Kaum ein Autor war während der diesjährigen Leipziger Buchmesse so gefragt wie er. Die Schweiz hatte ihren grossen Auftritt, und Adolf Muschg war ihr prominentester Vertreter. Fast konnte man den Eindruck gewinnen, der Autor gelte hier mehr, sei angesehener, geachteter als im eignen Land.
Vordenker der Nation
Ganz falsch war der Eindruck nicht, und Muschg ist beileibe nicht der einzige Schweizer Intellektuelle, dem zuhause bisweilen die Anerkennung versagt wird, die ihm gebührt. Max Frisch konnte davon ebenfalls ein Lied singen. Nach Frischs Tod ist Adolf Muschg in seine Fussstapfen getreten und, ähnlich wie seinerzeit Böll oder Grass in Deutschland, zum intellektuellen Vordenker der Nation geworden.
Ausgesucht hat er sich diese Rolle nicht. Sie ist ihm zugefallen, und nun füllt er sie aus – mit Gewissenhaftigkeit und einem Ernst, für die ihn viele schätzen und einige wenige ihm übel wollen. Adolf Muschg hat damit leben gelernt. Er lässt Widerspruch zu und nimmt Feinde ernst, allerdings nur, wenn sie ihm mit offenem Visier gegenübertreten. Er selbst hat seine Haut ein Leben lang zu Markte getragen, ist eingestanden für seine Überzeugungen und hat sich schützend vor jene gestellt, die seinen Beistand brauchten.
Allein dafür gebührt ihm Dank. Denn leicht war es auch für einen so klugen und redegewandten Autor wie ihn nicht, all den vielen Verpflichtungen neben seiner eigentlichen Aufgabe, der Schriftstellerei, nachzukommen. Adolf Muschg war promovierter Germanist und Hochschuldozent, bevor er zum Schriftsteller wurde. Er hat öffentliche Aufgaben wahrgenommen, hat an der Totalrevision der Schweizerischen Bundesverfassung mitgearbeitet, für den Ständerat kandidiert, das Collegium Helveticum geleitet, die Akademie der Künste in Berlin präsidiert – und dabei immer noch Zeit gefunden, sein literarisches Werk zu pflegen und zu mehren.
Schriftstellerei an erster Stelle
Zehn Romane sind, wenn ich richtig gezählt habe, seit dem Erstling „Im Sommer des Hasen“ erschienen, darunter so bedeutende wie „Albissers Grund“ und „Der rote Ritter“, dazu mehrere Bände mit Erzählungen, einige Stücke und eine Vielzahl von Reden und Aufsätzen, mit denen er Kontroversen angestossen oder in laufende Debatten eingegriffen hat.
Der Schriftsteller, der Intellektuelle und der Staatsbürger Muschg sind nur schwer voneinander zu trennen. Sie beeinflussen sich gegenseitig und kommen sich vielleicht auch ab und zu in die Quere. Dass für ihn der Schriftsteller, die Literatur an oberster Stelle steht, daran hat er selbst aber nie einen Zweifel gelassen. Adolf Muschg musste schreiben, nicht nur weil das Talent in der Familie lag, sondern weil er dabei einem inneren Drang folgte und das Schreiben brauchte, um das Leben zu bewältigen, am Leben zu bleiben, nicht nur im übertragenen Sinn.
Fragen, die uns stellen
Im Grunde geht es auch im Werk dieses Autors stets um die eigene Biografie, wenngleich das Autobiografische bei ihm oft nur wie ein leises Hintergrundrauschen die Handlung bestimmt. Adolf Muschg ist ein Autor voller Einfälle und ein Meister der Fiktion. Er liebt es zu erzählen und dabei Erzählgebäude zu errichten, in denen nur er sich noch wirklich zurechtfindet.
Warum er das tut, hat er unlängst in einem Interview in der „Sonntagszeitung“ mit den Worten erklärt: „Ich möchte keine Erfahrungen nachzeichnen, sondern Erfahrungen machen – mit dem Text. Er soll nicht verraten, was ich schon zu wissen glaube, sondern mich selber überraschen.“ Das passt zu einer Aussage aus dem soeben erschienenen Essay-Band „Im Erlebensfall“, wo es in einem der Texte heisst: „Und wenn ich hier etwas zu melden habe, dann ist es meine antrainierte Gewohnheit, Fragen, auf die ich keine Antwort habe, so zu stellen, dass grössere Fragen zum Vorschein kommen, die gewissermassen nicht mehr sich stellen, sondern uns.“
Unwillkommene Wahrheiten
Es ist dieses unablässige Fragen und Sich-infrage-Stellen, das Muschg zu einer so wichtigen Figur im schweizerischen Kulturleben gemacht hat: zu einer umstrittenen, einer unbequemen Figur auch, aber gerade deshalb zu einer umso nötigeren. Mit Büchern wie dem Essay-Band „Die Schweiz am Ende, am Ende die Schweiz“, dem Roman „Albissers Grund“ oder dem autobiografisch-politischen Rechenschaftsbericht „O mein Heimatland!“ – um nur einige seiner markantesten Werke zu nennen – konfrontiert er sich selbst wie auch seine Landsleute mit Wahrheiten, denen man nur ungern ins Auge blickt. Aber weil er sich dabei selbst nicht schont, macht er uns das Entrinnen schwer.
Adolf Muschg hält seinen Lesern den Spiegel vor. Er reflektiert und überprüft sich aber auch permanent selber. Die Folie, vor der dies geschieht, heisst Japan: Japan, das Land, das er als junger Dozent in den sechziger Jahren kennenlernte; Japan, das Land, aus dem seine Ehefrau Atsuko stammt; Japan, das „fremde Heimwehland“, wie er es nennt, der Inbegriff des Andern, das ihm zum Prüfstein des Eigenen wird.
Lust an der Differenz
Um „die Freude daran, dass der Andere anders ist“, um „die Lust an der Differenz“ geht es Muschg nicht nur im individuellen, sondern ganz besonders auch im gesellschaftspolitischen und kulturellen Kontext. Sie steht am Grund seines Engagements für einen Dialog der Kulturen und ein vereinigtes Europa, an dem auch die Schweiz ihren Anteil hätte. Denn sie schliesst das Bewusstsein mit ein, „dass auch ich es sein kann: anders“.
Sich selbst erkennen im Bild des Andern – das ist nicht nur Muschgs gesellschaftspolitisches Credo, das ist auch sein literarisches Programm. An ihr Ende ist diese Suche nach dem Eigenen im Fremden noch lange nicht gekommen. Muschg schreibt weiter, und das ist gut so.
Zum 80. Geburtstag sind erschienen:
Adolf Muschg: Im Erlebensfall. Versuche und Reden 2002 – 2013, C.H. Beck, München.
Manfred Dierks: Adolf Muschg. Lebensrettende Phantasie, C.H. Beck, München.
Am 17. Mai wird Adolf Muschg von seiner Wohngemeinde Männedorf das Ehrenbürgerrecht verliehen (Gemeindesaal Männedorf, 10.30 Uhr).