Durch Covid bekamen wir einen Begriff von einer umfassenden globalen Krise, die alles stört: Das normale Leben – Lebensmittel einkaufen, Hochzeit halten, zur Arbeit gehen, die Eltern sehen – alles verändert sich dramatisch. Die Welt fühlt sich anders an, und jede Annahme über Sicherheit und Vorhersehbarkeit ist auf den Kopf gestellt. Wirst du einen Job haben? Wirst du sterben? Wirst du jemals wieder mit der U-Bahn fahren oder ein Flugzeug nehmen? Es ist alles anders, als wir es jemals gesehen haben.
Der Umbruch durch Covid-19 ist auch eine Art Generalprobe für die globale Erwärmung. Weil die Menschen die physische Funktionsweise des Planeten Erde grundlegend verändert haben, gehen wir einem Jahrhundert von Krisen entgegen, von denen viele gefährlicher sind als das, was wir jetzt durchleben. Hauptfrage ist, ob wir den Temperaturanstieg so eingrenzen können, dass wir diese Krisen, wenn auch mit Aufwand und Leid, bewältigen können, oder ob unsere Zivilisation überwältigt wird. Letzteres ist eine eindeutige Möglichkeit, wie Mark Lynas neues Buch «The Last Warning» schmerzlich deutlich macht.
Lynas ist ein britischer Journalist und Aktivist. 2007 veröffentlichte er im Vorfeld der Klimakonferenz von Kopenhagen ein Buch mit dem Titel «Sechs Grad: Unsere Zukunft auf einem heisseren Planeten». Das neue Buch erinnert an die frühere Arbeit, die schon keineswegs fröhlich war. Aber weil Wissenschaftler im letzten Jahrzehnt das Verständnis der Erdsysteme dramatisch verbessert haben, während unsere Gesellschaft dasselbe Jahrzehnt dazu verschwendet, um immer mehr CO₂ in die Atmosphäre zu pusten ist dieses Buch weit, weit dunkler. Lynas stützt sich auf solide Quellen und eine breite Palette veröffentlichter Forschungsergebnisse. Eröffnend sagt er, dass er lange davon ausgegangen sei, dass wir «den Klimawandel wahrscheinlich überleben könnten. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.»
Plus ein Grad in den letzten 250 Jahren
Die Nationen, welche fossile Brennstoffe in grossen Mengen verbrauchen, haben die Temperatur des Planeten seit der industriellen Revolution um mehr als ein Grad Celsius angehoben. Die Marke wurde 2015 überschritten, zufällig auch das Jahr, in dem wir in Paris die ersten wirklichen globalen Abkommen über Klimaschutzmassnahmen erreicht haben.
Ein Anstieg um ein Grad klingt nicht nach viel, aber es ist viel: Jede Sekunde fangen der Kohlenstoff und das Methan, die wir abgegeben haben, Wärme ein, die der Explosion von drei Hiroshima-Bomben entspricht. Seit 1959 wird auf dem Vulkan Mauna Loa in Hawaii die Kohlendioxid-Konzentration erfasst. Ende Mai dieses Jahres war ein neues Rekordhoch von etwa 417 ppm CO₂ erreicht, das sind 100 ppm mehr als zur Zeit unserer Ururgrosseltern, und mehr, als es in den letzten drei Millionen Jahren je gegeben hat (ppm = parts per million).
Während wir fahren, heizen, beleuchten und bauen, geben wir jährlich etwa 35 Milliarden Tonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre ab. Momentan nehmen Ozeane und Wälder etwas mehr als die Hälfte davon auf, aber diese Gnade wird in Zukunft nicht anhalten, und auf jeden Fall bedeutet dies, dass wir der Luft jährlich etwa 18 Milliarden Tonnen hinzufügen. Dies ist bei weitem der wichtigste Einflussfaktor für die Zukunft des Planeten.
