Der Bauer säuft das letzte Geld weg. Sein Sohn stürzt sich auf die junge Lehrerin und vergewaltigt ein 15jähriges Verdingmädchen. Der Bauer hasst seinen Sohn, der Sohn hasst seinen Vater. Und die Mutter hasst alle - und die Grossmutter liegt im Sterben. In diese Bauernfamilie im Kanton Bern kommen Max und Berteli, zwei Verdingkinder. Die Familie lebt in einem grossen Bauernhaus mit einigen Kühen.
„Natürlich wurden die Kinder nicht zu reichen Bauern gebracht, sondern zu den armen, die keine Zeit für sie hatten“, sagt Peter Reichenbach, der Produzent des Films, in einem Gespräch mit Journal 21. „Die Bauern brauchten das Kostgeld, um selbst überleben zu können“. Verdingkinder gab es bis vor gut 50 Jahren.
Tägliche Prügel
Der Kanton Bern mit seiner ausgiebigen Landwirtschaft war der Kanton mit den meisten Verdingkindern. Viele von ihnen haben sich umgebracht. Über Verdingkinder ist schon viel geschrieben worden. Vor allem der Beobachter hat das Verdienst, das Thema früh an die Öffentlichkeit gebracht zu haben. Jetzt wurde erstmals ein Spielfilm dazu gedreht – ein Film, der erschüttert und unter die Haut geht.
Max arbeitet im Stall, pflügt den Steilhang, gräbt Kartoffeln aus. Und wird immer wieder geohrfeigt und mit Prügeln geschlagen. Jeden Morgen muss er um halb vier aufstehen. Max ist ein Waisenkind, wurde zunächst in ein Waisenhaus gesteckt und kam dann hierher.
Bertelis Vater ist gestorben. Die Mutter ist verarmt und verzweifelt. Die Behörden nahmen ihr die Tochter weg und sagten, sie brauche ein Dach über dem Kopf. Die Mutter kann sich nicht wehren. Hier auf dem Hof besorgt Berteli die Wäsche, putzt und putzt und pflegt die sterbende Grossmutter. Die Bäuerin, eine nicht unattraktive verhärmte Frau zwischen Verzweiflung, Überforderung und Hass, zwingt Berteli laut zu sagen: „Bösiger ist ein Vieh“. Bösiger ist der Mann der Bäuerin.
Der heuchlerische Pfarrer
„Mein Vater war Hauptmann im Aktivdienst“, erzählt uns Produzent Reichenbach. „Immer wieder erzählte er von seinem Offiziersputz, der ein Verdingkind war. Aber eigentlich wusste ich, Jahrgang 1954, nicht richtig, was ein Verdingbub ist“. Zur Beerdigung von Reichenbachs Vater kam auch der frühere Offiziersputz und erzählte seine Lebensgeschichte. „Da begann ich mich ins Thema zu vertiefen. Ich erfuhr auch, dass einer meiner früheren Klassenkameraden zwei Jahre lang verdingt war“. Auch dieser erzählte Reichenbach seine schreckliche Lebensgeschichte. „Ich war perplex, dass es keinen Spielfilm über Verdingkinder gab.“
Zu Beginn des Films tritt im Dorf eine junge Lehrerin ihre Stelle an. Sie will den beiden Verdingkindern helfen. Sie sieht die Striemen auf dem Rücken von Max, sie sieht, dass er in der Schule immer einschläft. Doch sie blitzt beim heuchlerischen Pfarrer und beim ebenso heuchlerischen Gemeindepräsidenten ab.
Max kann wunderbar Schweizerörgeli spielen. Das gibt ihm Halt. Am Dorffest darf er aufspielen. In der Festwirtschaft zieht die Bäuerin ein Stück Brot hervor und bestellt zwei Gläser Hahnenwasser. Sie hat kein Geld, bei der Serviertochter etwas zu bestellen.
“Basierend auf 100‘000 wahren Geschichten“
Mit seiner Idee, einen Film über Verdingkinder zu drehen, stiess Reichenbach zunächst auf taube Ohren. „Das ist doch so traurig“, sagte man mir, „niemand will einen solchen Film.“ Schliesslich klappte es doch. „Wir haben als Vorlage wahre Schicksale genommen, Figuren zusammengelegt, von der einen Figur dies und von der andern das genommen“. Der Untertitel des Films heisst: „Basierend auf 100‘000 wahren Geschichten“. Der Film wurde vor kurzem einem früheren Verdingkind vorgespielt. Reaktion: „Genau so war es“.
Max besitzt neben seinem Schweizerörgeli einen Hasen, den er hegt und pflegt. An einem Sonntag sitzt die Familie um den Tisch und isst. Plötzlich entdeckt Max, dass man ihm seinen Hasen zum Essen vorgesetzt hat. Er muss erbrechen, geht aus Wut Holz hacken, hackt sich ins Bein. Der Bauer fragt den Arzt: „Was kostet das Nähen?“.
Die Lehrerin schreit und wehrt sich
Regisseur des Films ist Markus Imboden, einer der ganz Grossen. „Imboden sagte mir“, erzählt Reichenbach, „dasss auch sein Vater ein Verdingbub gewesen sei. Da wusste ich, Imboden ist der richtige Regisseur für diesen Film“.
