An diesem Wochenende beginnen in Indien offiziell die Impfungen gegen das Covid-19-Virus. In einer ersten Phase sollen 300 Millionen Einwohner geimpft werden, angefangen bei den 300’000 Mitarbeitern der Kampagne. Weitere 30 Millionen Dosen sind für Spitalpersonal, Polizei und Militärs sowie Menschen mit medizinischen Vorbedingungen reserviert.
Danach folgen die restlichen 270 Millionen Personen zwischen achtzehn und fünfzig Jahren. Das Ziel ist es, 700 Millionen, also etwa sechzig Prozent der Bevölkerung zu impfen. Es ist aber noch nicht entschieden, ob die ersten 300 Millionen zuerst die zweite Dosis erhalten, bevor die restlichen 400 Millionen Erstimpfungen folgen.
Gemäss Regierungsangaben verfügt der Staat über rund 80’000 Krankenhäuser mit Kühlaggregaten, die für die Lagerung der beiden Impfstoffe (bei -2 Grad C) nötig sind. Allerdings kennt man die marode Ausrüstung öffentlicher Krankenstationen sowie die täglichen Stromausfälle und Versorgungsengpässe von Dieselöl zur Bedienung der Generatoren. Die medizinische Kampagne muss also von einer massiven technischen Aufrüstung begleitet sein.
Eine weitere kritische Frage ist die Ausbildung des Personals. Allerdings hat Indien viel Erfahrung mit grossen Impfkampagnen. Das Land hinkt chronisch seinen Zielen hinterher („nur“ 78 Prozent der Kinder sind geimpft). Dem Heer von Gesundheitsarbeitern für die Covid-Impfungen steht die Tatsache gegenüber, dass deshalb alle normalen Impfungen für Mütter, Klein- und Schulkinder sistiert worden sind, mit ungeahnten Folgen für die Volksgesundheit.
Wettlauf der Impfstoffe
Die Gesundheitsbehörde hat zwei Impfstoffe gegen das Corona-Virus freigegeben, Covishield und Covaxin. Covishield wird vom Serum Institute of India (SII) produziert und basiert auf dem von der Oxford-Universität und dem Pharma-Unternehmen AstraZeneca entwickelten Impfstoff.
Das zweite Vakzin beruht auf einem von der indischen Firma Bharat Biotech und der staatlichen Gesundheitsbehörde entwickelten Verfahren. Diese Verbindung mit dem Staat mag erklären, warum die Zulassungsstelle Covaxin Grünes Licht gab, obwohl dieses die dritte Testphase – und damit den Beweis einer breiten Wirksamkeit – noch nicht passiert hat.
Um dies nachzuholen, hat Bharat Biotech die nun anrollende erste Runde von Impfungen kurzerhand zur dritten Testphase erklärt. Da die mit Covaxin geimpften Personen wegen der Wirksamkeitsprüfung nachverfolgt werden müssen, werden sie genau erfasst – und müssen ihr Einverständnis geben.
Werden sie dies tun? Es ist naheliegend, dass eine Mehrheit der Impfkandidaten wegen dieser Unsicherheit das Covishield-Vakzin von AstraZeneca bevorzugen dürfte. Dies passt aber der Regierung nicht. Premierminister Modi will mit dem eigenen Produkt politisch punkten. Dank Covaxin und anderen Impfstoffen in Vorbereitung sei nun auch Indien eine biotechnologische Spitzennation, erklärte er.
Um eine Bevorzugung von Covishield zu vermeiden, hat die Behörde verfügt, dass die Impfstoff-Empfänger keine Wahl zwischen den beiden Varianten haben. Wie der Staat dies mit der Freiwilligkeit der Teilnahme (und ihrer Nachverfolgung) an einem noch nicht ausgetesteten Impfstoff vereinen will, bleibt unklar.
Fragen zur Wirksamkeit
Das Serum Institute of India (SII), die Herstellerin des Konkurrenzprodukts Covishield, tut ihr Möglichstes, sich ebenfalls als einheimische Produzentin zu positionieren. Allerdings ist das Problem bei diesem ausländischen Impfstoff nicht ein politisches. Es ist vielmehr der Umstand, dass es in Brasilien und Grossbritannien getestet worden ist. Damit sei unklar, behauptet die indische Biotech-Unternehmerin Kiran Mazumdar Shaw, ob die Wirksamkeit in einer Bevölkerung mit einem anderen Genpool gewährleistet sei.
