Der türkische Präsident Erdoğan inszeniert sich als Vermittler zwischen Russland und der Ukraine. Im Westen wird er gleichzeitig für «Schaukelpolitik» und «Quertreiberei» kritisiert. Wie berechenbar ist die türkische Aussenpolitik?
«Der türkische Präsident hat in der Aussenpolitik einen Lauf», urteilte das deutsche Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» kürzlich über den «Kriegsgewinner Erdoğan». Auch türkische Regierungskreise bedienen gerne das Bild von der Türkei als einer ambitionierten und einflussreichen Regionalmacht, wenn sie eine «360-Grad-Aussenpolitik» preisen, bei der die Türkei in allen Himmelsrichtungen aktiv sei.
In westlichen Medien wird diese Strategie kritisch gesehen. Von «Schaukelpolitik» zwischen dem Westen und Russland (plus Iran) ist die Rede oder von «Quertreiberei», etwa in Bezug auf die türkische Blockade des Nato-Beitritts von Finnland und Schweden. In der Kritik stehen darüber hinaus die türkische Interventionspolitik gegen kurdische Gebiete in Nordsyrien und Nordirak sowie das aggressive Gebaren gegen Griechenland und die Republik Zypern.
Die Krise der türkischen Aussenpolitik
Die Vielzahl der Schlagzeilen, die die Türkei und ihr Staatspräsident in den letzten Monaten produziert haben, erweckt den Anschein, Recep Tayyip Erdoğan nutze den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine erfolgreich zur Stärkung der internationalen Rolle Ankaras: Er vermittelte ein Abkommen zwischen den Kriegsparteien über Getreidelieferungen und traf sich mehrfach mit dem russischen Präsidenten Putin und danach mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj und UN-Generalsekretär Guterres.
Dabei wird aber schnell übersehen, dass die hyperaktive Aussenpolitik des türkischen Präsidenten der letzten Monate in erster Linie ein Zeichen der Krise ist. So ist die türkische Position, im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine eine Art «Neutralität» zu wahren, nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass der Krieg in der nördlichen Nachbarschaft den regionalen Spielraum Ankaras drastisch geschrumpft hat. Und die Entscheidung, sich nicht an den westlichen Sanktionen gegen Russland zu beteiligen, geschah nicht nur aus eigenständigen Erwägungen heraus, sondern auch aus purer Not – der Abhängigkeit der kriselnden türkischen Wirtschaft von russischer Energie, russischem Getreide und russischem Tourismus.
Das gleiche gilt für die türkischen Initiativen im Nahen Osten: Erdoğan empfing den saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman in Ankara (der zuvor lange Jahre von der türkischen Regierung für den Mord des saudischen Dissidenten Jamal Khashoggi im saudischen Konsulat in Istanbul verantwortlich gemacht wurde). Er reiste in die Vereinigten Arabischen Emirate (mit denen die Türkei seit dem Arabischen Frühling unter anderem wegen der türkischen Unterstützung der Muslimbruderschaft in Streit lag). Zudem kündigte er an, die diplomatischen Beziehungen mit Israel wiederherzustellen und deutete zuletzt gar die Möglichkeit an, die Beziehungen der Türkei zum Assad-Regime in Syrien zu «normalisieren».
Diese regionalen Initiativen sind kein Zeichen türkischer Dominanz. Sie dienen vor allem dazu, Beziehungen zu reparieren, die durch die auftrumpfende türkische Aussenpolitik im letzten Jahrzehnt beschädigt wurden. Um sich so einerseits in einer Region nicht weiter zu isolieren, die sich mit den informellen Allianzen zwischen Israel und den Golfstaaten neu zu ordnen begonnen hat. Und um andrerseits potenzielle Investitionen aus Saudi-Arabien oder den Emiraten einzuwerben, die der Türkei in der tiefen Finanz- und Wirtschaftskrise helfen (und damit auch die Wiederwahl Erdoğans bei den anstehenden Wahlen unterstützen) könnten. Im Falle von Syrien geht es darüber hinaus um eine allfällige Rückkehr von syrischen Geflüchteten aus der Türkei, eine Frage, die von der türkischen Opposition massiv – und mit teilweise rassistischen Untertönen – zur Kritik an der AKP genutzt wird.
Von «multidimensionalen» Konzepten zu sprunghafter Konfrontationspolitik
Die Krise der türkischen Aussenpolitik hat direkt mit der autoritären Umformung des Staates zu tun, die die Macht in der Person des Präsidenten konzentriert. Im Zuge dieser Herrschaftskonzentration hat die Türkei eine konsistente Aussenpolitik weitgehend aufgegeben.
