Seit jeher unterhalten die Schweiz und Tunesien privilegierte Beziehungen. Spricht man mit Parlamentariern, so erfährt man, dass die Schweiz ein sehr hohes Ansehen in Tunesien hat. Das liegt auch daran, dass unser Land Tunesien nach dem Sturz Ben Alis im Januar 2011 sofort unterstützte. „Die Schweiz ist unser wichtigster Freund“, sagt uns Abderraouf El May (im Bild). Er ist Spitzenpolitiker der grössten tunesischen Partei, der säkularen Nidaa Tounes-Bewegung („Ruf Tunesiens“).
Und Freunde braucht jetzt das Land. Die Terroranschläge im März und Juni, die insgesamt 52 Tote forderten, haben Tunesien in einen Schockzustand versetzt. Die Touristenzahlen gingen um bis zu 80 Prozent zurück, was für die gesamte Wirtschaft katastrophale Folgen hat. (Siehe Artikel: „Leere Hotels, leere Strände, leere Museen“.)
"In unserem eigenen vitalen Interesse"
Die Attentate und die Folgen haben in Tunesien eine bedrückende Stimmung ausgelöst. „Wir gelten jetzt als Terrorland und werden alleingelassen“, sagt uns ein Gewürzhändler im Souk von Hammamet. Damit das nicht so ist, hat jetzt eine aus Tunesien-Schweizern bestehende Wirtschaftsdelegation den Tunesiern ihre Solidarität bekundet. Die Aktion stand unter dem Motto „Die Schweizer grüssen das freie Tunesien“. Die Schweizer Botschaft hat die Aktion unterstützt.
Nach der Flucht Ben Alis, der das Land 24 Jahre lang diktatorisch regierte, gehörte die Schweiz zu den ersten, die sich für den Aufbau der Demokratie in Tunesien engagierten. Seither haben sich die Beziehungen intensiviert. „Man darf diese Menschen jetzt nicht allein lassen, wir müssen sie unterstützen. Es ist angesichts des regionalen Kontextes auch in unserem eigenen vitalen Interesse, dass die Entwicklung Richtung Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Tunesien langfristig gelingt “, sagt uns Rita Adam, die Schweizer Botschafterin in Tunesien. Die Botschafterin bringt ihren grossen Respekt dafür zum Ausdruck, dass es Tunesien gelungen sei, den demokratischen Weg zu finden, auch wenn dieser vorerst fragil bleibe.
Prioritätsland Tunesien
Wichtig sei, dass die Regierung nach der demokratischen nun die wirtschaftliche Transition entschlossen vorantreibe und tiefgreifende Reformen einleite, um eine nachhaltigere und inklusivere wirtschaftliche Entwicklung des Landes zu ermöglichen, sagt Adam. Die schwierige wirtschaftliche Lage bleibe eine der grössten Herausforderungen. Erschwerend komme neben der Touristenflaute auch die schleppende Konjunktur in Europa dazu.
Die Schweiz gehört zu den wichtigsten ausländischen Partnern in Tunesien. Im Rahmen eines bilateralen Kooperationsprogramms werden Projekte des EDA, des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) und des Staatssekretariats für Migration umgesetzt. Das Seco hat nach der Revolution das Land als Prioritätsland eingestuft. Schweizer Unternehmen sind unter anderem im tunesischen Textil-, Bekleidungs- und Nahrungsmittelsektor tätig. Kurz nach dem Umsturz wurde eine tunesisch-schweizerische Handelskammer gegründet. Die Schweizer Botschaft unterhält eine Delegation von rund 50 Personen in Tunesien, unter ihnen zehn versetzbare Schweizer Mitarbeitende. Als einziges Land ist die Schweiz in Kasserine mit einem Büro vor Ort präsent.
10'000 neue Arbeitsplätze
Generell ist das Schweizer Kooperationsprogramm in den wirtschaftlich benachteiligten Regionen im Landesinneren stark engagiert. „Damit geben wir jungen Menschen eine Perspektive und leisten indirekt auch einen wichtigen Beitrag in der Bekämpfung der möglichen Ursachen für den Terrorismus“, sagt die Botschafterin. So würden jetzt unter anderem Projekte zur verbesserten Trinkwasserversorgung in dörflichen Gegenden umgesetzt und Kläranlagen in Kleinstädten im Gouvernorat Kasserine, im Westen des Landes an der Grenze zu Algerien gebaut. Das jährliche finanzielle Engagement der Schweiz in Tunesien beläuft sich insgesamt auf rund 20 Millionen Franken. „Wir wollen nicht nur neue Infrastrukturen aufstellen, sondern auch solche, die nachhaltig sind.“
Die meisten Gelder, etwa 70 Prozent, werden für die wirtschaftliche Entwicklung und die Schaffung von Arbeitsplätzen investiert. So hilft man Fischern in Djerba Netze zu kaufen, die sie sich bisher nicht leisten konnten. Kleine Projekte können grosse Wirkung erzielen. In andern verarmten Gegenden, wie in Kasserine, Le Kef oder Médenine, werden Mikrokredite zur Gründung von Geschäften vergeben. So sollen bis Ende dieses Jahres 10'000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden. „Die Zahlen sind vielversprechend“, sagt Adam.
