Im Pekinger Stadtbezirk Chaoyang, mehrfach so gross wie Downtown Zurich, sind über Nacht 72 Zeitungskioske spurlos verschwunden. Einige Kioskbetreiber haben, wie in China üblich, kurz vorher eine schriftliche Mitteilung erhalten. Andere wurden überrascht.
Um die offizielle chinesische Welt zu verstehen, wollte ich wie jeden Tag die Parteizeitung «Renmin Ribao» (Volkszeitung) druckfrisch am Kiosk erstehen. Als gewissenhafter Journalist will man ja möglichst schon früh am Morgen wissen, woher der politische Wind weht. Doch an jenem Tag in der Nähe der Jianguomen-Brücke suchte ich vergeblich nach Xiao Wang, der dort seit über zehn Jahren mit seiner Frau einen Zeitungs- und Zeitschriftenstand betreibt. Ganz legal, mit sämtlichen Bewilligungen und den unvermeidlichen roten Stempeln der Stadt-, Bezirks-, Quartier- und Steuerbehörde eingeschlossen.
Genosse Acheteng
Dort, wo noch Tags zuvor der Kiosk stand, gähnende Leere. Natürlich war es ein leichtes, wenige hundert Meter davon entfernt bei einem andern Zeitungsstand «Renmin Ribao», das Sprachrohr der allmächtigen Partei zu erstehen. Darum aber ging es nicht. Beim Zeitungskauf nämlich ergab sich vielmehr immer ein kurzes Gespräch mit dem Kioskbetreiber über den Lauf der Dinge in China und auf der Welt im allgemeinen und des oft extremen Pekinger Wetters im besonderen. Xiao Wang und dessen Frau standen Sommers wie Winters, also bei Eiseskälte und brütender Hitze, im Kiosk. Von früh morgens bis spät am Abend. Also keine 40-Stunden-Woche. Nach all den Jahren hatte ich mit den Wangs schon fast ein ironisches Verhältnis. Ich nannte ihn Genosse Wang, er nannte mich Genosse Acheteng. All das hatte nun wegen der übereifrigen Stadtbehörden ein abruptes Ende.
Schon zuvor sagte Genosse Wang nicht selten, dass der digitalen Revolution wegen immer weniger traditionelle Papier-Zeitungen und Zeitschriften gekauft werden und dass es immer schwieriger sei, mit dem vor noch zehn Jahren gut laufenden Geschäft ein einigermassen anständiges Einkommen zu erzielen. Genosse Wang versuchte wie andere Kioskbesitzer mit dem Verkauf von Getränken, kleinen Snacks und von Glace den wachsenden Ausfall einigermassen zu kompensieren. Und das war, so die Behörden, illegal.
Unverhältnismässige Aktion der Behörden
Die nächtliche Aufräumaktion mit Bulldozern und Hebekranen wurde von den Bürokraten des Stadtbezirks Chaoyang mit Verkehrssicherheit und Sauberkeit begründet. Das Volk müsse frei und ungehindert zirkulieren können. Auch der tägliche Abfall sei ein Problem geworden. Angesichts des Dichtestresses der geplagten Pekinger Massen tönt das gut. Zu gut. Das Volk nämlich fand die Aktion der von der Nachbarschaftspolizei Chengguan überwachten Aktion übertrieben, unverhältnismässig und arrogant. «Chengguan», zuvor ein Wort des Respektes, mutierte innert Rekordzeit zum Schimpfwort.
Nicht nur das Volk, auch die Medien beurteilten die Aktion negativ. In einem Kommentar der regierungsamtlichen Tageszeitung «China Daily» etwa hiess es, die Begründung des städtischen Beamten sei weit hergeholt: «Kioske operieren eben naturgemäss an sehr belebten Strassen aus der selben Logik heraus wie Lagerhäuser weitab vom Zentrum am Stadtrand liegen». Gewiss, es müsse Regeln auch für Zeitungsverkaufsstände geben, das sei notwendig. aber die Vorschriften sollten das Leben des Publikums und nicht jenes der Beamten erleichtern. Auf die digitale Revolution anspielend folgert der Kommentator: «Diese Aktion im Namen der Sauberkeit könnte der letzte Sargnagel im Kleingewerbe des Zeitungsverkaufs bedeuten».
In der Tat, obwohl es in China derzeit mehr als 2‘000 Zeitungen und über 7‘000 Magazine und Zeitschriften gibt, liest etwa in der Untergrundbahn kaum jemand mehr traditionelle papierene Medien. Alle starren wie hypnotisiert in ihre Smart Phones, Tablets und E-Readers. Menschen mit Zeitungen, Zeitschriften oder – horribile dictu – gar einem richtigen Buch in der Hand werden als heillos Zurückgebliebene und Dinosaurier taxiert, desgleichen jene, die noch ganz normal miteinander reden.
