2014 ist auch das Datum für die Präsidentschaftswahl in Afghanistan. Präsident Hamid Karzai darf nicht mehr kandidieren, und die Afghanen stellen sich die bange Frage, wer ihm wohl folgen wird.
Noch mehr bangen sie um einen anderen Prozess, der ebenfalls in den nächsten 24 Monaten abrollt. Es ist der Abzug der NATO-Truppen, allen voran der amerikanischen, die das Gros des 66'000 Mann starken Expeditionskorps stellen. Diese Streitmacht garantiert dem Land ein Minimum an Sicherheit und Schutz vor den Taliban; sie und die zivilen Berater und Trainer bilden den bei weitem wichtigsten Wirtschaftsfaktor des Landes. Ihr Wegfall wird nicht nur ein machtpolitisches Vakuum schaffen, er droht sie mit einer Wirtschaftskrise noch zu verschärfen.
Zweckehe ohne Zweck
Am Wochenende befand sich Präsident Karzai in Washington, um mit Präsident Obama über die Modalitäten dieses Abzugs zu verhandeln. Er wurde mit Böllerschüssen und einer Militärparade empfangen. Doch hinter dem Brimborium verbirgt sich eine Zweckehe, in der die Partner keinen echten Zweck mehr sehen. Glaubt man Zeitungsberichten, ist die Scheidungsbereitschaft amerikanischerseits besonders hoch, bis hinauf ins Weisse Haus. Es gehe nur noch um die Festsetzung der Mannstärke für das Kontingent, das im Land bleiben wird; die Varianten gehen von 12'000 Mann bis null.
Laut der New York Times scheint sich Karzai wenig Sorgen darüber zu machen. Er geht davon aus, dass das strategische (Eigen-)Interesse der USA so gross ist, dass sie mehr Truppen im Land zurücklassen müssen, als sie möchten und sich leisten können. Der ehemalige Afghanistan-Oberkommandierende General Stanley McChrystal bestätigt dies. In einem NYT-Interview erklärte er diese Woche, auch wenn sich die USA auf die Bekämpfung der Kaida und anderer Terrororganisationen im Grenzgebiet zu Pakistan beschränkten, brauche es rund 15'000 Mann: für Militärbasen, die Infrastruktur für Nachschub, den Unterhalt eines Netzwerks von Informanten, ohne die gerade der Drohnen-Einsatz gelähmt bliebe.
Nur eine der 23 Brigaden ist kampffähig
Karzai kann sich also ins Fäustchen lachen: Mit einem Korps von 10'000+ amerikanischen Soldaten hätte er ein Faustpfand, mit dem er wuchern kann. Es könnte verhindern, dass sich der Westen wieder einmal – wie vor 23 Jahren, nach dem Abzug der russischen Truppen – das Land seinem Schicksal überlässt. Die USA müssten das Regime in Kabul auch nach Karzais Abtreten weiterhin unterstützen. Eine zu schwache Militärpräsenz würde, so das Schreckgespenst, in die erneute Machtübernahme der Taliban münden – und das wäre das Ende jeglicher internationalen Präsenz.
Aber nach zwölf Jahren eines zermürbenden Kriegs beginnt sich auch der Westen, wie damals die serbelnde Sowjetunion, zu fragen, ob der zurechtgezimmerte Verschlag eines demokratischen Staats überhaupt halten wird, mit oder ohne Militärpräsenz. Der Aufbau einer riesigen Armee und Polizei von 230'000 Mann wurde so hastig vorangetrieben, dass sich die organisatorischen und psychologischen Fundamente dieser Institutionen keine Stabilität erlangten. Die zunehmenden Attentate auf ausländische Ausbilder vonseiten afghanischer Rekruten decken mangelnde Sicherheitsprüfungen bei der Aushebung auf; sie demonstrieren auch die psychologische Verunsicherung von jungen Männern, die in ihrem Leben nur Krieg gekannt haben. Doch ohne Berater ist die Armee dem Gegner nicht gewachsen; es heisst, nur eine der 23 Armee-Brigaden sei selbständig kampffähig.