Der Schaden, der bei einem Grad Erwärmung angerichtet wurde, ist beunruhigend und liegt in fast allen Fällen über dem, was Wissenschaftler vor dreissig Jahren vorhergesagt hatten (Wissenschaftler sind halt von Natur aus vorsichtig). Lynas nimmt uns mit auf eine Horrortour nach Grönland (wo die Eisschmelze bereits auf dem Niveau liegt, das einst für 2070 vorhergesagt wurde); in die Wälder der Welt (auf der ganzen Welt hat die Dauer der Waldbrandsaison um ein Fünftel zugenommen); in städtische Gebiete in Asien und im Nahen Osten, in denen in den letzten Sommern die höchsten zuverlässig gemessenen Temperaturen auf der Erde gemessen wurden, gegen 54 Grad.
Das ist die Welt mit einem Grad Erwärmung, in der ein Gürtel aus gebleichten Korallen über den Tropen zu sehen ist – ein neunzigprozentiger Zusammenbruch entlang des Great Barrier Reef, der grössten lebenden Struktur des Planeten – oder die entsetzlichen Szenen aus Australien, wo im Dezember Menschen ins Meer wateten, um den Feuerstürmen zu entkommen.
Fünf oder sechs Grad bis zum Ende des Jahrhunderts?
Das wäre einmal die Ausgangsbasis. Wir werden definitiv nicht cooler. Aber betrachten wir jetzt das eigentliche Problem, die zukünftige Entwicklung, die Wissenschaftler seit vielen Jahren zu vermitteln versuchen, die aber weder in der Öffentlichkeit noch bei den politischen Führern wirklich angekommen ist. In den Worten von Lynas:
«Auf dem aktuellen Erwärmungspfad könnten wir bereits Anfang der 2030er Jahre zwei Grad Globalerwärmung erreichen, die drei Grad um Mitte des Jahrhunderts und vier Grad bis 2075. Wenn wir mit positiven Feedbackschleifen Pech haben – vom Auftauen des Permafrosts in der Arktis bis zum Zusammenbruch tropischer Regenwälder – könnten wir bis zum Ende des Jahrhunderts fünf oder sechs Grad Globalerwärmung erreichen.»
Das ist ein lesenswerter Absatz, eine unverbrämte Zusammenfassung der verfügbaren Wissenschaft (eine Anfang Juli veröffentlichte Studie schätzt, dass wir die 1,5-Grad-Schwelle bis 2025 überschreiten könnten). Diese Sicht ist keineswegs abwegig und sie impliziert eine unvorstellbare Zukunft. Zwei Grad sind nicht doppelt so schlecht wie ein Grad, oder drei Grad dreimal so schlecht. Denn der Schaden nimmt nicht linear mit der Temperatur zu, sondern eher exponentiell, wobei bei steigender Temperatur jederzeit unvorhersehbare Kippunkte drohen. (Anmerkung des Übersetzers: Eine bestimmte Globalerwärmung heisst etwa das Doppelte oder mehr über den Landmassen, wo die Kühlung durch das Meer entfällt.)
Pariser Abkommen reicht nicht
Aber haben sich die Staats- und Regierungschefs der Welt im Pariser Klimaabkommen nicht verpflichtet, den Temperaturanstieg auf «weit unter» zwei Grad Celsius und so nahe wie möglich an 1,5 Grad zu halten? Sie taten es – in der Präambel. Aber dann fügten sie ihre tatsächlichen Zusagen Land für Land hinzu. Als Wissenschaftler diese Versprechen zusammenfassten – Emissionen zu senken, erneuerbare Energien aufzubauen, Wälder zu retten – und sie in einen Computer einspeisten, spuckte der die Nachricht aus, dass wir bei Einhaltung des Pariser Abkommens in diesem Jahrhundert auf eine Globalerwärmung um etwa 3,5 Grad zusteuern.
Und nicht genug Länder halten die Pariser Versprechen – tatsächlich haben sich unsere USA, die in den letzten zwei Jahrhunderten weitaus mehr Kohlenstoff produziert haben als jedes andere Land, vollständig von den Abkommen zurückgezogen, angeführt von einem Präsidenten, der den Klimawandel als Scherz bezeichnet. Der En-ROADS-Online-Simulator, der von Climate Interactive, einem gemeinnützigen Think-Tank, entwickelt wurde, sagt voraus, dass wir in diesem Jahrhundert einen globalen Temperaturanstieg von 4,1 Grad erwarten können. Alles in allem ist Lynas’ sorgfältige schrittweise Analyse eine direkte Prognose für unsere Zukunft und gleichzeitig eine Höllentour, es sei denn, wir ergreifen Massnahmen in einem Massstab, den derzeit nur wenige Nationen planen.