Das war einmal anders. Noch vor zehn Jahren staunten Kommentare in westlichen Medien über die «multidimensionale» Aussenpolitik der AKP, die massgeblich vom damaligen Aussenminister und späteren Premier Ahmet Davutoğlu geprägt worden war. Basierend auf seinem Buch «Strategische Tiefe» präsentierte Davutoğlu die Vision der Türkei als Grossmacht, die durch eine konstruktive Politik in der eigenen Nachbarschaft und weltweit an Respekt gewinnt und daraus ihren internationalen Einfluss zieht.
Dabei hatte Davutoğlu diese «multidimensionale» Ausrichtung nicht erfunden. Schon in den 1990er Jahren, nach dem Ende des Kalten Krieges, hatten so unterschiedliche Politiker wie der wirtschaftsliberale Präsident Turgut Özal, der islamistische Kurzzeitpremier Necmettin Erbakan oder der kemalistisch-sozialdemokratische Aussenminister Ismail Cem Ideen entwickelt, wie die Türkei jenseits der traditionellen Westbindung im eigenen regionalen Umfeld Einfluss ausüben könne.
Nach der Machtübernahme der AKP 2002 gab Davutoğlu diesen Ideen ein Konzept und ein Gesicht. Zwar krankte sein Konzept von Beginn an am Widerspruch zwischen nationalistisch-paternalistischem Grossmachtanspruch und der Vision konstruktiver Beziehungen mit den Nachbarländern. Gegenüber der internationalen Öffentlichkeit betonte Davutoğlu aber vor allem letzteren Aspekt, was sich insbesondere in der populären Bezeichnung «Null-Probleme-mit-den-Nachbarn-Politik» niederschlug. Gespickt mit modischen Vokabeln wie Soft Power entwarf der damalige türkische Aussenminister das Bild einer Türkei, die den Staaten der Region als demokratisches Vorbild dient und die durch konstruktive Aussenbeziehungen zur regionalen Sicherheit und Stabilität beiträgt.
Diese Politik erlebte ihren Höhepunkt während der Aufstände und Proteste des Arabischen Frühlings 2011. Und stiess an ihre Grenzen, als die Protestbewegungen in den meisten arabischen Staaten niedergeschlagen wurden. AKP-Führer Erdoğan – selbst innenpolitisch herausgefordert durch soziale Proteste etwa der Gezi-Bewegung sowie durch den Abfall seiner ehemaligen Verbündeten der Gülen-Sekte – realisierte Schritt für Schritt sein Projekt eines auf ihn zugeschnittenen Präsidialsystems. Im Zuge dieses Staatsumbaus richtete Erdoğan auch die Aussenpolitik neu aus. Die konstruktiven Komponenten Davutoğlus (der 2016 aus dem Ministerpräsidentenamt gedrängt wurde und mittlerweile in der Opposition ist) blieben dabei nur noch rhetorisch erhalten. Stattdessen manifestierte sich der türkische Grossmachtanspruch immer stärker in einer Konfrontationspolitik, die von aggressiven Auftritten bis hin zu direkten Interventionen in regionale Konflikte (wie in Syrien, Libyen oder Armenien-Aserbaidschan) reicht.
Ein weiteres Kennzeichen dieser allein von den Direktiven aus dem Präsidentenpalast abhängigen Aussenpolitik ist ihre Sprunghaftigkeit. Abgesehen vom Streben nach türkischer Stärke ist eine einheitliche Linie auf vielen Feldern kaum zu erkennen. Gross angekündigte aussenpolitische Initiativen oder lautstark formulierte Proteste und Drohungen haben oft eine nur kurze Halbwertszeit. Wenn sie auf zu viel Widerstand stossen oder wirkungslos verpuffen, können sie im nächsten Moment bereits wieder aus der aussenpolitischen Rhetorik verschwunden sein und im Regierungshandeln keinerlei Folgen haben.
Als Konsequenz dieser sprunghaften Konfrontationspolitik sieht sich die Türkei jetzt, wo sich die internationalen Rahmenbedingungen radikal ändern und das Land ökonomisch am Abgrund steht, mit zahlreichen Krisen konfrontiert, die sie teilweise selbst verursacht oder verschärft hat.
Aussenpolitik als Innenpolitik: Populismus und Nationalismus für den eigenen Machterhalt
Die konfrontative und sprunghafte Aussenpolitik des türkischen Präsidenten rührt auch daher, dass sie vorrangig auf die Wirkung in der türkischen Öffentlichkeit setzt. Für Erdoğan – wie für alle rechtsautoritären Staatsführer – ist Aussenpolitik in erster Linie Innenpolitik. Die populistische Inszenierung nationaler Stärke, die den eigenen Machterhalt sichern soll, steht dabei im Vordergrund. Und so dienen die aktuellen diplomatischen Initiativen des Präsidenten auch dem Ziel, sich als starker Staatsführer zu präsentieren, der die türkische Nation in eine wichtige Macht verwandelt hat, die international auf Augenhöhe agiert und an der niemand vorbeikommt.
