Das Erwachen in einen Albtraum ist ein sonderbarer psychischer Prozess, aber er läuft in diesen Tagen bei vielen liberalen Indern ab. Sie hatten gehofft, mit der Parlamentswahl würden sie aus dem Albtraum von fünf Jahren Modi-Regierung erwachen. Stattdessen mündete sie in einen noch grösseren Albtraum: Das indische Volk befindet, dass es am bisherigen Kurs nichts auszusetzen hat – im Gegenteil, es heisst ihn, beinahe einmütig, willkommen.
Zugegeben, die knapp fünfzig Prozent der Stimmen, die die National Democratic Alliance mit Premierminister Modi gewonnen hat, sieht nicht nach Einmütigkeit aus. Aber es ist ein Anteil, wie er vor Jahrzehnten zum letzten Mal zustande kam, als der Kongress praktisch die einzige Partei war. Denn bei einer Majorzwahl mit 900 Millionen Wählern und mehreren tausend Parteien ist es ein überwältigendes Mandat.
Es wird noch eindrücklicher, wenn man sich vor Augen hält, dass das Stimmenmehr beinahe in allen Wählergruppen erreicht wurde – bei Frauen und Männern, höheren und tiefen Kasten, in städtischen wie ländlichen Wahlkreisen, unter Armen und Reichen, selbst bei den religiösen Minderheiten konnte er punkten. Mehr Muslime stimmten diesmal für die BJP als vor fünf Jahren.
Jahrmarkt-Verkäufer
Die Partei gewann entscheidende Wähleranteile im bevölkerungsreichen „Hindi Belt“ der nordindischen Gangesebene ebenso wie im Osten des Landes, wo sie bisher ein unbeschriebenes Blatt war. Sogar im Süden gewann sie überraschend erstmals mehrere Mandate. Nur in den beiden Südstaaten Tamil Nadu und Kerala kann man von einer Niederlage der BJP sprechen. Und nur im letztgenannten Staat gewann der Kongress mehr als zehn Sitze. In achtzehn der 29 Bundesstaaten ging er ganz leer aus.
Was den Albtraum aber vollends zum Katastrophenfall werden liess, war Narendra Modis aggressive Wahlstrategie. Seine Reden waren nicht die eines Jahrmarkt-Verkäufers, der für jede Wählergruppe Versprechen zur Hand hat. Verlockende Wahlsprüche wie „Alle zusammen für eine gemeinsame Entwicklung“ hatte er im ersten Wahlkampf von 2014 geklopft, als er das Image eines national-religiösen Eiferers und Muslimen-„Fressers“ loswerden musste.
Diesmal ging er mit der Waffe eines aggressiven Nationalisten auf den Gegner los, er machte sich über Muslime ebenso lustig wie über das liberale Establishment. Er fegte demokratische Checks and Balances wie die Wahlkommission und Medienvielfalt auf die Seite, scherte sich einen Deut über die gesetzlichen Limiten der Wahlfinanzierung; er machte die Armee zu seiner Wahlhelferin und rüttelte damit an deren historischer Unparteilichkeit.
Anzeichen einer Revolution
Mit der Erteilung einer Partei-Kandidatur für Pragya Singh Thakur machte Modi klar, dass er auch vom zentralen moralischen Kern der Gründeridee Indiens – der Gewaltlosigkeit, sprich: der Ablehnung von Gewalt als Mittel der Politik – wenig hält. Thakur steht unter Anklage, an Terror-Akten gegen Muslime beteiligt gewesen zu sein. Erst als sie auch noch den Gandhi-Mörder Godse verherrlichte, wurde sie zurückgepfiffen.
Aber auch Thakur gewann den Sitz von Bhopal haushoch, genauso wie ein Kandidat im Bundesstaat Odisha, dessen Schlägertrupp für den Mord im Januar 1999 an einem australischen Missionar und dessen zwei minderjährigen Söhnen verantwortlich war.
Die liberale Elite muss eingestehen, dass dieses Verdikt nicht das Business as usual darstellt, in dem sich Parteien innerhalb eines breiten demokratischen Konsensus beim Regieren ablösen. Es trägt vielmehr, mehr noch als in Europa und den USA, die Anzeichen einer Revolution, in dem die Grundfesten des geltenden Gesellschaftsvertrags angetastet werden.
Weg vom Ideal eines demokratischen Staates
Die Eckwerte der indischen Verfassung sind identisch mit jenen der westlichen Demokratien. Sie sieht umfassende Freiheitsrechte für das Individuum vor, neutrale Institutionen als Wächter gegen eine überbordende Staatsgewalt, einer föderalistischen Ausgestaltung zwischen Zentralstaat und Regionen. Sie schreibt Toleranz-Garantien für ethnische und religiöse Minderheiten fest, sowie die Unterstützung sozialer und ökonomischer Randgruppen.