Folgen wir Lynas auf dieser Tour in die Hölle:
Bei einer um zwei Grad erhöhten Globaltemperatur sagt die Wissenschaft ziemlich sicher einen im Sommer eisfreien Arktischen Ozean voraus. Schon jetzt hat der Eisverlust im Norden die Wettersysteme dramatisch verändert, den Jetstream geschwächt und die Wetterverhältnisse in Nordamerika und anderswo destabilisiert.
Bei den zwei Grad könnten 40 Prozent der Permafrostregion abschmelzen, unter massiver Freisetzung von Methan und CO₂, was uns näher an die drei Grad bringen würde. Aber wir greifen vor: Zwei Grad werden wahrscheinlich auch den irreversiblen Verlust der Westantarktischen Eisdecke auslösen. Selbst vorsichtige Schätzungen des resultierenden Meeresspiegelanstieges lassen erwarten, dass dadurch 79 Millionen Menschen vertrieben werden. Und der Schutz gefährdeter Städte entlang der Ostküste der USA hinter Deichen und Mauern würde bis zu einer Million US-Dollar pro Person kosten. Lynas folgert: «Ich vermute, niemand wird so hohe Kosten für Deiche bezahlen wollen, und die am stärksten gefährdeten (und ärmsten) Gemeinden werden einfach aufgegeben.»
Früher hofften die Forscher, dass eine Erwärmung um zwei Grad die Lebensmittelproduktion tatsächlich leicht steigern könne, aber «jetzt sehen diese rosigen Erwartungen gefährlich naiv aus.» Lynas zitiert jüngste Studien, in denen vorausgesagt wird, dass zwei Grad die globale Lebensmittelverfügbarkeit um etwa 99 Kalorien pro Kopf und Tag verringern werden – und auch diese Last wird selbstverständlich nicht gleichmässig oder gerecht verteilt werden.
Wie ein Förderband nach Süden
Städte werden stetig heisser: Die derzeitige Erwärmung bedeutet, dass sich alle Menschen auf der Nordhalbkugel gewissermassen mit einer Geschwindigkeit von etwa 19 Kilometern pro Jahr nach Süden bewegen. Das ist ein halber Millimeter pro Sekunde, was mit blossem Auge eigentlich leicht zu erkennen ist: «Ein sich langsam bewegendes riesiges Förderband», das uns «immer tiefer in die Subtropen transportiert, mit der gleichen Geschwindigkeit wie der Sekundenzeiger einer kleinen Armbanduhr.»
Aber dieser statistische Durchschnitt maskiert Extreme: Wir können immer stärkere Hitzewellen erwarten, so dass beispielsweise in China Hunderte Millionen Menschen mit Temperaturen umgehen müssen, denen sie noch nie zuvor begegnet sind. Die natürliche Welt wird dramatisch leiden – 99 Prozent der Korallenriffe werden wahrscheinlich sterben: Eine der faszinierendsten (und produktivsten) Ecken der Schöpfung wird auf «abgeflachte, algenbedeckte Trümmer» reduziert.
Drohender Zusammenbruch bei drei Grad
Wenn wir darüber hinaus zu drei Grad Globalerwärmung gehen, «wird das unsere Zivilisation bis zum Zusammenbruch belasten». Die drei Grad bringen uns auf ein Niveau globaler Hitze, das noch kein Mensch erlebt hat – letztmals so warm war es vor drei Millionen Jahren im Pleistozän.
In seinem ersten Buch berichtete Lynas, dass Wissenschaftler den Zusammenbruch der Westarktischen Eisdecke bei vier Grad erwarteten. Wie oben ausgeführt, erwartet man den Zusammenbruch heute früher, bei zwei Grad Erwärmung ist er eine tödliche Möglichkeit, bei drei Grad eine Gewissheit. Höhere Meeresspiegel bedeuten, dass Sturmfluten wie der Superstorm Sandy vom Jahr 2012 durchschnittlich dreimal im Jahr zu erwarten sind.
