Diese Inzucht war dadurch zustande gekommen, dass beide Institutionen seit der Gründerzeit unter Atatürk sich selbst kontrollierten, reinigten und ihre eigenen Spitzenpositionen besetzten, ohne dass die Parlamentarier oder die gewählten Regierungen dabei ein entscheidendes Mitspracherecht genossen hätten.
Im Falle der Justiz kontrollierte eine Höchste Autorität der Richter und Staatsanwälte (türkisch abgekürzt HSYK) die Beamten und Richter der Justiz, indem sie sie nach ihrem Ermessen beförderte oder sanktionierte.
Wiederbelebung der islamischen Traditionen
Diese Höchste Autorität wurde ihrerseits in erster Linie durch die höchsten Richter ernannt. Auf diese Weise blieb die kemalistische Ideologie in den Kreisen der Richter ungeschmälert und rein erhalten, während sie sich im Laufe der Zeit bei der Bevölkerung im Sinne einer Ausbreitung demokratischer Ideen und Gebräuche veränderte.
Bei der Bevölkerung ging mit dem Wachstum demokratischer Grundsätze auch eine gewisse Wiederbelebung der islamischen Traditionen einher, welche der Kemalismus stark zurückgedrängt hatte. Dies sollte für die Kemalisten zum wichtigsten Stein des Anstosses werden.
Eine vergleichbare Inzucht des Kemalismus entstand bei den Berufsoffizieren. Auch sie sorgten über die letzten 87 Jahre hinweg (nämlich seit der ersten Präsidentschaft Kemal Atatürks im Jahr 1923) eifrig dafür, dass in ihren Rängen die kemalistische Ideologie rein bewahrt wurde.
Denke "richtig" oder gehe!
Offizierskadetten und Offiziere, die sich nicht daran hielten, wurden ohne Rekursmöglichkeiten entlassen. Die Armee ernannte ihre eigenen Oberbefehlshaber, ohne dass die zivilen Regierungen dabei Wünsche zu äussern wagten und die Befehlshaber sorgten dafür, dass ihre Untergebenen "richtig dachten", oder die Armee verliessen.
Sowohl Armee wie Gerichtsbarkeit verstanden sich selbst durchaus als politische Institutionen, deren Aufgabe es war, die Ideologie des Kemalismus, natürlich so wie sie sie verstanden, in der ganzen Türkei durchzusetzen und aufrecht zu erhalten. Bei allen drei Staatsstreichen (1960, 1971 und 1980) und sämtlichen anderen politischen Eingriffen der Armee geschah dies stets im Namen des Kemalismus, den die führenden Offiziere als gefährdet ansahen.
Der sogenannte "Tiefe Staat" wurde organisiert und eingesetzt, um auch im zivilen Bereich für Aufrechterhaltung der kemalistischen Orthodoxie, im Notfall mit illegalen und mörderischen Methoden, zu sorgen.
Jagd auf Kurden, Muslime, Intellektuelle und Journalisten
Der "Tiefe Staat" war ein geheimes Netz von Geheimpolizisten und Geheimdienstoffizieren, die mit den nationalistischen Rechtsextremisten und mit kriminellen Mafia Organisationen zusammenarbeiteten, um politisch unliebsame Gruppen und Personen, in erster Linie Kurden, muslimische Aktivisten, links gerichtete Intellektuelle und Extremisten sowie auch Armenier und allzu neugierige Journalisten, in Schach zu halten und, wo dies als nötig erachtet wurde, zu ermorden.
Dass es dies gab, ist erwiesen. Der durch den Zufall eines Autounfalls 1996 zu Tage getretene und später durch Untersuchungen teilweise enthüllte Skandal von Susurluk ist ein klares Beweisstück. Es gibt eine ausführliche Darstellung der verwickelten Angelegenheit bei Wikipedia unter dem Stichwort "Susurluk".
Auch der schon seit 2008 laufende und sich auf immer neue Personen ausdehnende Prozess des "Ergenekon" mit mehreren Hundert Angeklagten, vor allem aus den Reihen pensionierter Offiziere, bei dem es um mutmassliche Vorbereitungen zu Staatstreichen geht, spült regelmässig Fragmente des "Tiefen Staats" ans Tageslicht.
Richter werden neu vom Parlament ernannt
Der Umstand, dass die Richter und der sie beaufsichtigende Höchste Rat der Richter und Staatsanwälte nach Ansicht der Regierung mithalfen, diesen "Tiefen Staat" eher zu beschützen als ihn zu verfolgen, hatte Erdogan dazu veranlasst, die Verfassungsänderungen rasch zu formulieren und sie genau am 30. Jahrestag des Staatstreichs von 1980 der Bevölkerung vorzulegen.
Die gegenwärtig gültige Verfassung der Türkei war zwei Jahre später von den militärischen Kommandanten des Staatsstreichs formuliert und dem Volk als Vorbedingung einer Rückkehr zu einer zivilen Regierungsform vorgelegt worden.
Die wichtigsten der nun angenommenen Verfassungsänderungen bestimmen, dass in Zukunft der erwähnte Höchste Rat der Richter und Staatsanwälte nicht mehr ausschliesslich von den Spitzen der Gerichtsbarkeit ernannt werde. Er soll von elf auf 22 Personen wachsen, davon sind die Hälfte von allen Richtern des Landes zu wählen.
