Am 7. Februar wurde ein Selbstmordanschlag auf das Oberste Gericht in Kabul durchgeführt. Ein Täter, der zu Fuss war, sprengte sich in die Luft zur Zeit, in der zahlreiche Angestellte das Gericht verliessen und eine grosse Gruppe von Bürgern darauf wartete, ihre Identitätsdokumente zu erhalten. Das Oberste Gericht liegt an der Hauptstrasse, die zum Flughafen führt, nicht weit von der amerikanischen Botschaft entfernt.
Feindschaft zwischen Taliban und IS
Der Anschlag kostete 20 Menschen das Leben und verwundete gegen 50. Das Gericht war schon einmal zuvor, am 13. Juni 2015, Ziel eines Anschlags gewesen. Damals waren 15 Personen gestorben und 40 verwundet worden. Dieser frühere Anschlag war von den Taliban, die sich für ihn verantwortlich erklärten, als eine Antwort auf die Hinrichtung von sechs Mitstreitern bezeichnet worden.
Ein Jahr zuvor, Anfangs Dezember 2014, war ein hoher Beamter des Gerichtes in seiner privaten Wohnung ermordet worden. Für den jüngsten Anschlag liegen noch keine Verantwortlichkeitserklärungen vor. Doch besteht wenig Zweifel, dass entweder die Taliban oder – wahrscheinlicher – ihre Rivalen, die afghanischen Anhänger von IS, verantwortlich sind.
Die Anschläge in der Hauptstadt und in vielen anderen Orten, in denen die Regierung die Herrschaft ausübt, nehmen zu. Dafür sorgt unter anderem die Rivalität zwischen den Taliban und dem IS. Der IS hat nur in der schwer zugänglichen südlichen Gebirgsprovinz Nangarhar eine Präsenz als Kampfgruppe und wird dort von den Taliban bekämpft. Umso mehr sucht er durch Anschläge hervorzutreten, um sich durch sie, vor allem in der Hauptstadt, Publizität zu verschaffen.
Selbstmordanschläge
Wie weit der IS Unterstützung aus dem Irak und Syrien erhält, ist unbekannt. Der Eindruck herrscht vor, dass er in Afghanistan eher aus unzufriedenen Teilen der Taliban-Bewegung mit ehrgeizigen, aber unbefriedigten Anführern besteht, die sich im Namen des IS von den Taliban abspalten und das „Prestige“ des IS nutzen.
Spektakuläre Selbstmordanschläge der letzten Zeit in Kabul waren jener auf die amerikanische Universität vom 24. August des vergangenen Jahrs mit 12 Toten, darunter sieben Studenten und 38 Verwundete und mit der vorübergehenden Festnahme von 150 Studenten. Kurz zuvor waren zwei Professoren entführt worden. Es gab auch einen Angriff auf einen Annex des afghanischen Parlamentes am 9. Januar dieses Jahres mit 33 Todesopfern und über 70 Verwundeten. Am gleichen Tag gab es Anschläge in den Provinzen Helmand und Herat.
Letzte Instanz zwischen Parlament und Präsident
Die Angriffe auf das Oberste Gericht zielen auf eine besonders empfindliche Stelle in der gegenwärtigen politischen Lage Afghanistans. Der Präsident Ashraf Ghani liegt im Streit mit dem Parlament, weil dieses im November des vergangenen Jahrs mehrere seiner Minister befragt und mehrheitlich für den Rücktritt von sieben Ministern gestimmt hatte. Ghani hat diese Minister aufgefordert, im Amt zu bleiben und hat das Oberste Gericht angerufen, darüber zu entscheiden, ob sie zurücktreten müssen oder nicht.
Neue Minister zu ernennen ist schwierig und zeitraubend, weil ihrer Einsetzung nicht nur der Präsident zustimmen muss sondern auch sein politischer Rivale, Abdullah Abdullah, der als „Oberhaupt der Exekutive“ wirkt. Die theoretisch bestehende Machtteilung zwischen Abdullah und Ghani war 2014 zustande gekommen, weil der bittere Streit um die Resultate der Präsidentenwahl nicht anders zu lösen war. Die Praxis war bisher, dass Ghani einen Minister bestimmte und Abdullah den nächsten, solange bis alle Ministerposten gefüllt waren, insoweit sie überhaupt gefüllt werden konnten. Einen Verteidigungsminister gab es lange Zeit nicht.
Enttäuschung über Präsident Ghani
Es ist Präsident Ghani, der in der gegenwärtigen Lage und mit der bestehenden, jedoch vom Parlament teilweise in Frage gestellten Regierung den Gang der Ereignisse bestimmt, jedoch auch die Verantwortung für sie in erster Linie zu tragen hat. Seine Beliebtheit ist seit den Wahlen stark abgesunken, weil viele der Hoffnungen, die er geweckt hatte, in die Brüche gegangen sind.