In einer Dreigrad-Welt werden die rekordverdächtigen Hitzewellen von 2019 «als ungewöhnlich kühler Sommer gelten». Über eine Milliarde Menschen würden in Zonen des Planeten leben, «in denen es unmöglich wird, ausserhalb künstlich gekühlter Umgebungen sicher zu arbeiten, selbst im Schatten». Der Amazonas stirbt, der Permafrost bricht zusammen. Die Veränderung verstärkt sich selber: Bei drei Grad wird die Reflexion des Planeten stark vermindert, weil weisses Eis, das den Sonnenschein zurück in den Weltraum reflektiert, durch blaues Meer oder braunes Land ersetzt wird, das diese Strahlen absorbiert und den Prozess verstärkt.
50 Grad an 50 Tagen pro Jahr in New York
Und dann kommen die vier Grad: Der Mensch als Spezies ist damit nicht vom Aussterben bedroht – noch nicht. Aber die fortschrittliche industrielle Zivilisation mit ihrem ständig steigenden Materialverbrauch, Energieverbrauch und Lebensstandard – das System, das wir Modernität nennen – kommt ins Wanken.
An Orten wie Texas, Oklahoma, Missouri und Arkansas werden die Höchsttemperaturen jedes Jahr höher sein als die 50 und mehr Grad, die man jetzt im Death Valley findet. Drei Viertel der Weltbevölkerung werden «mehr als zwanzig Tage pro Jahr tödlicher Hitze ausgesetzt sein» – in New York fünfzig Tage pro Jahr, in Jakarta alle Tage des Jahres. Ein «Gürtel der Unbewohnbarkeit» wird durch den Nahen Osten verlaufen, den grössten Teil Indiens, Pakistans, Bangladeschs und Ostchinas. Die Ausweitung der Wüsten wird ganze Länder «vom Irak bis nach Botswana» verbrauchen.
Je nach Studie steigt das Risiko von sehr grossen Bränden in den westlichen USA zwischen 100 und 600 Prozent; das Hochwasserrisiko in Indien steigt um das Zwanzigfache. Derzeit ist das Risiko, dass die grössten Getreideanbaugebiete aufgrund von Dürre gleichzeitig Ernteausfälle erleiden, praktisch Null, aber bei vier Grad steigt diese Wahrscheinlichkeit auf 86 Prozent.
Riesige marine Hitzewellen werden die Ozeane durchkämmen: «Eine Studie geht davon aus, dass die Meerestemperaturen in einer Welt mit vier Grad in vielen tropischen Meeresökoregionen über der thermischen Toleranzschwelle von 100 Prozent der Arten liegen werden.» Das Aussterben an Land und auf See wird sicherlich das schlimmste seit dem Ende der Kreidezeit vor 65 Millionen Jahren sein, als ein Asteroid dazu beitrug, das Zeitalter der Dinosaurier zu beenden. «Der Unterschied», bemerkt Lynas, «besteht darin, dass der ‘Meteor’ diesmal Jahrzehnte im Voraus sichtbar war, aber wir haben uns einfach abgewandt, als er am Himmel immer grösser wurde.»
Horror bei fünf oder gar sechs Grad
Wir werden nicht lange bei Lynas' Beschreibungen darüber verweilen, was bei fünf oder sechs Grad Globalerwärmung passiert. Diese sind leider nur allzu plausibel – besonders wenn die Menschheit sich nicht auf eine Kursänderung einigt – aber sie sind pornographisch. Wenn die Erwärmung dieses Ausmass erreicht, werden die Lebenden die Toten wirklich beneiden: Eine Welt, in der die Menschen versuchen, sich nach Patagonien oder vielleicht auf die Südinsel Neuseelands zu drängen, eine Welt, in der massive Monsune den Boden bis zum Felsen wegspülen. wo die Ozeane anoxisch oder völlig ohne Sauerstoff sind.
