Es heisst, die Anschläge vom 11. September seien eines jener Ereignisse, von denen alle Amerikaner wüssten, wo sie waren, als sie davon erfuhren. So wie bei der Ermordung von John F. Kennedy oder bei der ersten Mondlandung. Ich weiss zwar noch, wo ich an jenem Dienstagmorgen war, würde aber nicht behaupten, die Erinnerung fühle sich an, als sei es erst gestern gewesen. Zuviel ist seither passiert, in Amerika und anderswo.
Ich war im Büro an der M Street in Washington DC, mit Blick auf die Strasse und den gegenüber liegenden Schnellimbiss „Au Bon Pain“. Der Fernseher lief, tonlos auf CNN eingestellt, um keine „Breaking News“ zu verpassen, obwohl der Nachrichtensender den Begriff ziemlich inflationär verwendete. Die ersten Bilder von 9/11 waren noch relativ harmlos. Aus einem der Twin Towers des World Trade Center im Süden Manhattans stieg dunkler Rauch in den wolkenlosen Himmel, und ein Moderator meinte, ein Sportflugzeug sei womöglich in den 417 Meter hohen Wolkenkratzer gekracht.
Sprung in den Tod
Noch waren Stimmung und Ton locker, keine Rede von Attentat, Terror oder Tod - Spiegelbild eines ereignisarmen Sommers, in dessen Verlauf Washington vor allem die Frage beschäftigt hatte, wer eine junge Frau, die als Praktikantin im Kongress arbeitete, beim Joggen ermordet hatte. Es war ein Verbrechen, über das die Medien bis zur Erschöpfung berichteten, als ob es im mächtigsten Land der Erde keine wichtigeren Stoffe gäbe ausser Sex & Crime. Als Hauptverdächtiger galt ein Abgeordneter aus Kalifornien, der mit der jungen Frau liiert gewesen war. Es war ein falscher Verdacht, wie sich herausstellen sollte, doch inzwischen waren der Mann und dessen Karriere längst ruiniert.
Der Ton am Bildschirm änderte sich schlagartig, nachdem ein zweites Flugzeug, gut zu sehen und unendlich oft wiederholt, in den zweiten der Zwillingstürme geflogen war – offenbar gezielt, ein Akt unglaublichen Terrors. Nun brannten in New York beide Türme, der eine 56 Minuten, der andere 102 Minuten lang, bevor sie innert zwölf Sekunden unter Entwicklung einer riesigen Rauchwolke in sich zusammensackten. 1,5 Millionen Tonnen Trümmer sollten später von „Ground Zero“ auf eine nahe Mülldeponie abtransportiert werden.
Dazwischen flimmerten Bilder jener Verzweifelten über den Schirm, die sich in den obersten Etagen der Türme aus Fenstern stürzten und wie in Zeitlupe, bis zu zehn Sekunden lang, zur Erde fielen. Unter den 2996 Opfern, die am 11. September 2011 in den vier entführten Flugzeugen und im Pentagon in Washington DC starben, befanden sich 200 „Springer“, wie die Medien in Ermangelung eines besseren Begriffs sie nannten.
Mutwillig angezettelter Krieg
„Das World Trade Center ist das lebende Symbol dafür, dass Menschen dem Weltfrieden verpflichtet sind … ein Abbild des menschlichen Glaubens an das Gute, seines Bedürfnisses nach individueller Würde, seiner Überzeugung, dass Menschen zusammenarbeiten und durch Kooperation Grosses erreichen können“, hatte Minoru Yamasaki, der japanische Architekt der Zwillingstürme, 1973 bei der Eröffnung des World Trade Center gesagt. Im Oktober 2001 begannen die USA, Afghanistan zu bombardieren, und im März 2003 fielen US-Truppen im Irak ein. Beide Kriege dauern noch an.