Wie das Oberste Gericht den gegenwärtigen Streit entscheiden wird, falls es sich überhaupt zu einem Entscheid durchringt, ist nicht voraussehbar. Am 24. Dezember meldete eine afghanische Agentur, das Gericht habe die Absetzung der sieben Minister gebilligt, doch die Präsidentschaft erklärte, sie sei noch nicht über den Gerichtsentscheid informiert worden.
Die Macht der Taliban wächst
Die Taliban und ihre Rivalen vom IS führen nicht nur Anschläge durch. Sie kämpfen auch gegen die afghanische Armee. Es gibt fünf von 34 Provinzen, die als kritisch gelten, weil die Taliban dort weite Landstriche beherrschen, wenngleich es ihnen bisher nicht gelungen ist, auch die Hauptorte dieser Provinzen in Besitz zu nehmen. Diese am meisten gefährdeten Provinzen sind: Kunduz, Sar-e-Pol, Baghlan, Farah und Helmand.
In Kunduz, im Norden Afghanistans, wurde die gleichnamige Hauptstadt vorübergehend von den Taliban in Besitz genommen, jedoch von der afghanischen Armee im Oktober des vergangenen Jahres mit amerikanischer Hilfe aus der Luft zurückerobert. Schon im Vorjahr hatten die Taliban Kunduz-Stadt vorübergehend gestürmt. Das Hinterland der Provinz und ihrer Nachbarprovinz, Baghlan, ist fest in ihrem Besitz.
Helmand im Südwesten Afghanistans ist die Provinz, in der die grösste Menge von Opium produziert wird. Der „Export“ (Schmuggel im grossen Stil) von Opium ist die wichtigste Einnahmequelle der Taliban. Der Opium-Anbau hat zugenommen. Von den 21 Provinzen des Landes, in denen Mohn kultiviert werden kann, gelten zurzeit 13 als „Mohnblumen- frei“.
Die Gebiete, welche die Taliban beherrschen, haben im vergangenen Jahr zugenommen. Sie versuchen dort, eigene Regierungsorgane einzusetzen. Ihre Gerichte, die auf Grund des afghanischen Scharia-Verständnisses funktionieren und von Taliban-Geistlichen geleitet werden, gelten bei der einfachen Bevölkerung als zuverlässiger denn jene der staatlichen Gerichtsbarkeit. Sie urteilen zügig und gemäss dem Brauchtum und der religiösen Doktrin der Paschtunen, und sie gelten als nicht korrupt. Auf der Regierungsseite haben Armut und Arbeitslosigkeit zugenommen. Die Korruption gilt als sehr hoch.
Die Armee – von aussen finanziert
Die afghanische Armee, die mit Hilfe der Amerikaner aufgebaut wurde, aber heute unter ihrer eigenen Führung steht, hat im vergangenen Jahr mehr Verluste erlitten als 2015. Sie gilt als kampfentschlossen, jedoch nicht immer erfolgreich geführt, mit wenig Fähigkeit, ihre Einheiten und Aktionen zu koordinieren und sich wohl informiert zu halten; sie ist auch immer noch ungenügend ausgerüstet, wenn man einige wenige Elitetruppen ausnimmt.
Die Regierungsarmee hat keine Luftwaffe. Piloten werden von den Amerikanern ausgebildet und sollen bis Ende 2017 einsatzbereit werden. Präsident Ghani hat zum ersten Mal einige hohe Offiziere der Korruption angeklagt und ins Gefängnis gebracht. Auch die Taliban haben bedeutende Verluste. Sie haben die Rekrutierung ihrer Kämpfer, die bisher fast ausschliesslich aus Paschtunen bestanden, auf die anderen Völker Afghanistans ausgedehnt.
Die gegenwärtigen Mannschaften der Armee umfassen 320‘000 Mann. Die Zahl der Soldaten ist im vergangenen Jahr um rund 8000 zurückgegangen. In den Kämpfen mit den Taliban hat die Armee im Jahr 2016 angeblich 5000 Mann verloren. Aufrüstung und Unterhalt der Armee kosteten seit 2004 durchschnittlich rund 5 Milliarden Dollar im Monat. Der Staat Afghanistan besitzt diese Mittel nicht.
Alle Afghanen wissen, wenn die Gelder nicht mehr aus Amerika und aus Europa einfliessen, wird die Armee zusammenbrechen. Viele reiche Afghanen, fast immer Personen, die eine politische oder eine zentrale Stammesposition einnehmen und deren Verwandte, bringen daher ihr Geld ausser Landes. Die VAE dienen als der wichtigste „Bankier“ für diese Operationen.