Die Wahlkampagne unter den Richtern ist bereits angelaufen. Die andere Hälfte sollen die Parlamentarier, der Staatschef und die höchsten Richter ernennen. Da die einmal bestimmten Räte ihre Sitze behalten, wird der Wechsel innerhalb des Rates ein allmählicher sein. Auch das Verfassungsgericht wird erweitert und erhält neues Blut durch Neuernennungen, die der Staatschef und Parlamentarier vornehmen.
Die Generäle gaben nach
Im Falle der Militärs bewirken die Verfassungsänderungen, dass künftig entlassene Offiziere ein Rekursrecht besitzen und dass politische und kriminelle Vergehen der Offiziere künftig nicht mehr von Militärgerichten sondern von der zivilen Gerichtsbarkeit verfolgt werden. Der wahrscheinlich entscheidende Sieg der gewählten Regierung gegenüber den bisher praktisch autonom agierenden Offizieren war bereits vor der Verfassungsrevision zustande gekommen.
Ende August dieses Jahres wollten die Armeespitzen einen der Offiziere zum Generalstabschef befördern, welcher der Regierung nicht genehm war. Nach Ansicht der Regierung war diese Person verdächtig, in einen der mutmasslichen Staatsstreichpläne verwickelt zu sein, über die im Ergenekon Prozess verhandelt wird. Die Generäle bestanden auf ihrem Begehren, und es kam zu einigen kritischen Sitzungen zwischen ihnen und Ministerpräsident Erdogan sowie Staatschef Abdullah Gül.
Was genau gesagt wurde, weiss man nicht. Doch die Generäle gaben nach. Ihr Kandidat wurde pensioniert und ein der Regierung genehmer Offizier zum Generalstabschef befördert. Dies war seit Menschengedenken das erste mal, dass die Regierung es wagte, den Armeespitzen frontal entgegenzutreten. Ein Staatsstreich, den manche Beobachter fürchteten, kam nicht zustande.
Ausweitung der demokratischen Grundrechte
Die Verfassungsänderungen betreffen auch andere Bereiche, stets im Sinne einer Ausweitung der demokratischen Grundrechte. Das Verbot für Staatsangestellte, Gewerkschaften zu bilden, wird aufgehoben. Ein Ombudsmann wird eingesetzt, den die Bürger im Falle vom Machtmissbräuchen durch den Staat anrufen können, und die Bürger sollen das Recht erhalten, Petitionen an das Verfassungsgericht zu richten.
Diese Bestimmungen werden bewirken, dass die Türken in Zukunft nicht mehr einzig auf den überlasteten Menschenrechtsgerichtshof von Strassburg angewiesen sein werden, wenn es darum geht, ihre Menschenrechte abzusichern.
Sogar die kurdische Partei BDP, welche die Parole der Stimmenthaltung ausgegeben hatte, zeigte sich befriedigt über den Ausgang des Plebiszits, sie feierte ihn mit Feuerwerk in der grössten Stadt der Kurden, Diarbakir. Der Grund zum Feiern war für sie, dass in den kurdischen Ostgebieten Anatoliens die Enthaltungsparole der Partei deutlich befolgt worden war.
Forderung nach einer neuen Verfassung
Die Stimmbeteiligung in der gesamten Türkei lag bei 73 % der eingeschriebenen Wähler. Doch in den kurdischen Provinzen betrug sie 23%. Die kurdischen Politiker fordern nun, dass eine gänzlich neue Verfassung formuliert werde. Die Regierungspartei Erdogans AKP stimmt ihnen zu; auch ihre Politiker äusserten, nach den Parlamentswahlen von 2011, für welche nun die Aussichten der AKP gut zu sein scheinen, müsse eine völlig neue Verfassung formuliert und verabschiedet werden. Doch darüber wird es noch viele Auseinandersetzungen geben.
Die kemalistisch gesonnene kleinere Hälfte der Türken (im Plebiszit waren es 42%) ist keineswegs gewillt, ihre Linie aufzugeben. Der gegenwärtige Vorsitzende des Höchsten Rates der Richter und Staatsanwälte, Kadir Özbek, hat sofort nach dem Plebiszit erklärt: "die Türkei ist nun rückständiger als gestern". Dies ist typisch für seine Klasse.
Für die dogmatischen Kemalisten gibt es nur einen Fortschritt, den von Atatürk festgelegten. Alle Bewegungen in andere Richtungen, auch wenn es solche auf mehr Demokratie hin sind, erscheinen ihnen als Rückschritte. Bei dieser Haltung spielt auch die Tatsache eine Rolle, dass die betroffene alt-Elite des Staates sehr gewichtige materielle Vorteile zu verteidigen hat.
Klima der Polarisierung
Ümit Boyner, die Vorsitzende der angesehenen Vereinigung der türkischen Industriellen und Unternehmer, TÜSIAD, hat sich auch schon geäussert. Sie erklärte, bisher sei die Demokratisierung des Landes stets auf drei Klippen aufgelaufen:1) Freiheit der Gesinnung und Religionsausübung; 2) die Frage der Identitäten (womit sie wohl primär auf das kurdische Problem anspielte); 3) die Trennung von exekutiver, legislativer und richterlicher Gewalt.
Eine neue Verfassung müsse diese drei bisher trennenden Faktoren in solche der Einigung umkehren. Das gegenwärtige Klima der Polarisierung habe einer Lage zu weichen, die allen Parteien und allen Teilen der Gesellschaft erlaube, die erhoffte neue Verfassung zu diskutieren. - Sie hat damit Erdogan einen schwierigen aber konstruktiven Weg in die Zukunft nahegelegt.