Den neuen Krieg am Golf zettelten George W. Bush und dessen neokonservative Helfershelfer mutwillig an, obwohl es weder Beweise für eine Verbindung zwischen Osama bin Laden und Saddam Hussein noch für die Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak gab, deren Gefahr Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice wie folgt beschwor. „Wir wollen nicht, dass sich die rauchende Tatwaffe in einen Atompilz verwandelt.“
Eine ketzerische Frage
Dafür sprach Saddam Hussein aus, was damals in den USA auch nur zu denken an Landesverrat grenzte und was die Medien lediglich zu erwägen um fast jeden Preis vermieden: die Frage, was in aller Welt ausser schierer Bosheit, Fanatismus und Verblendung 19 junge Muslime, die meisten unter ihnen Saudis, am 11. September 2001 dazu bewogen hatte, Passagiermaschinen zu entführen und als fliegende Bomben auf Symbole amerikanischer Macht zu steuern (neben dem World Trade Center und dem Pentagon sollte an 9/11 in DC wohl auch noch das Weisse Haus oder das Kapitol getroffen werden):
„Und so, wie eure schönen Wolkenkratzer zerstört wurden und euch Kummer bereiteten, so sind schöne Gebäude und geliebte Häuser über ihren Besitzern im Libanon, in Palästina und im Irak als Folge des Einsatzes amerikanischer Waffen eingestürzt…“, sagte Saddam Hussein vier Tage nach 9/11 nicht uneigennützig: „Amerikaner sollten den Schmerz fühlen, den sie anderen Völkern der Welt zugefügt haben, und wenn sie das tun, werden sie die richtige Lösung und den richtigen Weg finden.“ Indes sind im Irak laut einer Studie der britischen Ärztezeitschrift „Lancet“ zwischen 2003 und 2010 allein bei Selbstmordattentaten Aufständischer 12.284 Menschen getötet worden. Zehn mal mehr Zivilisten dürften im selben Zeitraum Opfer von Kriegshandlungen geworden sein.
Das Ticken einer Zeitbombe
Hätte sich jemand ernsthaft mit den Motiven der Attentäter von 9/11 auseinanderzusetzen gewagt, er wäre wohl eher früher als später zum Schluss gekommen, dass Amerikas Nahost-Politik und deren Wahrnehmung durch die Muslime der Region zumindest entfernt etwas damit zu tun haben könnten. Wobei ein solcher Schluss, populärer Annahme zum Trotz, keine Rechtfertigung der Anschläge, aber ein möglicher Erklärungsversuch gewesen wäre – eine Folgerung, deren Beherzigung den USA später vielleicht geholfen hätte, schwer wiegende Fehler im „Krieg gegen den Terror“ zu vermeiden.
„Dieser Kreuzzug…wird noch eine Weile dauern“, sagte George W. Bush am 16. September 2001 und verriet damit, dass seine Drohung nicht einzelnen Terroristen, sondern einer ganzen Zivilisation galt. „An 9/11 blieb die Zeit stehen“, schrieb Comic-Zeichner Art Spiegelman in seinem Buch „In the Shadow of No Towers“ zutreffend: „An 9/12 begannen die Uhren wieder zu ticken…, aber jedermann wusste, dass es das Ticken einer Zeitbombe war.“
Patriotismus als Pflicht
Während am Morgen des 11. September die eilig zusammengetrommelten Experten am Bildschirm ihre Meinung äusserten, füllte sich Washingtons Innenstadt mit Menschen, die ihre Arbeitsplätze in Büros, Kanzleien und Ministerien zum Teil in Panik verlassen hatten und nun nur noch so schnell wie möglich nach Hause wollten. Als jüngst am 23. August ein harmloses Erdbeben der Stärke 5,8 Washington DC traf, spielten sich in der Stadt ähnliche Szenen ab und etliche Leute dachten spontan an ein neues Attentat.
Die Menschen drängten sich auf den Trottoirs, während sich auf den Strassen die Autos stauten und sich vor Bus- und U-Bahnstationen lange Schlangen bildeten. Einer beschrieb, wie er eine Frau, Stöckelschuhe in der Hand, aus dem Weissen Haus hatte rennen sehen und sagen hören: „Ich glaubte, das sei der sicherste Ort der Welt.“ Und dann, irgendwann gegen Mittag, war der ganze Spuk vorbei und das Zentrum von DC plötzlich menschenleer und still. Zurück blieben jene, die arbeiten mussten oder wollten: Journalisten, Rettungspersonal, Polizisten.
Über Nacht tauchten nach 9/11 überall in Washington DC Flaggen und Fähnchen auf: in Vorgärten, auf Balkonen, an Autos, in Schaufenstern. Wer als Ausländer auf dem Rasen vor dem Haus keine „Stars and Stripes“ aufpflanzte, hatte den leisen Verdacht, unangenehm aufzufallen. Was die Familie eh schon tat, zum Beispiel an der Kasse im Supermarkt, wo Kunden wiederholt und nicht nur freundlich fragten, was für eine seltsame Sprache, Schweizerdeutsch, sie da spräche – eingedenk der Ermahnung der Behörden, verdächtige Beobachtungen unverzüglich zu melden.
Enttäuschte Hoffnungen
Dafür war dann nachts das Dröhnen der Kampfjets zu hören, die im Tiefflug über der Stadt patrouillierten. Derweil stritten sich Leute allen Ernstes, ob ein Fernsehmoderator, der am Bildschirm kein US-Fähnchen im Knopfloch trug, noch zu tolerieren sei. Die Erklärung des TV-Mannes: Er sei zwar Amerikaner, aber in erster Linie Journalist und der Ausgewogenheit verpflichtet.