Medienwettbewerb – in Grenzen
Viele westliche Bekannte sind ohnehin der Meinung, dass sich angesichts der Pressezensur die Lektüre chinesischer Publikationen eh ohnehin nicht lohnte. Weit gefehlt. In den letzten dreissig Jahren sind die chinesischen Medien dank der Wirtschaftsreform qualitativ tatsächlich besser und vielfältiger geworden. Viele Zeitungen und Zeitschriften werden nicht mehr subventioniert und müssen – mit Ausnahme der Parteizeitung und des staatlichen Rundfunks – selbsttragend sein. Das fördert den Wettbewerb. Die Titel werden, weil von Werbung abhängig, interessanter, bunter, kontroverser. Dies gilt vor allem in den Bereichen Sport, Unterhaltung oder Wirtschaft. Politik und Politiker sind selbstredend tabu. Mit andern Worten, der Kaiser darf nicht beleidigt werden.
Natürlich sind chinesischen Journalisten und Journalistinnen enge Grenzen gesetzt. Kulturell gilt nicht wie in der westlichen Pressefreiheit das Prinzip «bad news is good news», also schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten, weil interessant, spannend und folglich der Auflage oder möglichst vielen Klicks förderlich. In Asien gilt vielmehr noch immer der konfuzianische Grundsatz, «das Guter fördern, das Schlechte vernachlässigen». Dazu kommt dann ein Überbau chinesischer Prägung in der Form des Informations-Monopols und der Deutungshoheit der Kommunistischen Partei.
Das Monopol wird konkret durchgesetzt vom «Staatsamt für Presse, Publikationen, Radio, Film und Fernsehen» sowie von der zentralen KP-Abteilung für Propaganda. «Unsere Nachrichtenethik», müssen chinesische Journalisten und Journalistinnen lernen, «basiert auf dem Grundsatz ‚mit ganzem Herzen dem Volke dienen‘». In einem Journalistenleitfaden wird das etwas konkretisiert: «Die wichtigste Funktion der Medien in unserem Lande besteht darin, Auge, Ohr und Zunge der Partei und des Volkes zu sein».
Geheimnisse und Disziplin
Gerade im Juli wurden mit einer Verordnung wieder neue Zeichen gesetzt. Danach ist es verboten, Staatsgeheimnisse, Wirtschaftsgeheimnisse sowie Informationen, die nicht öffentlich gemacht worden sind, in irgendeiner Form weiterzuverbreiten. Was freilich genau ein «Staatsgeheimnis», ein «Geschäftsgeheimnis» ist oder «delikate Informationen» sind, wird nirgends genau definiert. Diese schwammigen Vorschriften beziehen sich sowoh auf die tradtionellen als auch auf die digitalen Medien. Kurz zusammengefasst: Der chinesische Staat und die KP erwarten von den Journalisten eiserne politische Disziplin.
Und dennoch, die Lektüre chinesischer Periodika ist und bleibt spannend. Noch immer gibt es investigativen Journalismus, wenn auch vor Beginn einer Recherche zu «kritischen Themen», etwa Korruption, um Erlaubnis beim Chefredaktor oder der Partei nachgesucht werden muss. Was ein «kritisches Thema» ist, wissen die mir bekannten jungen Journalisten und Journalistinnen sofort. Sie haben einen siebten Sinn dafür entwickelt. Das ist nicht etwa, wie viele der ach so kritischen Ausland-Korrespondenten zu wissen glauben, Selbstzensur. Es ist vielmehr die innovative Kunst des Möglichen.
Wo bleibt Wang?
Über «heikle» Themen habe ich mit Genosse Wang natürlich nicht diskutiert. Die Ansichten meines Freundes Ai Weiwei kannte er nicht mal vom Hörensagen. Oft hingegen habe ich mit Wang über die Vielfalt der chinesischen Presseerzeugnis gesprochen und darüber, wie er die Übersicht über Hunderte von Zeitungen und Zeitschriften an seinem Kiosk behalten kann. Die 72 nun entfernten Kioske, so die Verlautbarung der Stadtbehörden, würden an einem geeigneten, «besseren» Platz wieder aufgestellt.
Wie aber komme ich jetzt zu meiner täglichen Renmin Ribao (Volkszeitung)? Wie zu Beijing Wanbao (Pekinger Abendblatt) und vor allem wie zur geschätzten, mutigen Wochenzeitung Nanfang Zhoumo (Wochenzeitung des Südens)? Am nächsten intakten Kiosk natürlich. Aber Xiao Wang bleibt verschwunden. Unauffindbar. Auch an einem «besseren» Platz sind er und seine Frau nicht wiederaufgetaucht.
Genosse Wang wird mir fehlen.