In einem TV-Interview hat Mazumdar Shaw auf eine weitere Schwäche des AstraZeneca-Vakzins hingewiesen. Die von der Firma angegebene Effektivität von siebzig Prozent sei irreführend. Dies sei der Durchschnittswert von zwei unterschiedlichen Tests der Phase 3, von denen einer nur mit einer Gruppe von 800 Personen durchgeführt wurde. Sie spricht Covishield deshalb nur eine Effektivität von 62 Prozent zu.
Dennoch akzeptiert die Unternehmerin den Entscheid der Behörde, die Impfstoffe zuzulassen, da beide einen Immunitätsschutz bewiesen hätten. Was die Breitenwirkung angehe, seien sie ebenso gut (oder schlecht) wie alle anderen international zugelassenen Covid-Vakzine, einschliesslich jener von Pfizer und Moderna. Allesamt garantierten sie nur einen Schutz von vier Wochen. Erst bei der Nachfolge-Impfung würde sich erweisen, bei welchen der Schutz länger dauert.
Volles unternehmerisches Risiko
Fürs erste lieferten die beiden Firmen 16,5 Millionen Dosen aus. Dass das Serum Institute mit 11 Millionen die Nase vorn hat, ist der raschen Reaktion des Unternehmens aus Pune zu verdanken, als die Epidemie im März auch in Indien Fuss fasste. Der Besitzer des Unternehmens, dessen Nachname sinnigerweise Poonawalla lautet, schloss rasch drei entscheidende Kooperationen ab, die erste mit dem Oxford-Institut, dann folgte eine Finanzhilfe mit der Bill & Melinda Gates-Stiftung und schliesslich ein Liefervertrag mit einem indischen Joint-Venture der deutschen Glashütte Schott zur Herstellung von Glas-Ampullen.
Poonawalla baute neue Produktionsstrassen und konnte bereits im September mit der Herstellung von Covishield beginnen, lange bevor es seine Zulassung erhalten hatte. Er ging dabei kein geringes unternehmerisches Risiko ein, denn bei einem Misserfolg in der Prüfung hätte er 50 Millionen Spritzen verramschen müssen.
Stattdessen lagern heute in Pune 150 Millionen Ampullen. Mit einem weiteren Ausbau der Produktionskapazität auf 1,5 Milliarden Dosen pro Jahr wird das Serum Institut bald 100 Millionen pro Monat herstellen können.
Dennoch zeichnet sich bereits eine Knappheit bei den Lieferungen ab. Poonawalla hat mit einer Reihe von anderen Ländern Lieferverträge abgeschlossen, darunter für Covid-Impfstoffe wie Novavax und Codagenix. Zudem ist er der grösste Partner der Weltgesundheitsorganisation für dessen GAVI-Projekt (Global Alliance for Vaccines and Immunisation), das 67 armen Ländern billig oder kostenfrei Covid-Impfstoff liefern soll.
Weltgrösster Impfstoffproduzent
Dank den enormen Fabrikationskapazitäten als grösster Impfstoff-Hersteller der Welt kann SII Covishield für umgerechnet etwa zwei Euro anbieten, ein Drittel billiger als Covaxin und knapp über den Herstellungskosten. Es hat weit lukrativere Verträge mit europäischen Kunden zurückgestellt, um den explodierenden Bedarf nach Covid-Impfstoffen zu decken. Für den CEO, Adar Poonawalla, ist dies eine Form humanitärer Intervention.
Er kann sich dies leisten, weil das Serum Institute eine nicht-börsenkotierte Familienfirma ist. Poonawallas Vater zählt inzwischen, mit einem geschätzten Vermögen von 12 Mia. US$ zu den reichsten Indern. Genauso hemdsärmlig wie ihre Geschäftsphilosophie ist ihr Lebensstil. Poonawalla Junior hat sein Büro in einem umgebauten Airbus A-320 eingerichtet. Sein Wagenpark umfasst inzwischen 35 Edel-Sportmarken.
Ebenso unbekümmert ist das philanthropische Gebaren der Poonawallas. Frustriert über die Unfähigkeit der Stadtverwaltung von Pune, der Berge von Abfall Herr zu werden und diesen umweltgerecht zu entsorgen, importierte der Sohn auf eigene Faust 250 moderne Müll-LKWs aus Deutschland. Er baute eine Biogas-Anlage und handelte mit der Stadt einen Vertrag aus, für grosse Teile der Stadt die Müllentsorgung durchzuführen – kostenlos.
Der religiösen Minderheit der Parsen, der er angehört, versprach er, sie alle (insgesamt etwa 60’000 Erwachsene) ebenfalls kostenfrei zu impfen. Ich werde mich erkundigen, ob auch eingeheiratete Schweizer wie ich davon profitieren können.