„Beating Retreat“: Der Kampfabbruch am Abend einer Schlacht, Rückkehr ins Lager, Pflege der Verwundeten, Begraben der Toten. Es ist die Zeit des Last Salute, gleichzeitig mit dem Trooping the Colours, dem Senken der Regiment-Standarten vor den Toten.
Das britische Empire hat diese Mythologisierung des Sterbens auch in ihrem indischen Kronjuwel gepflegt. Es sind inzwischen 73 Jahre her, seit sie dieses koloniale Kampffeld geräumt und den endgültigen Retreat geblasen hat.
Doch mit ihrer lokal ausgehobenen Armee hat es auch die Todesriten zurückgelassen. Jedes Jahr am 29. Januar – drei Tage nach dem Tag der Republik – erscheinen Formationen von Armee, Marine und Luftwaffe über der Horizontlinie des Raisina Hill, die Kuppel des Präsidentenpalastes im Rücken, beide ins Licht der untergehenden Sonne getaucht.
„Abide with me“
Sie sind nur mit Musikinstrumenten bewaffnet: drei Korps mit nahezu fümfhundert Mann, zusammengestellt aus zwölf Kapellen und fünfzehn Formationen der Trommler & Dudelsackbläser. Sie erweisen dem Präsidenten der Republik die Ehre, der auf dem „Siegesplatz“ am Hügelfuss diese musikalische Parade abnimmt.
Doch zuvor gehen sie dort in Stellung und sind – still. Von einem Turm des South Block ertönt in einem Trompetensolo die wehmütige Melodie der Hymne „Abide with me“. Sie wird von einem Glockenspiel im Nordturm aufgenommen, dann von jeder der grossen Spiel-Formationen, bis alle drei Massed Bands sie aufnehmen und mit einem Crescendo zum Abschluss bringen:
Abide with me; fast falls the eventide;
The darkness deepens; Lord with me abide.
….
Change and decay in all around I see;
O Thou who changest not, abide with me.
Die jährliche Zeremonie ist so populär, dass sie an drei Tagen wiederholt wird, die ersten zwei als Hauptprobe, wenn der Sitz des Präsidenten vom Haupt-Dirigenten eingenommen wird. Rund um den Vijay Chowk stehen grosse Holztribünen, und es kann schwierig werden, für einen der mehreren tausend Sitze ein Ticket zu ergattern.
Koloniale Relikt
Diese kleine Mühsal soll in Zukunft behoben werden: Die ganze Zeremonie mit dem Evensong wird abgeschafft, und niemand weiss, wie sie in Zukunft aussieht. Klar ist nur, dass das christliche Lied, schlimmer noch: dieses koloniale Relikt im Zeitalter von Hindutva keinen Platz mehr hat. Vermutlich wird eine Marsch-Vertonung von Vande Mataram an dessen Stelle treten.
Anstelle des christlichen Gotts wird dort der Mutter salutiert – „Mutter Indien“. Es ist ein populäres, und umstrittenes, Lied, da es das Symbol der Nation quasi an die Stelle Gottes setzt. Für den polytheistischen Hindu ist dies kein Problem, wohl aber für die Gottesvorstellungen der Minderheiten.
Die Abschaffung der Beating Retreat-Zeremonie ist nur eine kleine Randnotiz angesichts der Umwälzungen, die für die imperiale Architektur entlang der Paradestrasse geplant wird. Diese ist Teil von Lutjens’ Delhi, dem zentralen Teil von Neu-Delhi, den die englischen Architekten Lutjens und Baker in den Zwanziger und Dreissiger Jahren geschaffen hatten. Sie sollte die unumstössliche Herrschaft Grossbritanniens über Indien zementieren, gerade noch rechtzeitig, bevor sich diese, auf immer, verabschiedete.
Symbolik
„Lutjens Delhi“ ist im Indien von Narendra Modi zu einem auf die liberale Elite gemünztes Schimpfwort geworden. Diese hatte kein Problem damit gehabt, sich die Symbole des kolonialen Unterdrückers anzueignen und umzudeuten. Hatte nicht Edwin Lutjens zahlreiche indische architektonische Formelemente in die Fassaden der Regierungspaläste eingebaut? Hatte nicht Herbert Baker die Umgebung des Rajpath mit Bungalows übersät, deren Name allein schon die bengalische Herkunft verrät?
Auch die neue Hindutva-Elite, die sich in diesen Bungalows und Palästen nun einquartiert, ist durchaus empfänglich für den imperialen Staatsgedanken. Der Premierminister, der ein feines Gespür für sprachliche Giftpfeile hat, wählt daher lieber den kleinen (und inzwischen sündhaft teuren) Zentralmarkt mitten in Lutjens Delhi als Zielscheibe. Denn er heisst zufällig Khan Market, womit eine nahe Beziehung zwischen den „Libtards“ (Liberals = „Retards“) und dem Feindbild des Muslims suggeriert wird.
