„Das europäische Denken unterhält einen sehr viel lebhafteren Dialog mit dem antiken Denken als das neugriechische“, lautet die Kernaussage des Essays. Von der Kraft des europäischen Denkens seien die Griechen abgeschnitten. Kostas Axelos vergleicht das moderne europäische Denken mit einem Baum, von dem die Griechen nur noch die Früchte empfangen, „die andernorts angebaut wurden“. Griechenland fehle die „Gesamtheit“ des Baums: „Wurzeln, Stamm und Äste“.
Ohne Logik, ohne Vernunft
Weil es dem zeitgenössischen griechischen Denken an Konsistenz und Kraft mangle, könne es auch nicht motivieren. Zu wahrer Anstrengung seien die Griechen nicht fähig. Anstrengung sei bei ihnen nur Verkrampfung, entsprechend seien sie bloss „Grimassenschneider“. Überhaupt neigten die Griechen aus Mangel an methodischem Denken zum vagen Psychologisieren. „Die Neugriechen verlieren sich zu oft im Labyrinth des Psychischen und Zwischenmenschlichen.“
Die Griechen, so der Autor, könnten zwar überlegen, aber nicht denken. Denn zum Denken gehöre eine Methode, die wiederum in der Philosophie und Metaphysik wurzle und deren „Rhythmus dialektisch sei. Die Neugriechen hingegen überlegen, denken aber nicht, reden viel und haben keine ausgebildete Sprache, fragen und antworten ohne jede Kontinuität. Sie gehen auf einer Strasse, ohne sich irgendwohin zu begeben.“ Denn sie hätten keine Logik, der sie folgen könnten.
Der finale Stich
Wenn ein Grieche glaube, er würde Logik verwenden, täusche er sich: „Kann er seine eigene Logik bis zum Ende treiben? Sicherlich nicht, denn er verfügt nicht über Logik, weder formelle noch dialektische; er wird nur durch psychologische Vorstellungen bewegt, die sich im Auskosten des täglichen Lebens erschöpfen und lediglich die Lenden der Liebhaber betreffen.“
Den Griechen fehlt also jede Grösse – auch denjenigen Landsleuten, die in der Fremde ein neues Leben angefangen haben. Das liege daran, dass die im Ausland ansässigen Griechen sich stets als Händler etabliert, also nur einen Händlergeist entwickelt hätten. Daher gebe es auch keine überragenden Gestalten, die die Welt bewegt hätten.
Blauer Himmel ohne Horizont
Ist das ein blosses Ressentiment des Autors? Auf diese Frage antwortet Kostas Axelos: „Vergleichen wir sie mit den Juden.“ Und dann kommt das Argument, das wie der finale Stich eines Toreros wirkt: Die Juden, die über Jahrhunderte in der Diaspora gelebt haben, brachten weltbewegende Persönlichkeiten hervor – in der Kunst, der Wissenschaft und der Politik. Ausser einigen Dichtern habe Griechenland da nichts zu bieten.
Und wie geht es dabei den jungen Leuten? Den typischen griechischen jungen Mann charakterisiert Kostas Axelos so: „Da er seinen Weg nicht findet, verrennt er sich, richtet seinen Blick voller Hoffnung (und Verzweiflung) auf die Gipfel ausländischer Gebirge und trifft nirgendwo einen Führer. Sein eigener Boden, den er so liebt, schwankt unter seinen Füssen. Sein Himmel ist blau, aber er vermag den Horizont nicht zu erblicken.“
Am Ende seines Essays merkt der Autor selbstkritisch an: „Es ist mehr als wahrscheinlich, dass wir uns auf den gewundenen Pfaden der sozialen Realität und des politischen Lebens der Neugriechen im Irrgarten ihrer individuellen und sozialen Psychologie verirrt haben.“
In der einen Hand die Waffe, in der anderen Rilke
„Europas Kulturzeitschrift Lettre International“ hat diesen Essay in der neuesten Ausgabe von diesem Herbst publiziert. Ohne Übertreibung darf man sagen, dass dieser Text an diesem Ort verblüfft. Und er ist nicht etwa unter dem Eindruck der gegenwärtigen griechischen Misere entstanden, sondern er stammt aus dem Jahr 1954.
Der Verfasser ist heute nahezu vergessen, aber nach dem Krieg gehörte er zu den führenden Intellektuellen oder, wie Lettre International schreibt, „prägenden Denkern“ Frankreichs. Seine Jugend hat Kostas Axelios in Athen verbracht und schon in der Kindheit Deutsch und Französisch gelernt. Während des Krieges schloss er sich dem Widerstand an und war Mitglied der kommunistischen Partei Griechenlands, der KPG. Schon damals gelangen ihm unnachahmliche Formulierungen: „Ein wahrer Kommunist muss in der einen Hand die Waffe, in der anderen Gedichte von Rilke halten.“ Seine Genossen teilten diese Meinung durchaus nicht.
Marx und Heraklit
1945 wurde Axelos aus der KPG ausgeschlossen und konnte nur dank seiner Kontakte zum Institut français nach Frankreich emigrieren. Kaum hatte er Athen verlassen, wurde er dort von einem Sondergericht in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Erst 1956 wurde dieses Urteil aufgehoben.
In Paris studierte Kostas Axelos Philosophie und besuchte in Basel Seminare bei Karl Jaspers. Während er am Centre national de la recherche scientifique arbeitete, verfasste er zwei Doktorarbeiten, eine über Marx, die 1961 erschien, und schon im folgenden Jahr publizierte er seine Dissertation über Heraklit.
Lukàcs und Heidegger
Seine Lehrtätigkeit an der Sorbonne gab Axelos auf, um sich ganz seiner Arbeit als Autor und Herausgeber zu widmen. Er war Chefredakteur der Zeitschrift Arguments und Herausgeber der Buchreihe Éditions de Minuit. Er übersetzte „Geschichte und Klassenbewusstsein“ von Georg Lukács und Martin Heideggers „Was ist das – die Philosophie“ ins Französische. Beides zeigt seine Toleranz: Vom Kommunismus hatte Axelos sich längst losgesagt, und Heidegger, den er in dessen Hütte in Todtnauberg besucht hatte, hielt er für einen Kleinbürger. Aber als Heidegger zu einem Treffen mit führenden Intellektuellen 1955 nach Paris kam, war Axelos als Dolmetscher dabei.
Der Griechenland-Essay erschien 1954 in der Zeitschrift Esprit unter dem Titel: „Le destin de la Grèce moderne“. Erst jetzt wurde er ins Deutsche übersetzt. Allerdings waren die Griechen auch nicht übermässig schnell. Es dauerte 24 Jahre, bis der Beitrag in der Zeitschrift Epopteía veröffentlicht wurde. Aber erst 2010, als der Text neu übersetzt im Verlag Nefei erschien, fand er rege Beachtung. Man kann sich vorstellen, warum. Der Autor hat das allerdings nicht mehr erlebt. Im Februar 2010 starb er in Paris im Alter von 86 Jahren.