Schon am ersten Jahrestag der Terrorattacken auf die Zwillingstürme des World Trade Center in New York wurde intensiv über die Frage debattiert, ob mit diesem in vielerlei Beziehung erschütternden Ereignis und seinen Folgewirkungen eine neue Epoche der Weltgeschichte zu datieren sei. Die Meinungen waren damals geteilt, variantenreich und schwankend.
Weltpolitische Verschiebungen
Heute, zehn Jahre nach dem 11. September 2001 sind die Konturen einiger Veränderungen im globalen Gefüge teilweise deutlicher zu erkennen – was allerdings noch keineswegs heisst, dass es sich um nachhaltige Verschiebungen handelt. Alles fliesst, das wussten schon die alten Griechen - Politik und Geschichte ist von dieser Erkenntnis nicht ausgeklammert.
Hier in Stichworten einige – aus westlich-atlantischer Sicht – der gewichtigeren Bewegungen und Umbrüche auf der globalen Bühne in den vergangenen zehn Jahren:
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Das schrumpfende politische und wirtschaftliche Übergewicht der Supermacht USA. Diese Entwicklung ist nicht zuletzt die Folge des Glaubwürdigkeitsverlusts wegen des aufgrund falscher Behauptungen vom Zaun gerissenen Irak-Krieges. Hinzu kommt der durch die Hypothekar-, Banken- und Schuldenkrise angeschlagene Ruf Amerikas als führende Wirtschaftsmacht und die damit verbundene Einengung seiner finanziellen Spielräume.
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Der gleichzeitige deutlicher erkennbare Aufstieg Chinas zur zweitgrössten Wirtschaftsmacht der Welt, mit entsprechend wachsenden politischen und wirtschaftlichen Einflussmöglichkeiten. Auch Indien und Brasilien spielen als aufstrebende Mächte heute dank der Dynamik ihrer wirtschaftlichen Entwicklung eine gewichtigere und selbstbewusstere Rolle auf dem globalen Parkett als von zehn Jahren.
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Trotz des grossräumigen Ausbaus der EU durch die Aufnahme zahlreicher neuer Mitglieder in Osteuropa, dem Baltikum und dem Balkan ist das politische Gewicht Europas im internationalen Mächtekonzerts nicht gewachsen. Dies dürfte in erster Linie eine Folge wirtschaftlicher Schwäche sein und – ähnlich wie im Falle der USA –der das Selbstvertrauen lähmenden staatlichen Überschuldungen (Euro-Krise).
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Die in diesem Frühjahr unerwartet ausgebrochenen Protest- und Demokratiebewegungen in der arabischen Welt. Diese haben in Tunesien, Ägypten und Libyen repressive autokratische Regime weggefegt. In Syrien, Jemen und Bahrein ist der Machtkampf noch im Gange. Die langfristigen Konsequenzen dieses Aufbruchs sind allerdings ungewiss.
Amerikas geschwächte Glaubwürdigkeit
Stellt sich die Frage: Was haben diese Entwicklungen oder Umbrüche mit den Terror-Anschlägen vom 11. September 2001 zu tun? Der Aufstieg Chinas, Indiens oder Brasiliens steht damit sicher nicht in näherem Zusammenhang. Auch die europäische Schuldenkrise und die Euro-Schwäche kann man schwerlich mit dieser Erschütterung verknüpfen.
Anders liegen die Dinge im Fall Amerika. Gewiss gibt es für die oben erwähnten Schwächezeichen der Supermacht USA (von Niedergang würde ich vorläufig nicht sprechen, das würde ja einen unaufhaltsamen Prozess nahe legen) keine monokausalen Erklärungen. Aber die politisch-moralische Glaubwürdigkeit Amerikas hat durch die eigenmächtige, durch kein Uno-Mandat abgestützte Irak-Invasion und vor allem durch deren Begründung – die behauptete Existenz von Massenvernichtungswaffen in den Händen Saddam Husseins – schweren Schaden genommen. Diese Begründung war, wie sich bald herausstellte, falsch und teilweise wohl gezielt manipuliert.
Auch die Einrichtung des Lagers Guantánomo für Gefangene im so genannten Krieg gegen den Terror durch die Administration Bush junior hat nach Meinung seriöser Kritiker wesentliche Rechtsstaats-Prinzipien verletzt. Dass Präsident Obama es nicht fertig gebracht hat, sein Wahlversprechen einzulösen und das Guantánamo-Gefangenenenlager umgehend aufzuheben, gehört zu den grossen Enttäuschungen seiner bisherigern Amtszeit.