Die BJP unter Narendra Modi wird zumindest das Gerüst dieser Struktur nicht antasten. Aber sein Wahlkampf hat gezeigt, dass er nicht zögert, übergeordnete Institutionen seinen Zwecken anzupassen – sei es die Justiz, die Wahlkommission, die Freiheit der Medien und, wie gesag,t die Streitkräfte. Der überragende Wahlsieg gibt ihm nun die demokratische Legitimation in die Hand, sich diese Instanzen auch per Gesetz oder gar Verfassungsänderungen gefügig zu machen.
Ist die „Idea of India“ der Gründerväter – das Ideal eines freiheitlichen demokratischen Staates – damit Geschichte? Sie wird auf jeden Fall zur Disposition gestellt. Denn gerade bei der zentralen Frage der individuellen Freiheitsrechte hat bereits die erste Modi-Regierungszeit gezeigt, dass sie mit Füssen getreten werden können.
Modi, der neue Napoleon?
Das Lynchen von Unschuldigen durch die Hand von Schlägertrupps – etwa zum Schutz der Kuh – zeigten einen Staat als unbeteiligten Zuschauer. Fäden zwischen Tötern und BJP-nahen Organisationen wurden dreist offengelegt, mit selbstgedrehten Videos in den Sozialen Medien, die die Täter vieltausendfach als Helden priesen.
Die ersten Reaktionen der Sieger lassen nichts Gutes erwarten. Zwar halten sich Narendra Modi und sein Scharfmacher Amit Shah – Parteipräsident und neu auch Innenminister – noch zurück. Modi rief seine Anhänger auf, sich keinem Triumphalismus hinzugeben.
Doch Ideologen wie der BJP-Generalsekretär Ram Madhav lassen keinen Zweifel daran, wohin die Reise geht. In einem Beitrag für den „Indian Express“ verglich er Modi mit Napoleon, den der britische Historiker Eric Hobsbawn eine „Säkulare Gottheit“ genannt habe. Dann zitiert Madhav Napoleon selber, der gesagt haben soll: „Was zählt, ist was das Volk als wahr empfindet.“
Rückfall in barbarische Zeiten?
Das Mandat des Volks bedeutet daher, so Madhav, „eine Zurückweisung der pseudosäkularen liberalen Kartelle, die einen vollständigen Würgegriff über das intellektuelle und politische Establishment des Landes ausgeübt haben. Unter Modi-II werden die Überreste dieser Kartelle aus der akademischen, kulturellen und intellektuellen Landschaft Indiens verschwinden“.
Derweil beklagen viele Kommentare aufseiten der Verlierer den Verlust von „Civility“ und friedlichem Konfliktausgleich, die doch so tief in Indiens Zivilisation verankert seien. Sie rufen dazu auf, diesen Rückfall in barbarische Zustände zu verhindern mit einer Rückbesinnung auf zentrale gesellschaftliche Werte der Toleranz, der Gewaltlosigkeit, und von Indiens religiös fundierter Ethik.
Allerdings werden nun auch andere Stimmen laut, die zu einer anderen Art von Rückbesinnung aufrufen. War denn die traditionelle indische Gesellschaft überhaupt so liberal und tolerant? fragen sie. Ist es nicht eher so, dass Indien schon immer eine illiberale Gesellschaft war, die einer rassistischen Kastenideologie anhing.
Politische Fiktion
In einem soeben erschienen Buch, „Malevolent Republic“, behauptet der Historiker Kapil Komireddi, die Idee einer historischen kulturellen Assimilation zwischen Hinduismus und dem Islam südasiatischer Prägung sei eine politische Fiktion gewesen. Die Unabhängigkeitsbewegung Gandhis und Nehrus war auf sie angewiesen, um der britischen Politik entgegenzuwirken, die die Bewegung unschädlich machen wollte, indem sie die religiösen Risse zwischen den beiden Volksgruppen noch vertiefte.
In einem Beitrag im Newsportal Scroll.in meint auch der Kommentator Sanjay Srivastava, Toleranz und Minderheitenschutz seien dem Volk vom modernen indischen Staat aufoktroyiert worden. Mit Modi kehrt Indien wieder zur historischen Norm zurück – einer majoritären, messianistischen und autokratischen Gesellschaftsidee. So scheint es auch der BJP-Politiker Ram Madhav zu sehen: „Das Volk sieht in Modi nicht einfach einen weiteren Premierminister, sondern einen transformativen Leader. Und sein Ziel ist nichts weniger als das Neue Indien.“
In meinem Buch „Abschied von Gandhi“ hatte ich hinter den Titel ein grosses Fragezeichen gesetzt. Vermutlich werde ich es nun entfernen müssen.