Erdoğan steht mit seiner Indienstnahme des Nationalismus in der türkischen Geschichte nicht allein. Der türkische Nationalismus (in alle seinen Spielarten von säkular bis religiös) ist in weiten Teilen des politischen Spektrums populär. Schon früher haben deshalb türkische Regierungen regelmässig die Aussenpolitik benutzt, um im Land nationalistische Stimmungen anzufachen und dadurch von der eigenen Politik abzulenken. Das türkisch-griechische Verhältnis und der Zypernkonflikt sind dafür ein chronisches Beispiel.
Im autoritären Präsidialsystem Erdoğans hat die Unterordnung der Aussenpolitik unter die Innenpolitik jedoch noch einmal völlig andere Dimensionen angenommen. Der Präsident, für den selbst in seinen besten Zeiten nur etwas mehr als die Hälfte der Wahlbevölkerung gestimmt hat und dessen AKP für die Regierung auf die Unterstützung der rechtsextremen, ultranationalistischen MHP angewiesen ist, braucht die aussenpolitische Bühne als Szenerie für nationalistische Spektakel, um die eigene Anhängerschaft zu motivieren. Und so ist die derzeitige Fülle an internationalen Auftritten auch Teil einer Show für Erdoğans Wiederwahl, die durch die desaströse Wirtschaftsbilanz der Regierung bedroht ist.
Deprofessionalisierung der türkischen Diplomatie
Die Auswirkungen einer konzeptionslosen und populistischen Aussenpolitik werden durch die Konzentration aller Entscheidungen auf den Präsidenten und den um sich greifenden AKP-Klientelismus verschärft. Dies zeigt sich an der beispiellosen Deprofessionalisierung des türkischen diplomatischen Dienstes. Ehemalige Diplomaten beklagen schon seit längerem, dass der früher einmal sehr hohe professionelle Standard des türkischen diplomatischen Korps verloren geht, weil Stellen im Aussenministerium zunehmend mit AKP-Kadern besetzt werden, deren Hauptqualifikation die Loyalität zum Präsidenten ist. Gleichzeitig trauen sich professionelle Diplomaten und Diplomatinnen in den autoritären Strukturen des türkischen Regierungsapparats immer weniger, unbequeme Tatsachen anzusprechen.
Diese Entwicklung beeinträchtigt inzwischen das diplomatische Krisenmanagement der Türkei. Früher konnten die Auswirkungen populistischer Manöver türkischer Regierungsmitglieder durch den Einsatz erfahrener Diplomaten und Diplomatinnen gemildert werden. Ein Aussenministerium, in dem Ja-Sager und AKP-Karrieristen den Ton angeben, ist für diese Aufgabe kaum geeignet.
Aussenpolitische Krisen, gleich ob sie durch veränderte internationale Bedingungen entstanden sind oder durch die eigene Politik eskalieren, können so nicht frühzeitig und effektiv gemanagt werden. Am Ende bleibt dann nur die hektische Reise- und Besuchsdiplomatie des allmächtigen Mannes an der Spitze, um wenigstens den Schein türkischer Handlungsfähigkeit zu wahren.
Unberechenbare Aussichten
In westlichen Öffentlichkeiten verbreitete kulturalistische Klischees (wie vom imaginierten «Sultan Erdoğan», der die Türkei weg vom Westen führe) oder pathologisierende Feindbilder (wie vom angeblichen «Irren vom Bosporus», der eine irrationale Politik betreibe) tragen allerdings nicht dazu bei, die Entwicklung der türkischen Aussenpolitik zu verstehen. Erdoğan hat zu keinem Zeitpunkt die Nato-Mitgliedschaft der Türkei grundsätzlich in Frage gestellt und hält bisher trotz der festgefahrenen Verhandlungen an den türkischen EU-Beitrittsbemühungen fest. Auch ist seine Aussenpolitik zwar sprunghaft, aber nicht irrational. Der türkische Präsident kann durchaus auf Pragmatismus umschwenken, wie die momentanen aussenpolitischen Reparaturversuche im Nahen Osten zeigen.
Unberechenbar wird diese Politik durch die extreme populistische Ausrichtung auf die Innenpolitik. Und durch die Konzentration aller Entscheidungswege auf den Präsidenten, die wie in anderen personalisierten, auf Loyalität zum Staatsführer basierenden autoritären Systemen irgendwann das professionelle Funktionieren des Staates zu beeinträchtigen beginnt.
Ob ein (keineswegs garantierter) Wahlsieg der Opposition am populistischen nationalen Stärkekult in der Aussenpolitik etwas ändern würde, ist offen – alle sechs Parteien des Oppositionsbündnisses haben auf die eine oder andere Weise den türkischen Nationalismus im Programm. Zumindest besteht in diesem Fall die Hoffnung, dass neben einer Wiederbelebung demokratischer Prozesse und der Wiederherstellung staatlicher Institutionen auch die türkische Aussenpolitik wieder berechenbarer und professioneller wird.