Horrende Kriegskosten
Eines der deklarierten Zielen von Al-Kaida-Chef Usama bin Ladin war es, den Hauptfeind Amerika in „blutige Kriege“ in der muslimischen Welt zu verwickeln. Im Irak hat er dieses Ziel und die damit beabsichtigte Schwächung der USA erreicht – jedenfalls gemäss Zwischenbilanz nach zehn Jahren. Ohne die von ihm inspirierten Terror-Anschläge vom 11. September hätte die Bush-Administration nie die innenpolitische Unterstützung für den Einmarsch in Irak mobilisieren können. Dort ist zwar ein blutrünstiger Diktator gestürzt worden, doch die versprochene Stabilität und Demokratie in Irak stehen auf sehr wackligen Füssen. Und die jetzt in Bagdad hauptsächlich regierenden Schiiten scheinen dem Amerika feindlichen gesinnten iranischen Regime oftmals näher verbunden als dem amerikanischen Protektor.
Zur finanziellen Schwächung Amerikas beigetragen haben schliesslich die atemraubenden Kosten der durch die Anschläge von 9/11 ausgelösten Militärinterventionen in Afghanistan, in Irak und teilweise in Pakistan. Eine an der amerikanischen Brown University durchgeführte Berechnung der Gesamtkosten dieser Kriege kommt laut dem britischen „Economist“ auf die astronomische Summe von 4 Trillionen Dollar (eine Trillion sind nach amerikanischer Lesart tausend Milliarden).
Jihad-Ideologie und arabischer Frühling
Ein Erfolg des von der Bush-Administration nach 9/11 lancierten „Krieges gegen den Terror“ ist unbestreitbar die deutliche Schwächung des islamistischen Netzwerkes Al-Kaida. Insgesamt Hunderte von Führungsfiguren, Aktivisten und Mitläufer wurden getötet oder festgenommen, viele auch verurteilt. Usama bin Ladin, Gründer und messianische Kultfigur dieses martialischen Netzwerkes, ist im April in Pakistan von einer amerikanischen Spezialeinheit aufgespürt und erschossen werden.
Ob es zwischen den unerwarteten Ausbrüche von Massenprotesten in Arabien in diesem Frühjahr und dem Sturz mehrer Diktaturen einen inneren Zusammenhang mit den teuflischen Terrortaten vom 11. September gibt, darüber kann man nur spekulieren. Tatsache ist jedenfalls, dass die vorwiegend von der Jugend getragenen arabischen Aufbrüche zumindest von ihren ursprünglichen Impulsen her eine Absage an die blutrünstige Jihad-Ideologie von Al-Kaida sind und eine innere Verwandtschaft zu aufklärerisch-freiheitlichen Grundwerten signalisieren. Einiges spricht dafür, dass diese Grundwelle durch eine allmähliche sich ausbreitende Desillusionierung über die destruktiven Konsequenzen des angeblich religiös gerechtfertigten Gewaltkults der Jihadisten mit angestossen worden ist.
Goethes Diktum zu einer Epochenwende
Markiert der 11. September 2001 also doch eine Epochenwende? Darauf kann niemand eine verlässliche Antwort geben. Zum einen haben, wie gesagt, einige der markanteren Veränderungen wie die dynamische Entwicklung Chinas zum neuen Wirtschaftsriesen, der sein Gewicht inzwischen global zur Geltung bringt, nicht näher mit 9/11 zu tun.
Zum andern ist es auch nach einem Jahrzehnt immer noch zu früh, die langfristigen Folgewirkungen dieser Terror-Erschüttung abzuschätzen. Die bekannteste Behauptung, eine Zeitenwende erkannt und als Augenzeuge erlebt zu haben stammt bekanntlich von Goethe. Dieser will nach der Kanonade von Valmy vom 20. September 1792, bei der die französischen Revolutionstruppen unerwartet die preussisch-österreichischen Verbände zum Rückzug zwangen, gegenüber seiner Entourage erklärt haben: „Von hier und heute geht eine Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.“
Aufgeschrieben und veröffentlicht aber hat der Dichter seine Erinnerungen an die „Kampagne in Frankreich“ erst drei Jahrzehnte später – als nicht mehr zu bezweifeln war, dass mit der Französischen Revolution tatsächlich ein weitreichender geschichtlicher Umbruch mit begonnen hatte.
Deshalb ist es wohl geraten, mit einer haltbaren Einordnung des verheerenden 9/11-Donnerschlages noch eine Weile zuzuwarten. In einem oder zwei Jahrzehnten wird man den globalpolitischen Stellenwert der einstürzenden Zwillingstürme in der amerikanischen Finanzmetropole auf soliderer Faktengrundlage einschätzen können.
