Im Trauerspiel Zriny von Theodor Körner aus dem Jahr 1812 wurde der militärische Vormarsch der Türken nach Europa als ein kulturelles Trauma wiedergegeben. Das Spiel widerspiegelt die negativen Gefühle der Europäer gegenüber den Türken, die daran waren, ihren Traum von der Eroberung von Wien wahrzumachen. Der Protagonist Zriny verteidigt darin sein Vaterland gegen die Türken heroisch. Zriny wurde zwar so, wie der Türkenführer Sultan Süleyman gewollt hat, von den Türken geköpft, doch Süleyman selber konnte den Triumph nicht geniessen, da er am 7. September 1566 starb und mit ihm auch die Hoffnung der Türken, nach Europa zu gelangen.
Dieser Traum der Türken und das Trauma der Europäer wird heute immer wieder aktualisiert und mit anderen Mitteln fortgesetzt. Auf der Staatsebene haben Türken ihre militärische und politische Macht verloren. Einen Krieg gegen Europa können sie sich nicht leisten. Dafür sind sie in der Lage, Tausende von Flüchtlingen nach Europa zu schicken oder zu stoppen. Wenn der türkische Staatspräsident Erdogan Deutschland Rassismus vorwirft, selber aber einen Krieg gegen sein eigenes Volk führt, ohne dass die Europäer ihn mit Kriegsverbrechen beschuldigen können, macht sich das Gefühl von Hilflosigkeit bemerkbar. Türkei ist Freund und Feind zugleich.
Vielfache Präsenz von Türken in Europa
Auf der Gesellschaftsebene sind die Türkinnen und Türken dank ihren Netzwerken ein wesentlicher Teil der europäischen Lebenswelt. Insbesondere im deutschsprachigen Raum sind sie in der Politik, Kultur, Wirtschaft und Akademie immer mehr unübersehbar. Es vergeht kaum ein Tag, an dem die Türkei, die Türken, die türkische Kultur, die Integration der Türken usw. nicht in den Medien thematisiert, dramatisiert aber auch vertieft behandelt wird. Die Türken und die Türkinnen leben sowohl als Staatsbürger wie auch als Arbeiter ohne Arbeitsrechte, als Flüchtlinge, Papierlose usw.
Am Beispiel der Ablehnung des Einbürgerungsgesuches von Frau Funda Yılmaz in einer kleinen Schweizer Gemeinde (Buchs im Kanton Aargau) möchte ich ein latentes Problem ansprechen, das uns alle angeht. Angesichts der Tatsache, dass es in diesem Land Politikerinnen und Politiker gibt, die ihre politische Existenz der Türkenfeindlichkeit verdanken, und dass diese kleine Gemeinde dank dieser Ablehnung in vielen wichtigen europäischen Zeitungen erwähnt wurde, stellt sich die Frage, ob es sich doch nicht um eine gute PR-Aktion handelt.
Eine PR-Aktion im Sommerloch?
Vielleicht diente die Aktion nur dazu, das Sommerloch zu füllen – die Langeweile als Schlüssel für eine Kreativität. Ich weiss es nicht. Wichtiger ist aber, dass diese „PR-Aktion“ sehr rassistisch daherkommt. Und noch wichtiger, dass diese rassistische Haltung sozialisiert, Teil der schweizerischen Lebenswelt ist: die beste Empörung lautet, dass Frau Yılmaz als Angehörige der zweiten Generation von Türken einen erleichterten Einbürgerungsprozess zu durchlaufen habe. Doch betrachtet man dieses Drama mit blossen Augen, wird jedermann feststellen können, dass es nichts anderes als rassistisch ist, einen Menschen, der in der Schweiz geboren und sozialisiert ist, als Angehöriger zweiter oder gar dritter Generation von Ausländern zu nennen.
Wenn sich ein in der Stadt Zürich geborenes Kind eines Migranten aus Sizilien als Italiener bezeichnet, weil es in einem italienischen Haushalt aufgewachsen ist, enge Beziehungen zu Italien hat, aber sich zugleich ein Tessiner trotz intensiverer Beziehungen zu Italien und italienischer Kultur doch als Schweizer fühlt, stellt sich die Frage, wie das zu erklären ist? Warum fühlt sich ein Tessiner schweizerisch, aber eine Zürcherin italienisch? Die Antwort liegt genau in dieser Sprachkonstruktion: dritte Generation von ... Solche Rationalisierungen einer rassistischen Einbürgerungspolitik darf sich eine demokratische Kultur nicht erlauben.