An einem Volksfest fällt der Jungbauer über die junge Lehrerin her. Diese schreit und wehrt sich. Max sieht die Szene und verprügelt den Jungbauern. „Abtun sollte man dich!“ schreit die Bäuerin. Alle schauen weg. Als Strafe verbrennt der Jungbauer alles, was Max hat und liebt: sein Schweizerörgeli.
Reichenbach weiss, dass er eine Verpflichtung mit einem solchen Film hat. „Ich sagte immer allen Beteiligten, wenn wir einen solchen Film drehen, haben wir eine ganz andere Verantwortung, als wenn wir einen Roman verfilmen oder einen Krimi realisieren. Da gibt es Menschen, die das alles erlebt haben. Wenn wir das falsch machen, bestrafen wir diese Menschen gerade nochmals“.
Die junge Lehrerin sieht, dass Max vor Müdigkeit fast umfällt. Sie holt ihn in ihre Wohnung und spricht über sein Schicksal. Im Radio läuft ein argentinischer Tango und Max beschliesst, nach Argentinien auszuwandern.
Wer füttert dann die Säue
Gedreht wurde der Film im Emmentaler Dorf Trub. „Wir drehten acht Wochen, die Unterstützung der Bevölkerung war grandios. Wir fanden einen Bauernhof, der frei stand, ein altes Schulhaus. Die Bauern halfen uns und stellten uns die Kühe zur Verfügung.“ Am Anfang war die Bevölkerung skeptisch, doch es gelang den Filmleuten, den Einwohnern klar zu machen, dass es um Fiktion und nicht um Trub geht. „Auch in Trub bekamen wir viele Feedbacks. Viele kamen zu uns und sagten: Auch ich war in der Schule mit einem Verdingkind“.
Max, ein ehrlicher roher Bursche, ist zunächst eifersüchtig auf Berteli, die ihm eigentlich überlegen ist. Doch die beiden kommen sich näher und wollen gemeinsam fliehen. Zusammen wollen sie in Argentinien einen Bauernhof betreiben. Mit einem Schweizerörgeli will er dort Geld verdienen. „In Argentinien gibt es keine Verdingkinder“, sagt Max, „dort sind alle gleich“. „Und wer füttert dann die Säue?“, fragt Berteli. „Dort gibt es keine Säue“, sagt Max.
Vergewaltigt und verblutet
Plötzlich sagt Berteli, sie wolle nicht mehr allein schlafen, sie habe Angst. Kurz darauf sieht Max, wie Berteli vom Jungbauern vergewaltigt wird. Max eilt zur Lehrerin, doch dieser ist gekündigt worden, weil sie die Zustände auf dem Hof bei den Behörden angeprangert hat.
Die Bäuerin erfährt von der Vergewaltigung. Irgendjemand nimmt eine Abtreibung vor. Berteli verblutet.
Der Störmetzger des Dorfes hat Erbarmen mit Max und gibt ihm zwanzig Franken. Damit schlägt er sich via Basel nach Rotterdam durch und sieht das Meer. In Gedanken schreibt er der toten Berteli Briefe, sie die jetzt bei ihrem toten Vater und dem toten Hasen sei. Das Meer sei so gross. Auch an Bord dieses Schiffes müsse er hart arbeiten, aber alle würden das gleiche essen wie der Kapitän.
Kollektives Wegschauen
Der Film, der am 3. November in die Deutschschweizer Kinos gelangt, ist mehr als ein Film. Er hat das Verdienst, in nicht reisserischer Form ein Thema in die Öffentlichkeit zu zerren, das man heute verdrängt. An Vergangenheitsbewältigung gäbe es da noch viel zu tun: Kollektives Wegschauen. Was geschah mit den Behörden, die beide Augen zudrückten? Was geschah mit dem schleimigen Pfarrer, der nie auf Seiten der Schwachen stand? Was geschah mit der Lehrerin, die als Einzige Partei für die Gequälten ergriff und deshalb entlassen wurde?
Der alte Mann mit den klumpigen Schuhen
„Wir möchten natürlich, dass der Film nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem Land gezeigt wird“, sagt Reichenbach, „dort leben noch viele frühere Verdingkinder“. Ziel ist auch, dass „Der Verdingbub“ in Schulen und im Religionsunterricht vorgeführt wird.
Dass der Film Emotionen auslöst, liegt auch an den hervorragenden schauspielerischen Leistungen. Vor allem auch jener der beiden jungen Schauspieler Max Hubacher als Max und Lisa Brand als Berteli. „Der Verdingbub“ ist sicher einer der wichtigsten und vielleicht auch besten Schweizer Filme der letzten Jahre. Er ist Berndeutsch gesprochen, für Deutschland gibt es eine deutsche Synchronversion.
In der letzten Szene sieht man einen alten, gut angezogenen Mann. Irgendwo in Argentinien spielt er auf einem Schweizerörgeli einen Tango. Er spielt in einem vollen Konzertsaal. Die Kamera schwenkt auf seine Füsse. Der alte Mann trägt klumpige Schuhe. So wie man sie auf Berner Bauernhöfen trägt.