Vergessen wir die Präzedenzfälle der Kreidezeit und der Asteroideneinschläge – bei sechs Grad nähern wir uns dem Schaden, der zu Ende des Perms eintrat, der grössten biologischen Katastrophe in der Geschichte des Planeten, als vor 250 Millionen Jahren 90 Prozent der Arten verschwanden. Ist das übertrieben? Nein, denn momentan erhöhen unsere Autos und Fabriken die CO₂-Konzentration des Planeten ungefähr zehnmal schneller als die riesigen sibirischen Vulkane, die damals die Katastrophe ausgelöst haben.
Mehr Optionen als je zuvor
Angesichts der Klimakrise ist die Rückkehr zum «Normalen» kein realisierbares Ziel – niemand wird einen Impfstoff herstellen (*). Das heisst nicht, dass wir keine Möglichkeiten haben. Tatsächlich haben wir derzeit mehr Optionen als zu irgendeinem früheren Zeitpunkt, aber wir müssten sie in dramatischem Umfang und mit dramatischer Geschwindigkeit einsetzen.
Zum einen haben die Ingenieure ihre Arbeit gut gemacht. Vor etwa einem Jahrzehnt begann der Preis für erneuerbare Energien zu sinken, und dieser Rückgang beschleunigt sich weiter. Der Preis pro Kilowattstunde Solarenergie ist seit 2010 um 82 Prozent gefallen. In diesem Frühjahr wurde in den sonnigen Wüsten Dubais der Zuschlag für die weltweit grösste Solaranlage abgegeben, sie produziert für etwas mehr als einen Cent pro Kilowattstunde. Der Preis für Windkraft ist fast ebenso dramatisch gefallen. Jetzt rasen die Batterien die gleiche Kurve hinunter. In vielen Jahren wird es vielerorts tatsächlich billiger sein, neue Solaranlagen zu bauen, als bereits gebaute und bezahlte Gas- und Kohlekraftwerke weiter zu betreiben. (Das liegt daran, dass die Sonne die Kraft gratis liefert.)
Aus diesen Gründen und aufgeschreckt durch Kampagnen setzen sich Investoren für erneuerbare Energien ein. Damit wird auch die Macht der fossilen Brennstoffindustrie geschwächt, die ihre Schlagkraft seit drei Jahrzehnten genutzt hat, um den Übergang zu neuen Energieformen zu blockieren.
Aber die Wirtschaft selbst wird uns nicht schnell genug bewegen. Trägheit ist eine mächtige Kraft – Trägheit und die Notwendigkeit, Billionen an «gestrandeten Vermögenswerten» aufzugeben: Riesige Öl- und Gasreserven, die derzeit den Wert von Unternehmen (und von Ländern, die sich wie Unternehmen verhalten – man denke an Saudi-Arabien), stützen, müssten im Boden belassen werden. Infrastrukturen wie Pipelines und Kraftwerke müssten lange vor Ablauf ihrer Nutzungsdauer geschlossen werden. Dieser Prozess würde wahrscheinlich mehr Arbeitsplätze schaffen als beseitigen, denn fossile Energie ist in der Regel kapitalintensiv, während erneuerbare Energien arbeitsintensiver sind. Aber die politischen Systeme reagieren eher auf drohende Arbeitsplatzverluste als auf ihren möglichen Ersatz.
Von den ärmsten Nationen sollte nicht erwartet werden, dass sie für den Übergang so viel bezahlen wie die reichen Nationen: Sie sind bereits belastet mit den horrenden Kosten des Meeresspiegelanstiegs und der Gletscherschmelze, zu deren Verursachung sie kaum beigetragen haben. Auch ohne Führer wie Trump ist der erforderliche Aufwand enorm – genau deshalb blieben die Zusagen der Unterzeichner in Paris so weit hinter den selbstgesetzten Zielen zurück. Und Führer wie Trump scheinen sich zu vermehren: Der Brasilianer Jair Bolsonaro kann die Klima-Mathematik im Alleingang ändern, indem er einfach weiterhin den Amazonas entwaldet. Es wird eine mächtige und andauernde Bewegung erfordern, um den Wandel zu beschleunigen.
Was Lynas’ Buch vielleicht etwas deutlicher hätte machen sollen, ist, wie wenig Spielraum wir haben, um diese Aufgaben zu erfüllen. In einer Coda schreibt er tapfer: «Es ist nicht zu spät, und tatsächlich wird es nie zu spät sein. So wie 1,5 Grad besser als 2 Grad ist, so ist 2 Grad besser als 2,5 Grad, 3 Grad ist besser als 3,5 Grad und so weiter. Wir sollten niemals aufgeben.»