Erdogan und die Bürgerrechte
Frau Yılmaz ist eine Schweizerin ohne Bürgerrechte. Wenn es so weitergeht, werden auch ihre Kinder Türken dritter Generation ohne Bürgerrechte bleiben. Wer das gut findet, darf sich weder Patriot, Gläubiger oder Demokrat nennen, noch sich über die Politik des türkischen Staatspräsidenten Erdogan empören.
Denn Herr Erdogan gewinnt die Wahlen auch dank der Mehrheit der Stimmen aus dem Ausland. Dabei erinnert er die türkischstämmigen Wählerinnen und Wähler daran, dass Sie nur deswegen schlecht behandelt würden, weil sie Türken sind. Ohne eine moralische Voreingenommenheit könnte jeder Mensch ihn daran erinnern, dass in seinem Land Menschenrechte und Demokratie aufgehoben sind.
Patrioten, wahre Gläubige und Demokraten
Ein Patriot – per Definition eine Person, die gemäss der demokratisch abgestimmten Verfassung ihres Landes handelt – wird einsehen, dass die Verweigerung der Partizipationsrechte aufgrund von Rasse, Geschlecht, Religion oder dem Bildungsstatus der schweizerischen Verfassung widerspricht.
Ein echter religiöser Gläubiger wiederum behandelt alle Menschen als Geschöpfe Gottes. Ein wahrer Gläubiger behandelt Menschen als Menschen, weil sie Menschen sind und nicht weil ihre beiden Elternteile Schweizer sind. Schliesslich verbietet eine demokratische Gesinnung jegliche Handlungen, die eine Zugehörigkeit an kulturelle Gleichgestimmtheit anknüpft. Die demokratisch-rechtstaatlichen Rechte und Pflichten dürfen weder die Privatsphäre mit der öffentlichen verwischen, noch ihre Gewährung von Faktoren wie Kultur und Sozialstatus abhängig gemacht werden.
Die Evolution der Bürgerrechte
Als Theodor Körner im Jahr 1812 sein Trauerspiel Zriny veröffentlichte, existierten die Nationalstaaten, so auch Österreich, Ungarn und die Türkei, noch nicht. Und unter Bürgerrechten wurden die Rechte der wohlhabenden Männer verstanden. Rückblickend ist das Drama Zriny deswegen ein Meilenstein auf dem Weg zur Legitimierung des Nationalstaats, weil darin die Verteidigung des Landes auf der Grundlage gemeinsamer Werte und nicht mehr des Kapitals oder des Sozialstatus als Voraussetzung zur Partizipation generalisiert wurde.
Heute stehen wir vor einer ähnlichen Herausforderung. Bürgerrechte sind heute nur dann legitim, wenn sie die Ideen und Interessen von allen möglicherweise Betroffenen aufnehmen, und nicht nur von denen, die den Pass eines Nationalstaates haben.
Aus der Geschichte können wir lernen, wenn wir aus ihr abgeleitete Werturteile an der aktuellen Realität messen. Eine Verweigerung der Bürgerrechte wegen angeborenen (wie Geschlecht) oder zugeschriebenen (wie Nationalität) Eigenschaften ist schlicht und einfach falsch. Eine Schweizerin ist nicht deswegen eine Schweizerin, weil sie Schweizerin ist. Diese Tautologie macht keinen Sinn. Eine Schweizerin ist nur deswegen eine Schweizerin, weil sie gemäss der demokratischen Verfassung ihre Bürgerrechte hat. Mehr ist nicht zwingend.
*Ali Demir ist in in der Türkei geboren und aufgewachsen. Er ist 1996 aufgrund eines Asylantrages in die Schweiz gekommen. Er hat seine Dissertation an der Universtität Zürich am Lehrstuhl für Politische Philosophie geschrieben. Sie ist im Lit-Verlag unter dem folgenden Titel erschienen: Die Moderne. Von Muhammad zu Atatürk: Eine Analyse des türkischen Pfades in die Moderne anhand der Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas, Wien 2016. Demir ist heute Doppelbürger der Schweiz und der Türkei. Er lebt in Zürich und ist Vater eines Buben.