Die verbliebenen „Warlords“
Schon gegenwärtig gibt es einzelne Machthaber in den vom Staat kontrollierten Landesteilen, die als unabhängige oder teilweise unabhängige Einmannherrscher ihre Provinzen und Städte dominieren. Der Staat ist darauf angewiesen, mit ihnen zu verhandeln. Der alte „Warlord“ und Herr der usbekischen Minderheit, Abdul Rashid Dostum, bleibt einflussreich in den usbekischen Provinzen des Nordwestens. Er ist offiziell Vizepräsident Afghanistans, weil Präsident Ghani die Stimmen seiner Usbeken unbedingt brauchte, um Präsident zu werden, und ihn daher für den Wahlkampf zu seinem künftigen Vizepräsidenten erhob. Doch Dostum gilt in den USA als ein möglicher Kriegsverbrecher und konnte kein Visum erhalten, als er im vergangenen Jahr Washington besuchen wollte.
Der ebenfalls seit langen Jahren als Oberhaupt der Stadt Herat fungierende Tadschike, Ismail Khan, wurde von Ghani seines Amtes als Gouverneur seiner Stadt und Provinz entfernt und durch einen der Stadt fremden Verwalter ersetzt. Ismail Khan wurde offiziell Landwirtschaftsminister in Kabul. Doch dies hindert ihn nicht daran, mit seinen Anhängern in Herat Kontakte zu pflegen und das gegenwärtige Regime, in dem er als Minister dient, sowie Präsident Ghani selbst und Exekutivobehaupt Abdullah Abdullah bitter zu kritisieren und ihnen die Schuld an allen Missständen des Landes zuzuschreiben – soweit er sie nicht an den Interventionen der Ausländer, Amerikanern und allen anderen, festmachen will.
In Kandahar ist ein Armeegeneral Gouverneur, General Raziq, der bisher als ein besonders energischer Kämpfer gegen die Taliban galt. Doch in der jüngsten Zeit hat er begonnen, mit ihnen Kontakt zu suchen. Er lobte Mullah Omar, den verstorbenen Gründer der Taliban, und hat den Taliban einen „Sicherheitsbereich“ in Kandahar angeboten, wobei unklar ist, ob er mit Zustimmung Kabuls handelt oder auf eigene Faust.
Seitenwechsel Hekmatyars
Der alte Kämpfer des islamistischen Hizb-e-Islami, Gulubeddin Hekmatyar, der einst gegen die Sowjetunion kämpfte, dann weitgehend für die Zerstörung der Stadt Kabul durch Artilleriebeschuss verantwortlich war, noch später in Iran Zuflucht suchte und schliesslich, 2002 von Iran ausgewiesen, eine lose Allianz mit den Taliban unterhielt und seine Partei in der Provinz Nangarhar wiederaufbaute, trat im September 2016 über auf die Regierungsseite, nachdem Teile seiner Partei diesen Schritt schon früher vollzogen hatten.
Seine Markierung als Kriegsverbrecher und Terrorist wurde daraufhin von der Uno aufgehoben. Gegenwärtig versucht er mit der Regierung Ministerpositionen für seine Partei auszuhandeln, auf die er als Belohnung für seinen Seitenwechsel Anspruch erhebt.
Friedensverhandlungen kamen nicht zustande
Präsident Ghani kam mit dem Projekt zur Macht, solche Machthaber in den Staat einzubinden und auch mit den Taliban zu verhandeln. Doch die Gespräche mit den Taliban kamen nicht zustande. Für die Verhandlungen suchte Ghani ursprünglich das Nachbarland Pakistan einzuspannen.
Der Präsident reiste schon kurz nach seiner Einsetzung nach Pakistan und führte Gespräche mit den dortigen Machthabern. Er versuchte sie dazu zu veranlassen, auf die Taliban Druck auszuüben, damit sie sich zu Verhandlungen mit Kabul entschlössen. Pakistan ist in der Lage, Druck auszuüben. Seine Geheimdienste unterstützen die afghanischen Taliban nach wie vor. Sie erlauben auch ihrer politischen Führung, in Pakistan zu leben und von Pakistan aus zu wirken.
Pakistanische und afghanische Taliban
Die pakistanischen Taliban werden von Armee und Geheimdiensten energischer bekämpft als zuvor, seitdem diese am 16. Dezember 2014 eine Armeeschule in Peshawar angriffen und über 150 Personen töteten, darunter viele Kinder von Offizieren. Die pakistanischen Taliban kamen seither unter energischen Druck durch die Armee, und ihre Bombenanschläge innerhalb Pakistans haben stark abgenommen. Doch dies betrifft nur die pakistanischen Taliban. In Afghanistan führten die Pakistani ihre Unterstützung der afghanischen Taliban fort, und Präsident Ghani konnte in Islamabad nur leere Versprechungen erlangen.
