Ob es hauptsächlich unter dem Druck von Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) geschah oder eher die Geldgier der damaligen Regierungen die Antriebsfeder war, lässt sich im Nachhinein schwer beurteilen. Tatsache ist, dass in den neunziger Jahren viele lateinamerikanische Länder am laufenden Band Staatsbetriebe verscherbelten. Argentiniens damaliger Präsident Carlos Menem etwa privatisierte die Strom-, Gas- und Wasserversorgung, den Erdölförderer YPF, die Fluggesellschaft Aerolíneas Argentinas und das Telefonnetz.
Norwegen als Vorbild?
Auch Venezuela, Bolivien und Ecuador folgten dem neoliberalen Credo des IWF und der USA und verkauften, was sich verkaufen liess. Die grosse Mehrheit der Bevölkerung gewann damit wenig. Die Leistungen wurden teilweise schlechter, während die Tarife stiegen.
Jetzt sind in diesen Ländern linksgerichtete Regierungen an der Macht. Und die zeigen sich fest entschlossen, die Fehler von gestern rückgängig zu machen. Ein revolutionärer Schritt sind die von Hugo Chávez in Venezuela, dem Ehepaar Néstor Kirchner und Cristina Fernández de Kirchner in Argentinien und Evo Morales in Bolivien bereits durchgeführten oder ins Auge gefassten Rückverstaatlichungen nicht. In unzähligen Ländern kontrolliert der Staat die fossilen Ressourcen. Und am Beispiel von Norwegen lässt sich aufzeigen, dass die Ausbeutung der Ölfelder durchaus zum Wohl der Bevölkerung geschehen kann.
Morales: Immer am 1. Mai
Jeden 1. Mai eine Verstaatlichung. Genau darum gehe es ihnen, versichern Morales und Fernández de Kirchner unisono. Morales hat am 1. Mai den Stromversorger TDE, eine Tochter des spanischen Stromkonzerns Red Electrica, enteignet und damit seine 2006 begonnene Tradition fortgesetzt, immer am Tag der Arbeit ein Unternehmen zu verstaatlichen. Drei Tage später stellte sich in Buenos Aires nach dem Senat auch die Abgeordnetenkammer mit deutlicher Mehrheit hinter Fernández de Kirchner und ebnete ihr endgültig den Weg, dem spanischen Energiegiganten Repsol die Tochter YPF, den grössten Erdölförderer in Argentinien, wegzunehmen und unter Regierungskontrolle zu bringen.
Branchenexperten zufolge handelt es sich um die grösste Verstaatlichung im Energiesektor, seit Russland vor einem Jahrzehnt den Ölkonzern Yukos an sich riss. Beide Staatsoberhäupter rechtfertigten die Enteignung damit, dass die ausländischen Eigentümer zu wenig im Land investiert und die Gewinne aus dem Energiegeschäft für sich behalten hätten. Deshalb, sagte Fernández de Kirchner, sei es höchste Zeit, dass YPF wieder ein "öffentliches Versorgungsunternehmen" werde. Und ihr Wirtschaftsminister Hernan Lorenzino doppelte nach, dass nur durch die staatliche Kontrolle über YPF die nationale Energieversorgung und das wirtschaftliche Wachstum Argentiniens gesichert werden könnten.
Morales braucht die Ausländer
Die Enteignung des Stromversorgers TDE in Bolivien löste auf internationaler Ebene keine heftigen Reaktionen aus. Selbst die spanische Regierung nahm die Ankündigung von Präsident Morales relativ gelassen auf. Wohl auch deshalb, weil das Unternehmen nur etwa drei Prozent zum Gewinn des Mutterhauses Red Electrica beisteuerte. Darüber hinaus hat Bolivien versprochen, für TDE einen "gerechten Preis" zu zahlen.
Diese Zusicherung legt den Schluss nahe, dass es der Linksnationalist ungeachtet aller Vorbehalte und Animositäten mit den ausländischen Kapitalisten nicht vollständig verderben will. Mit gutem Grund: Lateinamerikas ärmstes Land ist nach wie vor auf Geld und Fachwissen von aussen angewiesen, um seine reichhaltigen Bodenschätze auszubeuten. Der Zufall oder eine geschickte Regie wollte es, dass ebenfalls am 1. Mai im Süden Boliviens auf einem Gasfeld namens "Margarita" erstmals Gas gefördert wurde. Den Hauptanteil an "Margarita" halten die spanische Repsol und die britische BGE.
Konfrontation statt Kompromiss
Alles andere als harmonisch verläuft die YPF-Verstaatlichung. Ausländische Regierungen und Investoren kritisierten Argentinien hart, vor allem wegen der Art und Weise, wie Südamerikas zweitgrösstes Land die Enteignung vollzog. Die Regierung in Buenos Aires war nicht bereit, sich an internationale Verträge zu halten und die Abkommen neu auszuhandeln. Sie stellte die alte YPF-Führung Knall auf Fall auf die Strasse und peitschte im Eiltempo eine Gesetzesvorlage durch, die den Energiekonzern Repsol vor vollendete Tatsachen stellte.