Amerika rückte nach dem 11. September zusammen und nicht wenige hofften, das neue Zusammengehörigkeitsgefühl würde andauern und politische Gräben zwischen den Parteien überbrücken helfen. Doch die Hoffnung trog, ebenso wie die wiederholt geäusserte Prognose, dass nach 9/11 im Lande nichts mehr so sein würde, wie es zuvor gewesen war, und dass die Anschläge ein heilsamer Schock wären, der die Nation zur Besinnung bringe. „Le Monde“ titelte jenseits des Atlantiks: „Wir sind alle Amerikaner.“
Symbolisch für die enttäuschte Hoffnung steht ein Bild von Thomas Höpker, das der „Magnum“-Fotograf zwar an 9/11 aufgenommen, aber erst fünf Jahre später anlässlich des Jahrestags publiziert hat. Das Foto zeigt junge New Yorker, die in einem Park am Wasser in Brooklyn an der Sonne sitzen und anscheinend locker miteinander plaudern, während im Hintergrund aus der Skyline Manhattans grauer Rauch aufquillt, dort, wo vor Kurzem noch die Twin Towers standen.
Sicherheit über alles
Höpkers Aufnahme entfachte eine Kontroverse, wobei Frank Rich, damals Kolumnist der „New York Times“, dem Bild allegorischen Charakter zuschrieb: Amerika habe es versäumt, aus jenem tragischen Tag Lehren zu ziehen und sich als Nation zu reformieren: „Die jungen Leute in Mr. Höpkers Aufnahme sind nicht notwendigerweise herzlos. Sie sind schlicht Amerikaner.“ Wobei einer der Abgebildeten klagte, seine Freundin und er hätten sich nicht gesonnt, sondern „in einem akuten Zustand von Schock und Unglauben“ befunden.
Zehn Jahre nach 9/11, schrieb die „Washington Post“ am Wochenende in einem Artikel, lebten die Amerikaner „in einer Ära unendlichen Krieges“. Früher, so das Blatt, hätten Armee und Öffentlichkeit Krieg als Ausnahme und Frieden als Regel betrachtet. Heute jedoch befinde sich die Welt, glaube man der Einschätzung des Pentagons, „in einer Periode andauernder Konflikte“.
Deshalb geht in Amerika Sicherheit über alles und verschlingt jährlich Abermilliarden. Derzeit gibt es im Lande nicht weniger als 1271 Regierungsstellen und 1931 Privatfirmen, die sich in rund 10 000 Lokalitäten in irgendeiner Form mit Terrorbekämpfung, Spionage oder der Gewährleistung innerer Sicherheit beschäftigen. 854 000 Amerikaner, unter ihnen gegen 250 000 Angestellte des Privatsektors, haben Zugang zu Geheiminformationen. Immer häufiger und oft ohne genügende Aufsicht wird „outgesourcet“, was früher Monopol des Staates war.
Was geht in den Köpfen vor?
Doch alle Sicherheitsmassnahmen konnten nicht verhindern, dass rund ein Jahr nach 9/11, im Oktober 2002, zwei Männer im Grossraum Washington wahllos zehn Menschen erschossen und drei Passanten schwer verletzten. Es war zwar ein Fall hausgemachten Terrors, aber deswegen nicht weniger Angst einflössend. Die Leute getrauten sich nicht mehr auf die Strasse, Kinder fuhren unter Polizeischutz zur Schule. Drei Wochen lang erfuhren die Bewohner der Hauptstadt am eignen Leib, dass es allen Anstrengungen zum Trotz absolute Sicherheit nicht gibt. Und dass es entgegen aller Technik nach wie vor kein Mittel gibt, um zu lernen, was in den Köpfen von Menschen vorgeht.
Experten sagen, der Umstand, dass es seit 9/11 keinen Anschlag mehr auf amerikanischem Boden gegeben habe, beweise, dass sich die Investitionen in mehr Sicherheit, Überwachung und Prävention ausgezahlt hätten. Den Preis dafür zahlen aber nach wie vor auch andere, in Afghanistan, in Pakistan, im Irak. Obwohl es dem Aussenministerium in Washington zufolge den „Krieg gegen den Terror“ nicht mehr gibt. Das State Department spricht lieber vom „Kampf gegen gewalttätigen Extremismus“. Dessen Orwellsches Akronym: SAVE („Struggle Against Violent Extremism“). Rette sich, wer kann!