In der Folge dieser enttäuschenden Besuche kam es zu verbalen Angriffen von Seiten des Präsidenten gegen Islamabad und einer weiteren Verschlechterung der Beziehungen zum Nachbarland. Eine Hinwendung von Kabul zu Indien verstärkte den Zwist.
Die Pläne Chinas und Indiens
Es gibt konkurrierende grosse Pläne zu einer Anbindung des Binnenlandes Afghanistan an den von den Chinesen geförderten transkontinentalen Transitkorridor, der in der Zukunft China durch ganz Pakistan hindurch mit dem neu ausgebauten Hafen von Gwadar in pakistanisch Belutschistan verbinden soll.
Im Gegenzug plant Indien gemeinsam mit Iran eine indische Freihandelszone bei dem iranischen Hafen Charbehar in iranisch Belutschistan, nur 70 Kilometer von Gwadar entfernt. In Indien ist die Rede von einer Eisenbahn, um diese Freihandelszone mit Afghanistan zu verbinden. Über Afghanistan möchte Indien dann nach Zentral-Asien hinüber reichen.
Mehr Krieg nach 36 Jahren davon?
Doch dies ist alles Zukunftsmusik. Die Gegenwart und mit ihr die Möglichkeit, solche Pläne zu verwirklichen, hängt davon ab, ob die Amerikaner bereit sind, die Last einer Verteidigung und Entwicklung Afghanistans weiter zu tragen. Von Präsident Trump erwartet man in Kabul, dass er möglicherweise die Zahl der in Afghanistan engagierten amerikanischen Truppen wieder erhöhen könnte. Wie schon Obama dies zu Beginn seines Mandates tat.
Doch das Ziel solcher Anstrengungen müsste sein, die Taliban zu besiegen und Afghanistan so weit zu entwickeln, dass es schlussendlich seine eigene Verteidigung und Verwaltung selbst finanzieren kann. Dieses Ziel wurde bisher in den 15 Jahren amerikanischer Präsenz und amerikanischen sowie europäischen Engagements verfehlt.
Es gibt Berichte, nach denen die afghanischen Taliban mit den Russen Kontakt halten. Für Moskau ginge es dabei um eine diskrete Vorbereitung der Zeit nach den Amerikanern. Die Taliban sollen den Russen versichern, sie seien keine Befürworter einer weltweiten islamischen „Revolution“. Ihnen gehe es nur um die Herrschaft über Afghanistan. Die Ambitionen, sowohl nach Indien wie auch nach Zentralasien und in den Kaukasus überzugreifen, seien Anliegen ihrer Feinde und Konkurrenten, der Anhänger des IS.
Rückkehr von Flüchtlingsmassen aus Pakistan und Iran
Die Rückkehr der afghanischen Flüchtlinge aus Pakistan und aus Iran, wo Druck auf sie ausgeübt wird, heimzukehren, sowie neuerdings auch aus Europa, belastet das Land und seinen Arbeitsmarkt. Die grossen Zahlen kommen aus den beiden Nachbarländern. Es waren gegen eine halbe Million im vergangenen Jahr.
Manche dieser Rückkehrer sind im Ausland geboren und kommen zum ersten Mal in ihrem Leben nach Afghanistan, andere haben Jahrzehnte im Ausland gelebt. Solchen Personen fehlen alle Anknüpfungspunkte in ihrer Heimat. Sie stauen sich auf als Beschäftigungslose in der Hauptstadt Kabul.
Die importierte Demokratie
Die westlichen Aussenmächte haben versucht und viel Energie darauf verwandt, in Afghanistan ein demokratisches Regime einzurichten. Die bisherigen Wahlen wurden stets von den westlichen Mächten und von der Uno finanziert und beaufsichtigt. Der erste Machtwechsel in Afghanistan, den es je auf Grund einer Abstimmung gab, brachte die neue Präsidentschaft von 2014.
Doch dieser Machtwechsel führte zu der Doppelbesetzung der Regierungsspitze durch den Präsidenten und die Figur des Oberhauptes der Exekutive. Sie musste eingeführt werden, um einen Streit zu schlichten, der drohte, zu einem Bürgerkrieg zwischen den Anhängern der beiden Hauptsieger in der umstrittenen Präsidentenwahl zu führen. Doch die salomonische „Lösung“ belastet seither die afghanische Politik.
Schon 2015 wären eigentlich Parlamentswahlen fällig gewesen. Doch sie können nicht durchgeführt werden, bevor das gegenwärtige Parlament nicht ein neues Wahlgesetz durchdiskutiert und verabschiedet hat. Dies ist ein schwieriges Unterfangen, weil viel von diesem Wahlgesetz abhängt. Was zur Erwartung führt, dass das neue Gesetz dieses Jahr schwerlich verabschiedet werden kann. Im Jahr 2019 würden theoretisch bereits die nächsten Präsidialwahlen fällig.