wirkungsvoll bis in den Zuschauerraum transportiert, sodass eine alles einhüllende Klangwolke entstehen soll. Das Ergebnis ist durchaus eindrucksvoll und die Gehörnerven werden an den Furioso-Stellen wirkungsvoll strapaziert. Doch ein traditioneller Theaterraum mit Frontalaufsicht auf die Bühne ist hiefür – aus heutiger Sicht betrachtet – eigentlich wenig geeignet. Obwohl das Werk, von Nono als „Szenische Aktion“ betitelt, für einen Theaterraum (Teatro Lyrico in Mailand) konzipiert wurde, könnte man sich eine Aufführung in einem Stadion oder in ähnlichen Räumen besser vorstellen, in Räumen, in denen es keine gepolsterten Sessel gibt, in denen man stehen oder auf dem Boden sitzen müsste.
Eingerahmt vom gepflegten (aber durchaus sachkundigen) Basler Publikum in dessen teurer Premierenaufmachung fühlt man sich jedoch leicht deplatziert. Da drängen sich zu viel Grossartigkeit, zu viel hinreissende Klänge, zu viel Empörung und Schrecken auf zu beschränktem Raum. Das bürgerliche Theater verschluckt die grosse Geste. Denn mit dieser Oper könnte man den Mond beschallen ...
Doch endlich zur Aufführung.
Keine Handlung, viel Inhalt
Eine eigentliche Handlung des über zweistündigen Werkes gibt es nicht. Dafür aber viel Inhalt. Und der ist, man höre und staune, den in der geschichtlichen Rezeption so wenig beachteten Frauen gewidmet, den Gefährtinnen und Müttern der Revolutionäre. Nono wollte damit „die Kontinuität der weiblichen Präsenz im Leben, im Kampf und in der Liebe“ verdeutlichen. Liebe ist denn auch Teil des Titels, der einem Gedicht von Arthur Rimbaud entliehen ist.
Nono erarbeitete die Textvorlage zusammen mit dem russischen Regisseur Juri Ljubimow. Um mit ihm arbeiten zu dürfen, musste Nono sogar seine Beziehungen zum damaligen Generalsekretär der italienischen kommunistischen Partei, Enrico Berlinguer, spielen lassen. Einbezogen wurden Texte von Schriftstellern, politischen Kämpfern und Kämpferinnen und anonymen Zeitzeugen sowie zeitgenössische Kommunarden-Beschlüsse und Arbeiterlieder. Texte und Szenerien wurden in einer Art Quilttechnik zusammengesetzt. Damit unterstrich Nono sein „Nachdenken über den sozialen Raum“.
Den ersten Teil bestreiten vor allem die Frauen: Louise Michel, Anarchistin und Barrikadenkämpferin der Pariser Kommune sowie Tamara „Tania“ Bunke, Aktivistin an der Seite „Che“ Guevaras; dann noch die Gefährtin eines Arbeiters sowie eine anonyme Mutterfigur, pars pro toto für alle Mütter, welche sich vor die Entscheidung gestellt sehen, mit ihren Söhnen und Töchtern mitzukämpfen oder sich zu verweigern – eine Figur aus Maxim Gorkis gleichnamigem Roman von 1905, die auch schon Bertold Brecht zur Vorlage für sein Drama gedient hatte.
Unterdrückungsmechanismen
Der zweite Teil beschäftigt sich vor allem mit den Mechanismen von Unterdrückung – ein Thema, das bis zum heutigen Tage nur allzu aktuell geblieben ist. Nonos Gespür für die Erzeugung einer Krise findet ihre überzeugende szenische Entsprechung durch den Ostberliner Regisseur Sebastian Baumgarten, der zusammen mit der deutschen Bühnenbildnerin Janina Audick ein in aller Stille beängstigendes Bild erfand: Eine Art unregelmässiger Brocken von dunklem Plafond senkt sich langsam auf das menschliche Gewimmel auf der Szenerie herab, bleibt kurz stehen, sehr kurz nur leuchtet die Inschrift „SIEG“ auf, aber die Decke senkt sich immer weiter, bis er die Menschen fast erdrückt, die sich verzweifelt dagegen stemmen. Doch dann, im letzten Augenblick, hebt sich das mörderische Monstrum wieder und Hoffnung kommt auf. Aber nach einem langen Augenblick bleibt es wieder stehen, schräg hängend, ungesichert, eine Momentaufnahme unserer heutigen Zeit und ein starkes Bild für Unterdrückungsmechanismen, welcher Art auch immer.
Hervorragende Interpretinnen und Interpreten
Das Werk verlangt vor allem in den Frauenpartien Tonsicherheit und zum Teil geradezu unmenschlich hohe Stimmlagen. Der eigentliche Star des Werks, auch in dieser mutigen und gefeierten Schweizer Erstaufführung, ist jedoch der grosse Opernchor. Dieser ganze, durchwegs hervorragend funktionierende Basler Stimmenapparat samt dem Sinfonieorchester Basel wurde überlegen zusammengehalten vom amerikanisch-deutschen Dirigenten Jonathan Stockhammer. Dieser sprach in einem der diversen Einführungsgespräche im Vorfeld von „Rufen aus der Seele“. Besser kann das nicht gesagt werden.
Die Oper endet jedoch weder in siegessicherem Ausblick mit Aplomb und grossem Finale; auch nicht in Trauergesängen. Die Musik versickert quasi, wird immer leiser, bis sie wie ein Licht erlischt.
Nächste Vorstellungen: 20., 22., 28., 30.09.2019
Fotos: ©Birgit Hupfeld