Unter Bedingungen der Unsicherheit entscheiden – das müssen viele. Auch Lehrerinnen und Lehrer. Sie alle kennen die Last der Kontingenz und den Stossseufzer: «Hätt’ ich doch!» Ein Nachdenken aus aktuellem Anlass.
Das Corona-Virus nimmt keine Rücksicht auf unsere Pläne. Es hat seinen eigenen Kurs und kümmert sich kaum um unser Abwehrdispositiv. Im Gegenteil: Es zeigt uns die Grenzen unserer Handlungsmöglichkeiten auf. Wir können eben nicht alles selbst bestimmen und sind nicht immer Herr im eigenen Haus. Gast bleibt das Unsichere, das Ungewisse – bleibt das, worüber wir nicht verfügen können: das Kontingente als das Konstitutive der Conditio humana. Das verdrängen wir gerne. Darum wohl fragte die FAZ vor einiger Zeit: «Sind wir kontingenzintolerant geworden?»[1]
Gefragt ist Ungewissheitstoleranz
Das Kontingente ist Teil unseres Lebens – und dieses Offene, Unvorhersehbare, Unverfügbare gehört auch zum Unterricht. Lehrerinnen und Lehrer benötigen darum eine grosse Dosis Ungewissheitsresistenz oder eben Kontingenztoleranz. Pädagogisches Handeln ist in einem hohen Grad von Unsicherheiten geprägt: Haben meine Schülerinnen und Schüler das Neue verstanden und die Zusammenhänge begriffen? Habe ich als Lehrer das Begriffliche gut genug erklärt und das Handlungswissen systematisch aufgebaut? Erreichen darum meine Kinder das intendierte Ziel? Und können alle die Aufgaben bewältigen und die Probleme lösen?
Diese Ungewissheit im Unterrichtsalltag beunruhigt und verunsichert. Vor allem junge Lehrpersonen erfahren die prinzipielle Offenheit der Lehr- und Lernprozesse vielfach als grosse berufliche Belastung – sie verbinden das Unberechenbare des pädagogischen Handelns mit Zweifeln am eigenen professionellen Können. Auf diesen inneren Konflikt sind sie kaum vorbereitet. Unterrichten als Handeln in kontingenten Situationen bleibt in der Ausbildung meist ein blinder Fleck.[2] Das macht ganz besonders unerfahrenen Lehrkräften zu schaffen.
Das Spannungsgefüge des Unterrichts
Wer unterrichtet, begibt sich immer in ein Spannungsfeld. Er ist immer konfrontiert mit der Frage: Habe ich den richtigen Weg gewählt? Wie steht es um das Ambivalente von prinzipiell Geplantem und konkret Machbarem, von Gewissheit und Möglichkeit? Unterricht vollzieht sich ja als Wechselspiel zwischen dem, was mir als Lehrer verfügbar ist – die methodisch-didaktischen Wissensbestände, mein professionelles Können –, und dem, was letztlich nicht in meiner Hand liegt und mir unverfügbar bleibt. Doch auf dieses Unverfügbare bin ich fürs Gelingen zwingend angewiesen: die Reaktion der Schülerinnen und Schüler, ihr Engagement, ihr Lernen-Wollen oder ihr «Get involved!», wie es am Eingangstor einer amerikanischen Schule heisst.
Darin liegt der erhebliche Anteil an Unvorhersehbarem und Unberechenbarem im Unterricht. Im subtilen Beziehungsgeflecht zunehmend heterogener Klassen lässt sich eben nicht alles rational lenken und noch weniger erzwingen; Unterricht ist kein Produktionsbetrieb, eine Lektion kein Start-Ziel-Lauf. Das geht bei den Bildungsplanern oft vergessen: Aus ihrer Logik ist alles machbar, alles organisierbar, alles eine Frage der Effizienz und des Willens. Ungewissheit und Kontingenz im Unterricht kommen kaum vor. Darin liegt in aller Regel eine unzulässige Komplexitätsreduktion.
Der schöpferische Wert der Kontingenz
Dabei kann die «systematische Ungewissheit pädagogischen Handelns» genau zu jenen sozialen Dynamiken führen, in denen kreative Momente einsetzen und sich produktive Denkprozesse entfalten.[3] Das Schöpferische braucht das Offene; das Originelle entsteht vielfach aus dem Ungeplanten und Unplanbaren. Der Wert der Kontingenz! Darin liegt die Bildungschance offener Prozesse. Es muss darum gelingen, dass junge Lehrpersonen diese Offenheit und Unplanbarkeit ihres Wirkens nicht als belastendes Damoklesschwert wahrnehmen, sondern als konstitutives Element guten Unterrichts.
Und darum darf das Entscheiden unter den Bedingungen der Unsicherheit nicht zur Hypothek werden und mit dem quälenden Selbstvorwurf konnotiert sein: «Ach, hätt’ ich doch nur…!» oder verbunden mit der trüben Frage «Warum habe ich denn nicht…?» Aus der Forschung wissen wir: Lehrerinnen und Lehrer müssen in einer Schulstunde unzählige Entscheide fällen. Ihre Wirkung ist selten präzis vorhersehbar. Entscheiden beinhaltet immer auch einen möglichen Fehlentscheid – und kann im Nachhinein belasten. Das blockiert und lockt – bei allem Wert der Selbstreflexion – ab einem gewissen Grad in die Grübelfalle. Diese Klippe lässt sich vermeiden.
Entscheiden heisst verzichten
Jede Entscheidung hat ihren Preis. Das gilt auch für den Unterricht. Und mit jeder Entscheidung scheiden wir anderes aus. Entscheiden heisst immer auch verzichten. Wenn ich den Weg rechts wähle, muss ich den linken Pfad liegen lassen und gleichzeitig die Kraft haben, das zu ertragen. Im Unterricht mit seiner Offenheit kann so manches eben auch ganz anders möglich sein.
Alle pädagogischen Lehren, alle fachbezogenen Unterrichtstheorien, alle methodischen Ratschläge können etwas Zentrales nicht verdrängen: Im pädagogischen Alltag bleibt stets ein Unverfügbares, Kontingentes übrig, etwas, das auf unvorhersehbare Weise in Erscheinung treten kann. Es ist das Unverfügbare. Vielleicht sensibilisiert uns die aktuelle Gegenwart für dieses Kontingente.
Kontingenztoleranz aus dem pädagogischen Berufsalltag
Mehr Kontingenztoleranz fordert die FAZ für diese ver-rückte Covid-19-Zeit – etwas, das für erfahrene Lehrerinnen, für versierte Lehrer eigentlich selbstverständlich sein sollte. Dieses Selbstverständliche resultiert aus der Erfahrung ihres pädagogischen Handelns: Der Ungewissheit können wir nicht entkommen, so wenig es uns gelingt, dem eigenen Schatten davonzulaufen. Wir können lediglich in dieser Hinsicht klüger werden. Das gilt auch für die Zukunft unserer Bildungsbemühungen.
[1] Thomas Kaufmann, Das Singen ist uns allen vergangen, in: FAZ, 24.12.2020, S. 7.
[2] Arno Combe (2015), Schulkultur und Professionstheorie. Kontingenz als Handlungsproblem des Unterrichts, in: Jeanette Böhme et al. (Hrsg.), Schulkultur. Theoriebildung im Diskurs. Heidelberg: Springer-Verlag GmbH, S. 124.
[3] Arno Combe/Fritz-Ulrich Kolbe (2004), Lehrerprofessionalität, in: Werner Helsper/Jeanette Böhme (Hg.), Handbuch der Schulforschung. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, S. 834.