Ich höre Sie sagen, Physik sei zu schwierig; sie hätten keine Zeit, sich damit herumzuschlagen. Schade. Ein bisschen Gehirngymnastik fördert das allgemeine Wohlbefinden. Die Physik im Besondern bietet als Zugabe überraschende Informationen. Zum Beispiel erfährt man aus Michael Brooks populärwissenschaftlichem Buch über Physik (Heidelberg, 2011) Folgendes über die Größe eines Atoms: Wenn man sich den Atomkern so groß wie einen kleinen Apfel vorstellt, dann hätte das Atom bis zur Umlaufbahn des äußersten Elektrons einen Durchmesser von – Halt! wie viele Meter schätzen Sie: 0,5 oder 2 oder 10 oder 20? – Alles falsch: Drei Kilometer. Kilometer! Wohlverstanden: wenn man sich den Atomkern in der Größe eines kleinen Apfels denkt. Wenn man sich das überlegt, gelangt man zum Schluss, dass der Mensch – Sie, ich, wir alle – zur Hauptsache aus Leere besteht. Dass diese Leere auch im Hirn ist, mag nachdenklich stimmen.
Was nach aller Logik nicht möglich sein sollte
Als Sie auf der Schulbank saßen und der Physiklehrer Ihnen sagte, dass das Licht, und zwar jedes einzelne Elektron, sowohl Teilchen wie Welle sein könne, war das für Sie wahrscheinlich dermaßen verwirrend, vielleicht sogar beunruhigend, dass Sie es bestimmt nicht vergessen haben.
Bewiesen wird dieser Sachverhalt unter anderem mit dem Doppelspaltexperiment: Sie bringen in eine dünne Platte oder Folie zwei winzige neben- oder übereinander liegende Öffnungen an, stellen die Platte senkrecht auf und dahinter eine elektronenempfindliche Platte, ähnlich einer lichtempfindlichen in der Fotografie. Dann schießen Sie aus einer Elektronenkanone ein Teilchen nach dem andern in Richtung der beiden Öffnungen. Nach menschlicher Logik müssten die Teilchen mal durch die eine, mal durch die andere Öffnung gehen, so dass auf der elektronenempfindlichen Platte zwei getrennte Einschlagbündel entstehen. Genau das geschieht aber nicht.
Auf der Platte entstehen nicht zwei getrennte Einschlagbündel, sondern ein Wellen-Interferenzmuster, so, wie wenn man zwei Steine in ruhiges Wasser wirft. Das bedeutet, dass jedes einzelne Teilchen sich in eine Welle verwandelt und als solche gleichzeitig durch beide Öffnungen hindurch geht – also im Grunde genommen gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten ist, was nach aller Logik nicht möglich sein sollte.
"Wenn ich Ihnen das sagen könnte..."
Da stellt sich dann die Frage: Weshalb und wie entscheidet das Teilchen, sich in eine Welle zu verwandeln? Tut das Teilchen dies dem Experimentator zu Gefallen, um ihm auf dem Weg seines Forschens und Berechnens weiterzuhelfen? Oder geschieht es auf Grund der Anordnung des Experiments? Dass bei jedem Experiment der von uns dafür konstruierte Apparat selber integraler Bestandteil des betreffenden Experiments ist und dessen Ergebnis beeinflusst, ist seit langem ein akzeptierter Sachverhalt, den der Wissenschaftler sowohl bei der Anordnung eines Experiments als auch bei der Auswertung seiner Ergebnisse berücksichtigt.
Sofort stellt sich die weitere Frage: Sind die physikalischen und chemischen Gesetze, die wir auf Grund von Experimenten und Rechnungen ermitteln, tatsächlich als solche in der Natur feststehend vorhanden, lesen wir sie also aus der Natur heraus, oder projizieren wir unsere Überlegungen und Berechnungen sowie die Ergebnisse der von uns ausgetüftelten und angeordneten Experimente in die Natur hinein? Im zweiten Fall könnten auch andere, auf anderem Weg ermittelte Gesetze gültig sein. Ich stellte die Frage einem Gelehrten der theoretischen Physik. Er antwortete: „Wenn ich Ihnen das sagen könnte, hätte ich mehr als den Nobelpreis verdient.“
Kartenhäuser
Beim Streit Goethes gegen Newton um die Farbenlehre ging es im Grunde um genau diese Frage. Goethe verabscheute mathematische Formeln. Seiner Meinung nach verwandeln sie „das Lebendige in ein Totes“. Er glaubte, die Natur anstatt mit der Mathematik mit „anschauendem Denken“ erklären zu können – ein durchaus legitimes Unterfangen, das jedoch, im Gegensatz zur Methode Newtons, nicht weiterführt. Die Frage drängt sich auf, wie „weit“ man denn eigentlich gehen will? Anders als für den Wissenschaftler, dessen Forschungsweg kein Ende kennt, mag für den Künstler ein durch anschauendes Denken gewonnenes Naturverständnis befriedigender sein.
Physik und Chemie sagen uns bis zu einem gewissen Grad etwas darüber, wie wir Menschen, die Erde, das Universum beschaffen sind und wie das alles ungefähr tickt. Wie es tickt! nicht warum es tickt. Auch nicht, weshalb überhaupt etwas tickt, weshalb es überhaupt etwas gibt, nicht bloß eine unendliche Leere. Darüber wird vermutlich auch das als Gottespartikel bezeichnete Higgs Teilchen, sofern man es tatsächlich findet, keinen endgültigen Aufschluss bringen. Den Antworten auf diese Fragen werden sich eher die Naturwissenschaftler annähern als die Philosophen, die sich zwar einiges auf ihr vermeintliches Wissen zugute halten, aber in den meisten Fällen mit immer neu ertüftelten Begriffsbildungen lauter Kartenhäuser errichten.