Legitime Fragen und suggestive Konstrukte
Zuletzt einige Bemerkungen zu den wie fast immer bei welterschütternden Ereignissen üppig ins Kraut schiessenden Verschwörungstheorien. Diese laufen im Kern auf die Behauptung oder den Verdacht hinaus, dass hinter den Anschlägen von 9/11 ganz andere Mächte und Motive stehen, als dies die offizielle Version darstellt. Viele Verschwörungstheoretiker gehen davon aus, dass es der Administration Bush junior oder jedenfalls den US-Geheimdiensten durchaus zuzutrauen wäre, dass diese den Einsturz der WTC-Türme gezielt inszeniert hätten. Dies, so die Komplott-Konstruktion weiter, um einen Vorwand zur längst geplanten Irak-Invasion zu haben.
Kaum eine dieser Verschwörungsversionen scheint sich aber näher mit dem Umstand zu beschäftigen, dass Usama bin Ladin in späteren Videobotschaften über Al- Jazira sich ausdrücklich als Inspirator der Terroranschlägen vom 11. September bekannte. Auch die Tatsache, dass am 26. Februar 1993 Islamisten mit einer in der Parkgarage placierten Lastwagenbombe schon einmal einen gross angelegten Terroranschlag gegen den Komplex des World Trade Center in Manhattan lanciert hatten (bei dem 6 Menschen starben und Hunderte verletzt wurden), wird in der Verschwörungsliteratur selten erwähnt –vielleicht weil dieser Aspekt nicht gut in die Suggestion von der finsteren US-Selbstinszenierung von 9/11 passt.
Gewiss, kritische Fragen zum Ablauf und Hintergründen der Terrorschläge und zu den offiziellen Untersuchungen dazu sind in einer demokratischen Gesellschaft legitim. Wer sich einen breiteren Überblick über solche Fragen und Theorien – sowie die von Experten dazu häufig veröffentlichten Gegendarstellungen – verschaffen will, findet bei Wikipedia unter dem Titel „Verschwörungstheorien zum 11. September 2011“ einen bequemen Einstieg.
Schon Roosevelt ein Verschwörer?
Es gibt aber auch Verschwörungs-Spekulanten, die sich nicht damit begnügen, kritische Fragen zu stellen und sich der Forderung nach einer neuen Untersuchung von 9/11 anzuschliessen. Zu ihnen gehört etwa der für seine öffentliche Geschwätzigkeit bekannte PR-Unternehmer Klaus Stöhlker. Stöhlker schreibt auf der Website www.911untersuchen.ch man „wisse“, dass Kerosin nicht heiss genug wird, um Stahl zu schmelzen, obwohl andere Fachleute im Zusammenhang mit dem Einsturz der WTC-Türme genau das Gegenteil behaupten. Er verweist auch auf die Studie eines dänischen Wissenschafters, die suggeriert, dass die Zwillingstürme vor dem Einschlag der Flugzeuge angeblich mit dem Sprengstoff Nanothermit vollgeladen wurden. Stöhlker erwähnt aber nicht, dass andere Experten dieser Theorie mit ausführlichen Argumenten widersprechen (siehe Wikipedia).
Weiter schreibt der Verschwörungsexperte Stöhlker, man „wisse“ heute ja auch, dass die US-Regierung von Franklin D. Roosevelt den japanischen Angriff auf die amerikanische Flotte in Pearl Harbor „bewusst provoziert und zugelassen“ habe, um so die amerikanische Bevölkerung von der Notwendigkeit eines Eintritts in den 2. Weltkrieg zu überzeugen. Woher er dieses felsenfeste „Wissen“ hat, offenbart der PR-Mann nicht. Nach dem Duktus seiner Einlassung zu schliessen, scheint es für ihn empörend, dass Roosevelt die USA überhaupt in den Krieg gegen Hitler-Deutschland geführt hat. Er macht auch kein Hehl daraus, dass er die Behauptung des irrlichternden iranischen Präsidenten Ahmadinejad vor der Uno, die Attentate auf die Wolkenkratzer des WTC sei mit dem Wissen der US-Regierung erfolgt, für durchaus glaubwürdig hält.
Muss man sich bei solchen Auslassungen wundern, wenn Verschwörungsthesen zu 9/11 gerade in den seriösen Medien zehn Jahre nach dem grossen Terrorschlag kaum noch auf Interesse stossen? Für die eingefleischten Konspirations-Verfechter ist das natürlich nur ein Beweis, dass diese Medien mit zur Verschwörung gehören.