Wie empfänglich Herr Modi für die Symbolik des allgegenwärtigen Staats ist, zeigen die Pläne, mit denen in den nächsten vier Jahren die ganze „Königsstrasse“ umgepflügt werden soll. Während die früheren Maharadscha-Paläste rund um das India Gate am unteren Ende unberührt bleiben – die meisten sind heute staatliche Repräsentationsbauten – steht der grosse Rest zur Disposition.
Zentralisierung der poliitischen Macht
Die Sekretariate wichtiger Ministerien – Amt des Premierministers, Äusseres und Inneres, Verteidigung –, welche den Zugang zum Präsidentenpalast flankieren, sollen zu Museen umfunktioniert werden. Das bisherige Nationalmuseum und Nationarchiv werden ausgehöhlt. An ihre Stelle, ebenso wie jener der bestehenden Ministerien werden grosse quadratische Würfel hingesetzt. Es is allerdings anzuerkennen, dass mehrere dieser Büroklotze den Abbriss verdienen.
Das grosse Oval des Parlamentsgebäudes wird als Annex an ein gigantisches New Parliament House angehängt. Ihm gegenüber kommt ein stattliches Premierministeramt zu stehen. Dessen geplante Grösse nimmt bereits die sich abzeichnende Zentralisierung der politischen Macht im „Prime Minister’s Office“ (PMO) vorweg.
Es war auch die Enge des aufgeblähten PMO in einigen alten Bungalows gewesen, die den Premierminister nach seinem Wahltriumph so rasch handeln liess. Kaum stand Mitte letzten Jahres die neue Regierung, kam es zu einer Ausschreibung für das Riesenprojekt.
Modis Architekturfirma
Die Eingabefrist war so kurz bemessen, dass nur ein halbes Dutzend Architekturfirmen Bewerbungen einreichten, einige von ihnen angeblich lediglich pro forma und auf politischen Druck. Es fanden keine öffentlichen Anhörungen statt, keine Fachkommission erarbeitete ein urbanistisches Gesamtkonzept. Die Jury blieb bis zum Ende namenlos, und ebenso unbekannt blieben die Richtlinien, nach denen sie urteilte.
Niemand wunderte sich, als innert kürzester Frist der Name der siegreichen Bewerbung feststand. Es war die Firma HCP Design aus Ahmedabad, die obenaus schwang. Ihr Chef-Architekt Bimal Patel mochte dem breiten Publikum unbekannt sein – nicht aber dem Premierminister, für den HCP bereits mehrfach tätig geworden ist.
Schon als Chefminister von Gujerat hatte Modi Patel beauftragt, die Promenade entlang des Sabermati-Flusses in Ahmedabad zu „verschönern“. Er baute die neue Parteizentrale der BJP. Patel soll zudem an zwei weiteren spektakulären Grossprojekten arbeiten, dem drakonischen Eingriff ins historische Zentrum von Varanasi (dem Wahlbezirk von Modi), sowie der gigantischen Neukonzeption des alten Hafenquartiers von Mumbai.
Koloniales Gespenst
Man könnte von einem politischen Zangenangriff sprechen. Auf der einen Seite will der neue starke Staat seine maskulinen städtebaulichen Muskeln spielen lassen. Gleichzeitig sollen auch die Rituale, die er darin inszeniert, das koloniale Gespenst endgültig verbannen und eine hinduistisch gefärbte nationale Mutter als ‘Soft Power’-Symbol an dessen Stelle setzen.
Die Säuberung ereilt nicht nur das christliche Abide with me. Auch Sare Jahan Se Achcha muss wohl daran glauben. Das Lied, von Ravi Shankar vertont, ist so populär, dass es so etwas wie die inoffizielle Nationalhymne Indiens geworden ist. Es ist dessen Rhythmisierung als Marschmusik, nach der das geballte Musikkorps am 29. Januar den Raisina-Hügel heruntermarschiert, bevor es im Rund der Siegesplatzes das Kirchenlied summt.
Das Lied beginnt mit dem stolzen Bekenntnis: „Bessser als die ganze Welt ist unser Hindustan“, und es schildert dessen natürlichen Schönheiten. Gegen Ende allerdings sagt es: „Die Religion lehrt uns, ohne Zwietracht untereinander zu leben/Wir alle sind Hind, unsere Heimat ist Hindustan“.
„Wir haben keine Vertrauensleute“
Dies Alles liesse sich noch kommod in der neuen Ideologie einer Hind(u)-Nation unterbringen – wenn da nicht der Autor des Gedichts wäre: Es ist Mohammed Iqbal, der grosse Dichter aus Lahore in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er hatte es 1904 verfasst, noch bevor er zum Propheten der Idee Pakistans, und später zu dessen Nationaldichter erkoren wurde.
Vielleicht hatte der Dicher bereits damals Komplikationen vorausgesehen. Das Lied endet mit einem Aufruf an sich selber: „Iqbal! Wir haben keine Vertrauensleute in unserer Welt/Wer kennt schon unsere verborgenes Leid?“.