Gemästete Korruptionswirtschaft
Noch bedrückender ist der Zustand der politischen Institutionen. Die abkürzungsversessenen Amerikaner haben für das Karzai-Regime das Akronym VICE geprägt: Vertically Integrated Criminal Enterprise. Vor zwölf Jahren mokierte man sich über den Präsidenten, dass er eigentlich der Bürgermeister von Kabul sei: An den Grenzen der Stadt hörte seine Macht auf. Heute mag er über weite Teile des Landes gebieten, doch die Präsidialgewalt ist nur eine Maske. Dahinter verbirgt sich ein Geflecht von Regionalfürsten, Stammesführern und Kriegsgewinnlern. Die vierhundert Milliarden Dollar (!), die in den letzten dreizehn Jahren ins Land geflossen sind, haben eine Korruptionswirtschaft gemästet. Sie wurde vom Westen zähneknirschend toleriert und finanziert, weil Al-Kaida und dessen lokalen Steigbügelhalter das schlimmere Übel wären.
Falls dieser Geldfluss nun austrocknet und der wirtschaftliche und militärische Flankenschutz wegfällt, werden sich diese Sonderinteressen rasch neu positionieren. Aber dies muss keineswegs einen Kollaps nach sich ziehen. Vielmehr werden die bisherigen Mandatsträger auf altbewährte Stammestradition zurückgreifen. Bereits ziehen sich ehemalige Kriegs- und Stammesherren wieder in ihre tribalen Kernlande zurück, Minister-Anzug und Krawatte werden mit dem Salwar-Kameez vertauscht. Ismael Khan, der alte Mudschaheddin-Fuchs, hat seinen Wohnsitz nach Herat verlegt. Sollte das Staatsgebäude in Kabul einstürzen oder auf seine Fassade reduziert werden, werden die Stammesgebiete wieder zum Zentrum der Macht. Stammesführer wie Khan werden wohl auch Zulauf aus den neuen Armee-Einheiten erhalten; schon als Minister hatten sie dafür gesorgt, dass das Prinzip der ethnischen Durchmischung in den Armee-Verbänden nur sehr beschränkt durchgesetzt wurde.
Eine lockere Konföderation von Stämmen?
Ich habe den Verdacht, dass auch USA und NATO diese Entwicklung voraussehen – und damit leben können. Denn es muss nicht bedeuten, dass die Taliban bereits wieder vor den Toren Kabuls stehen. Ihr erster Sturmlauf vor sechzehn Jahren war nur deshalb so erfolgreich gewesen, weil die Bevölkerung von den Machtkämpfen der Kriegsfürsten genug hatte, und weil die Paschtunen-Stämme ihr Gewicht hinter die Gottesschüler warfen. Dies wird heute nicht mehr geschehen, und mit Terror und Einschüchterung allein lässt sich auch in Afghanistan kein Staat machen. Viele Stammesführer sind sich nach zwölf Jahren Kohabitation in Kabul auch nicht mehr spinnefeind, da sie sich alle am Mittelfluss aus dem Ausland gütlich tun konnten. Das optimistische Szenario also: eine lockere Konföderation von Stämmen und Regionen, eine pragmatische Balance von Partikular- und Nationalinteressen, wie sie für Afghanistan immer typisch war; dazu Islam light, um das Geschäft nicht zu verderben.
Ein zweiter Faktor hat sich ebenfalls verändert. Die erste Taliban-Generation war eine Kreatur Pakistans. Es wollte sich mit einem gefügigen Partner im Westen den Rücken freihalten für den indischen Erzfeind im Osten. Die Rechnung ging nicht auf, und Pakistan wird den Fehler kaum wiederholen. Heute ist es das grösste Opfer seiner Schöpfung: Die pakistanischen Taliban haben sich von ihren afghanischen Kampfgenossen getrennt und den eigenen Staat zur Zielscheibe erklärt. In Afghanistan selber ist Indien heute besser platziert als der Westen und Pakistan. Es hat sich beim hektischen Nation Building der NATO zurückgehalten und in den Regionen hat es sich mit Infrastrukturhilfe alte Freundschaften erhalten; für den Fall, dass es in Kabul wieder drunter und drüber geht.