Dies ist zumindest emotional unbestreitbar. Nur machen die von ihm zitierten Studien deutlich, dass zwei Grad Erwärmung Rückkoppelungen erzeugen können, die uns automatisch höher treiben. Ab einem bestimmten Punkt wird es zu spät sein. Die erste dieser Fristen könnte 2030 sein – das Intergovernmental Panel of Climate Change (IPCC) teilte 2018 mit, dass wir bis zu diesem Datum eine grundlegende Umgestaltung der Energiesysteme benötigen, da sonst die in Paris festgelegten Ziele unerreichbar blieben. (Mit «grundlegender Transformation» war ein Rückgang der Emissionen um 50 Prozent gemeint) Das heisst, die Jahre, in denen wir noch grösste Hebelwirkung und Einfluss haben, können wir an unseren zehn Fingern abzählen.
Die Zeit nutzen
Die Covid-Pandemie zeigt, wie wichtig der Zeitfaktor in solchen Krisen ist. Südkorea und die USA meldeten die ersten Fälle am selben Januartag. Amerikas Regierung und Präsident verschwendeten den Februar mit Zögern und Twittern. Und jetzt ist Seoul nahe an der Normalität, und in den USA sind wir dem Chaos nahe. (An einem einzigen Julitag meldete Florida mehr Fälle als Südkorea in der ganzen Pandemie.) Und so wie die USA den Februar verplemperten, verplemperten wir für den Planeten dreissig Jahre. Geschwindigkeit ist wichtiger denn je. Die Proteste von Black Lives Matter erinnern daran, dass Aktivismus erfolgreich sein kann und dass Umweltbemühungen stark mit anderen Kampagnen für soziale Gerechtigkeit verbunden sein müssen. Der von der Biden-Kampagne im vergangenen Monat angekündigte Klimaplan ist ein glaubwürdiger Start für die notwendigen Anstrengungen.
Die Pandemie gibt auch einen tauglichen Masstab dafür, wie viel wir ändern müssen, um die Klimakrise zu bewältigen. In diesem Frühjahr haben wir mit «business as usual» eine Zeit lang aufgehört, fast auf der ganzen Welt, und unseren Lebensstil weitaus mehr verändert, als wir je für möglich gehalten hatten. Wir haben aufgehört zu fliegen, haben aufgehört zu pendeln, haben viele Fabriken gestoppt. Im Endeffekt sind die Emissionen gesunken, aber nicht so stark, wie man hätte erwarten können: Nach vielen Berechnungen kaum mehr als 10 oder 15 Prozent. Das deutet darauf hin, dass der grösste Teil der Faktoren, die unsere Erde zerstören, fest in unseren Systemen eingebaut und verdrahtet sind. Nur wenn wir diese Systeme angreifen, indem wir die mit fossilen Brennstoffen betriebenen Eingeweide herausreissen und durch erneuerbare Energien und weitaus effizientere Techniken ersetzen, können wir die Emissionen so weit senken, dass wir eine Chance haben. Und zwar – das macht Lynas leider klar – nicht die Chance, die globale Erwärmung zu stoppen. Aber wenigstens eine Chance, sie zu überleben.
(*) Einige fordern «Geoengineering»-Lösungen für die globale Erwärmung – Techniken wie das Sprühen von Schwefeldioxid in die Atmosphäre, um die einfallenden Sonnenstrahlen zu blockieren. Das würde nichts dazu beitragen, die andere schlimme Krise zu verlangsamen, die durch den Kohlenstoffstoss verursacht wird: Die Versauerung der Ozeane. Und man könnte damit durchaus neue Formen des Chaos anrichten.
Übersetzung der Rezension von Bill McKibben über das Buch von Mark Lynas: The last warning: Six degrees climate emergency, London, 4th Estate, 372 S., in: New York Review of Books, 20. August 2020
Übersetzung: Lukas Fierz
Veröffentlicht mit Erlaubnis der New York Review of Books