Spanien drohte Argentinien mit Sanktionen. Staatschefin Fernández de Kirchner zeigte sich davon genauso wenig beeindruckt wie von der Entschädigungsforderung der bisherigen YPF-Eigentümer. Repsol beziffert den Wert des Erdölförderers, der rund einen Viertel zum Konzerngewinn beisteuerte, auf 18 Milliarden US-Dollar und besteht angeblich auf eine Entschädigung von 10,5 Milliarden. Vertraute der Präsidentin haben jedoch bereits unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass Argentinien selbst eine wesentlich tiefere Forderung nie und nimmer akzeptieren werde. Damit steht fest, dass die Justiz das letzte Wort in diesem Streit haben wird.
Viel Beifall zuhause
Argentiniens Präsidentin konnte Proteste aus dem Ausland um so leichter wegstecken, als die YPF-Enteignung zuhause auf grosse Zustimmung stiess. In Meinungsumfragen begrüssten rund zwei Drittel ihrer Landsleute die Rückverstaatlichung. Im Parlament stellten sich auch viele Oppositionspolitiker in seltener Eintracht hinter Fernández de Kirchner und jubilierten mit ihr über Argentiniens Schritt zurück in die "Unabhängigkeit bei der Energie", die in den neunziger Jahren auch das Ehepaar Kirchner leichten Herzens preisgegeben hatte.
Ist das Land künftig tatsächlich vor Versorgungsengpässen gefeit? Zwei Jahrzehnte lang war in Argentinien Energie billig und im Überfluss vorhanden. Um die Jahrtausendwende hat jedoch ein neuer Zyklus begonnen mit teurer, knapper und importierter Energie. Im vergangenen Jahr überstieg die Einfuhr die Ausfuhr um mehr als 3 Milliarden Dollar, im laufenden Jahr dürfte sich das Defizit verdoppeln.
Vom Überfluss zum Exportdefizit
Diese Entwicklung lässt sich nicht allein damit erklären, dass die meisten in Argentinien aktiven Unternehmen die Investitionen in die Exploration stark zurückgefahren haben. Sie ist auch das Ergebnis davon, dass die Regierungen Kirchner bislang keine nationale Energiestrategie entwickelt haben. Mit der Verstaatlichung der YPF-Anteile allein wird Argentinien seine Energieautarkie nicht zurückgewinnen.
Der frühere argentinische Energieminister Alieto Guadagni weist in einem Beitrag in der Financial Times Deutschland darauf hin, dass das Land über die nach China und den USA weltweit drittgrössten Reserven an unkonventionellem Erdgas verfügt. "Aber", fügt er hinzu, "ebenso wie bei den konventionellen Reserven gilt auch hier: Diese Reserven produzieren sich nicht von selbst."
Ohne ausländisches Kapital wird YPF nicht in der Lage sein, im grösseren Stil neue Lagerstätten auszubeuten. Das Unternehmen steht damit vor der grossen Herausforderung, Geld für die Exploration und Entwicklung der Reserven anzulocken. Ausländische Investoren werden sich freilich nach der Enteignung von Repsol nicht so leicht davon überzeugen lassen, dass ihr Kapital in solchen Projekten gut angelegt ist.
Abschreckendes Beispiel: Aerolíneas Argentinas
Ob in Argentinien künftig tatsächlich wesentlich mehr Erdöl produziert wird, hängt auch davon ab, wer das wieder unter die Fuchtel des Staates gestellte Unternehmen leiten wird und wie stark die Regierung sich in die Geschäftsführung einmischt. Das Klientelwesen ist ein fester Bestandteil des politischen Systems in Argentinien, und Kritiker warnen nicht grundlos, dass unter der Vetternwirtschaft der Regierung YPF noch schlechter arbeiten könnte als bisher.
Ein Musterbeispiel dafür, dass die politische Gesinnung oft mehr zählt als Fachwissen und Erfahrung, ist die ebenfalls rückverstaatlichte Aerolíneas Argentinas. Dort übernahmen Vertraute der Präsidentin ohne spezielle Branchenkenntnisse die Spitzenpositionen. Mit dem Ergebnis, dass die Gesellschaft dem Staat Verluste von rund 2 Millionen Dollar einfliegt - pro Tag.
Hoffnung auf neue Einkünfte
Dabei bräuchte Cristina Fernández Kirchner dringende neue Einnahmequellen, um ihre Sozialprogramme weiterhin finanzieren zu können. Die von ihrem Ehemann und Vorgänger Néstor Kirchner aufgelegten und von ihr teilweise erweiterten Projekte haben nach der schweren Krise 2001/2002 mitgeholfen, die Armut zu vermindern. Über ihre Nachhaltigkeit kann man allerdings diskutieren. Mit Sicherheit haben sie wesentlich dazu beigetragen, dass Fernández de Kirchner im vergangenen Jahr mit einem Glanzergebnis wiedergewählt wurde. Da die Wirtschaft inzwischen weniger stark wächst als in den letzten Jahren, gestaltet sich die Finanzierung der Sozialprogramme aber zusehends schwieriger.
Werden dank der YPF-Enteignung schon bald zusätzliche Einkünfte zum Wohle des Volkes in die Staatskasse fliessen? Die Mehrheit der Argentinier scheint daran zu glauben. Oder zumindest darauf zu hoffen, dass sie künftig von Stromausfällen und anderen Engpässen in der Energieversorgung verschont bleibt. Erfüllen sich diese Erwartungen nicht, werden der Stolz und die Freude über die gelungene Rückeroberung des Erdölförderers von den Spaniern rasch abklingen.