Null-Risiko bei Reisen gibt es nicht
Das gute Image der Schweiz liegt auch an der neuen Botschafterin, die seit einem Jahr im Amt ist. „Sie sitzt nicht im Elfenbeinturm wie andere Botschafter“, sagt Abderraouf El May. „Sie bereist das Land, lernt die Leute kennen, macht sich ein eigenes, differenziertes Bild von uns“. Tatsächlich: Die Botschafterin erzählt von ihren Reisen nach Süd und Nord, nach Ost und West. „Wichtig ist, dass man das Land kennt, nur so erhält man ein differenziertes Bild“.
„In Europa glaubt man oft, es herrsche eine absolute Katastrophe hier“, sagt Rita Adam. „So ist es ja nicht“. Die Schweiz hat nach den Attentaten die Reisenden zwar zur verstärkter Vorsicht und Wachsamkeit aufgerufen, aber nie eine eigentliche Reisewarnung herausgegeben und vor einem Besuch Tunesiens abgeraten – dies im Gegensatz zu andern Ländern. „Den Entscheid zu reisen, muss jeder für sich selber treffen. Ein Null-Risiko beim Reisen gibt es generell nicht“, sagt Adam.
Verstärkte Sicherheitsmassnahmen
In die gleiche Kerbe schlägt ein Taxifahrer, der an der Sorbonne studiert hat. „Ohne den Terrorismus zu verharmlosen: Die Gefahr, dass sie beim Überqueren der Strasse in Paris getötet werden, ist grösser als dass sie in Tunesien einem Terroranschlag zum Opfer fallen“.
Dass sich diese Erkenntnis durchsetzt – das hofft auch Tahar Khadraoui. Er besitzt in Genf das tunesische Reisebüro Air Marin und stellt wieder einen leichten Anstieg der Schweizer Tunesien-Besucher fest. Er weist darauf hin, dass das Land nach den Anschlägen die Sicherheitsmassnahmen radikal verstärkt und professionalisiert hätte. Die tunesische Tourismusministerin erklärte, man arbeite jetzt eng mit Sicherheitsexperten der EU und der USA zusammen.
Samuel Schmid, der Freiheitsheld
Im Jahr 2005 erreichten die Beziehungen zwischen der Schweiz und Tunesien einen Tiefpunkt. Damals, im November, besuchte Bundesrat Samuel Schmid das Land. Als er in einer vom Fernsehen übertragenen Rede Ben Ali offen kritisierte und die Menschenrechtsvergehen anprangerte, unterbrach das Fernsehen abrupt die Übertragung. Er war der erste ausländische Staatsgast, der den Mut zur offenen Sprache hatte. Seither wird Samuel Schmid in Tunesien als Freiheitsheld verehrt. Auch er trägt zum guten Image der Schweiz bei. „Ah, sie kommen aus der Schweiz“, sagt uns ein Kellner im Restaurant Le Golfe in Tunis, „dem Land von Samuel Schmid“.
Taoufik Ouanes ist tunesischer Anwalt in Genf und in Tunis. Bei einem Gedankenaustausch mit der tunesischen Tourismusministerin erinnerte er an die langen, traditionell guten Beziehungen zwischen der Schweiz und Tunesien. So habe die Schweiz die erste Touristenschule in Tunesien aufgebaut. Und Habib Bourguiba, der erste Präsident des unabhängigen Tunesien, habe all seine Ferien in seiner über alles geliebten Schweiz verbracht. Ouanes lobte, dass die Schweiz immer auf die Einhaltung der Menschenrechte in Tunesien gepocht habe. Auch er lobte „den mutigen Auftritt von Samuel Schmid, der im Land mehr bewirkt hat, als viele Schweizer glauben“.
Blockierte Ben Ali-Gelder
Auch wenn die Beziehungen beider Länder gut sind: Etwas verstehen die Tunesier nicht. Warum gibt die Schweiz die 2011 blockierten Ben Ali-Gelder nicht endlich frei? Über die Summe gibt es unterschiedliche Angaben, einige sprechen von einer halben Milliarde Franken. In der Schweiz findet jetzt das übliche juristische und politische Seilziehen um die Freigabe statt. „Diese Gelder hat uns der Ben Ali-Clan gestohlen“, sagen die Tunesier, „diese Gelder gehören unserem Land“.
Mit Interesse verfolgen Tunesier die jüngsten Debatten im National- und jetzt im Ständerat über die „Lex Mubarak“, die auch Ben Ali betrifft. Mit Freude konstatiert man, dass der Bundesrat und alle Ständeräte die blockierten Gelder von gestürzten Diktatoren in ihre Länder zurückgeben wollen. Irritiert ist man, dass der Nationalrat ein entsprechendes Gesetz eher verwässern möchte. Es könne doch nicht sein, heisst es in Tunis, dass die Schweiz Tunesien Entwicklungshilfe leiste, aber die Gelder des nach Saudi-Arabien geflüchteten Ben Ali und seinem ganzen Hof zurückbehalte.
"Akt der Solidarität"
Man müsste ja das Geld nicht der Regierung zurückgeben, sinniert ein Parlamentarier. Die Schweiz könnte mit der halben Milliarde 50 Schulen in verarmten Gebieten bauen und zwanzig Jahre lang die Lehrer bezahlen und die Schulen unterhalten. „Das wäre nachhaltige Entwicklungshilfe“, sagt er.
Zwar sind sich alle bewusst, dass mit einer halben Milliarde der Staat nicht gerettet werden kann. Aber, so Taoufik Ouanes, „es wäre ein wertvoller Akt der Solidarität, wenn die Schweiz uns nicht nur wirtschaftlich unterstützte, sondern auch die Ben Ali-Gelder zurückgäbe“.