Der 1994 an der Tutsi-Minderheit in Ruanda begangene Völkermord führte zur Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs mit Sitz in Arusha (Tansania). Die Urheber der übrigen schweren Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurden nicht behelligt.
Massaker im Kongo
Jetzt soll die Straffreiheit der Massenmörder ein Ende finden. Das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte hat einen Bericht über teils 17 Jahre zurückliegende Kriegsverbrechen in der Demokratischen Republik Kongo erstellt. Die Autoren nehmen die Zeit zwischen 1993 und 2003 unter die Lupe. Die fast 600 Seiten stützen sich auf 1500 Dokumente. Der Bericht listet Hunderte von Massakern, Massenvergewaltigungen, Zerstörungen von Dörfern und andere Gräueltaten auf, die sich im Verlauf von zehn Jahren auf dem Territorium der Demokratischen Republik Kongo abspielten. Und er stellt die Frage, ob nicht einige dieser Vorgänge den Tatbestand des Genozids erfüllen.
Der Bericht gefällt natürlich nicht allen Regierungen. Einige hintertreiben seine Veröffentlichung. Der ostafrikanische Kleinstaat Ruanda zum Beispiel, dessen Militärs für systematische Mordzüge im Kongo verantwortlich gemacht werden, droht mit dem Abzug seiner 3500 Soldaten aus der gemeinsamen Friedenstruppe der UNO und der Afrikanischen Union in Darfur. Regierungssprecher Ben Rutsinga nannte das Dokument „bösartig, schockierend und lächerlich“.
Jagd auf geflüchtete Hutus
Menschenrechts-Hochkommissarin Navi Pillay, eine Südafrikanerin mit indischen Wurzeln, hat daraufhin die Publikation des Kongo-Berichts auf den 1. Oktober verschoben. So soll den betroffenen Regierungen die Möglichkeit gegeben werden, ihre eigene Version der Ereignisse als Anhang einzubringen. Die Inhalt des Berichts ist aber bereits bekannt, nachdem Ende August den Zeitungen „Le Monde“ und „The Guardian“ eine Rohfassung zugespielt wurde.
Die blutigen Konflikte in der Region der Grossen Seen haben eine lange Geschichte. Der Völkermord in Ruanda im Jahre 1994 gilt aber als der Beginn einer besonders dramatischen Entwicklung. Etwa 800.000 Menschen – mehrheitlich Tutsi – waren damals auf das Signal einer Hutu-Regierung bestialisch umgebracht worden. Im Lande stationierte französische Truppen und Blauhelme der UNO griffen nicht ein. Kurz darauf eroberte eine aus Uganda einmarschierte Tutsi-Armee unter dem Kommando von Paul Kagame Ruanda. Zahlreiche Hutus und ihre Milizen flohen ins Ausland, vor allem in den benachbarten Kongo. Dort machen die neuen ruandischen Militärs und deren lokalen Verbündeten auf sie Jagd.
Sexuelle Gewalt als Bestandteil der Kriegsführung
Die von Kagame gegründete „Patriotische Armee Ruandas“ ist seit Jahrzehnten in den Wirren des Kongos verwickelt. 1997 stiess sie bis in die Hauptstadt Kinshasa vor und half mit, Staatschef Joseph Mobutu zu stürzen. Ruandas Präsident Kagame wurde am Montag für eine weitere Amtszeit von sieben Jahren vereidigt. Die Vernichtung der mit ihren Familien in den Kongo geflohenen Hutu-Militärs ist für ihn eine Priorität. Bei den Gemetzeln im Busch wird kaum zwischen Soldaten und Zivilisten unterschieden. Auch die Hutu-Milizen scheren sich um kein Kriegsrecht. Sie waren an den jüngsten Vergewaltigungen von mindestens 242 Frauen und 27 Minderjährige beiderlei Geschlechts in der Provinz Nord-Kivu beteiligt.
Nach Angaben des Bevölkerungsfonds der UNO wurden letztes Jahr aus dem Kongo mehr als 9000 Vergewaltigungen von Frauen durch Soldaten gemeldet. Sexuelle Gewalt ist ein Bestandteil der Kriegsführung geworden. Die 20.000 Mann starke Friedenstruppe der UNO kann die Kämpfe und Gräueltaten nicht verhindern.
Rivalität zwischen Frankreich und den USA
Auslöser des „afrikanischen Weltkriegs“ war nicht allein die alte Feindschaft zwischen Hutus und Tutsis, die sich schon die belgischen Kolonialisten in Ruanda und Burundi zunutze machten. Entscheidend waren die Gier nach den wertvollen Bodenschätzen des Kongos und die Rivalität zwischen Frankreich und den USA.
Frankreichs Präsident François Mitterrand beschützte 1994 die Hutu-Regierung in Ruanda. US-Präsident Bill Clinton half hingegen dem nach Uganda geflohenen Kagame. Die USA rüsteten eine „Legion“ von Tutsis aus Ruanda, Burundi, Uganda und dem Kongo aus, die bald als die schlagkräftigste Truppe der Region galt. Ihre Waffen kamen aus einem US-Nachschublager in Kampala.
Die jungen Kämpfer hatten im ugandischen Exil Englisch gelernt und Französisch vergessen. Selbst Kagame spricht lieber Englisch als Französisch. Im Vordringen der anglo-amerikanischen Kultur und der „Tutsi-Legion“ sieht Frankreich nicht zu Unrecht einen Verlust seines Einflusses in Afrika.