Christoph Blocher hat recht: Das war ein tiefer Einschnitt in der Schweizer Politik. Sein Sieg hat eine Distanz zur EG (wie die EU damals noch hiess) einbetoniert, die gemäss Umfrage heute noch in den Köpfen einer grossen Mehrheit von Schweizerinnen und Schweizern herrscht.
Kolonien, Herr Blocher?
Doch andere Aussagen Blochers sind krasse Verzerrungen. Noch diesen Samstag in der NZZ: „Der EWR ist ein Kolonialvertrag“. Herr Blocher, damit sagen Sie, dass 36 Länder Europas: die EU- und EWR-Mitglieder, die Beitrittskandidaten des Balkans und die Türkei Kolonien sind und sein wollen. Merken Sie, welche Beleidigung das ist für 600 Millionen Europäer? Und: Kolonien von wem? Natürlich, von der EU. Aber diese Super-EU, die Sie dem Volk vorspiegeln, die ihren Kolonien diktiert was sie zu tun haben, die existiert nur in Ihren Panikphantasien.
Auch wenn das den härtesten Clichés widerspricht: In der EU wird wie in der Schweiz alles demokratisch und föderalistisch entschieden. Ihre höchsten Entscheidungsorgane sind das von allen EU-Bürgern proportional gewählte EU-Parlament und der Ministerrat, in welchem je ein Minister ihres Mitgliedlandes sitzt. Parlament und Rat handeln in einem gleichberechtigten Zusammenspiel, das unserer Diffenzbereinigung zwischen National- und Ständerat gleicht, die Kompromisse aus, die zu EU-Gesetzen werden. Die EU-Kommission, für viele der Inbegriff des „Diktats aus Brüssel“, hat nichts zu beschliessen, sie muss nur gutdurchdachte Textvorschläge für diese Gesetze vorlegen und diese dann durchführen, wenn sie beschlossen worden sind. Parlamentarier und die Minister jedes Mitgliedlands sind die obersten Herren in Brüssel. Wie in der Schweiz stimmen sie ab, und die Unterlegenen unterziehen sich der Mehrheit.
Herr Blocher, sind Sie „das Volk“?
Undemokratisch und unschweizerisch ist für den Politiker, der sich als heroischer Verteidiger von Schweizertum und Demokratie gibt, dass Sie sich seither als „das Volk“ verstehen. 49,7 Prozent Ihres Volkes haben damals gegen Ihre Parole Ja gestimmt! Die Hälfte der Stimmenden! 4 Promille hätten gereicht, um das Nein in ein Ja zu verwandeln, Sie aber sagen seither „das Volk“ sei gegen eine Annäherung an die EU. Gehören jene 49,7 Prozent für Sie nicht zum Volk? Bitte kein Missverständnis: Sie haben das Recht, Ihre Meinung zu sagen und für sie in einer Abstimmung zu kämpfen, Sie haben die Mehrheit gewonnen und das wird akzeptiert. Das Recht, Ihre Meinung zu der „des Volks“ zu proklamieren, haben Sie aber nicht.
Das Ständemehr war verfassungswidrig!
15 Kantone stimmten Nein, das wäre nicht zu korrigieren gewesen. Aber es ist zweifelhaft, ob ihre Mitsprache überhaupt verfassungsmässig war. Artikel 89 der 1992 geltenden Bundesverfassung über unsere Staatsverträge verlangte das Ständemehr nur für den Beitritt zu „supranationalen Gemeinschaften“. Um den EWR eine supranationale Gemeinschaft zu finden, braucht es aber ein extensives, in der Verfassung nicht präzisiertes, in der Angstphantasie von Demagogen wütendes Verständnis des Wortes „supranational“. Eine Mehrheit in den Räten fand halt, die Sache sei so wichtig, dass man auch die Stände befragen müsse, und beugte die Verfassung helvetisch-pragmatisch-rechtsverletzend nach dieser Ansicht zurecht.
Woher kamen die 50,3 Prozent?
4 Promille gaben den Ausschlag! Die kleinste Stimmungsschwankung hätte das Nein in ein Ja verkehrt – und der kleinste Fehler der Ja-Front half dem Triumph des Neins. Hier eine (kleine) Auswahl.
Ogis „Trainingslager“...
Unser Verkehrsminister Adolf Ogi, das EG-freundliche SVP-Kuckucksei im Bundesrat, bezeichnete den EWR einmal als „Trainingslager für den EG-Beitritt“. Das war der Sache nach richtig, er hatte ja den Zweck, seine Länder am EU-Binnenmarkt teilnehmen zu lassen, ohne aus ihnen EU-Mitglieder zu machen. Und der Bundesrat hatte den EU-Beitritt zum „strategischen Ziel“ erklärt, ohne einen Zeitpunkt dafür zu nennen. Die Öffentlichkeit schloss jedoch aus dem unglücklichen „Trainingslager“ sofort, ein EWR-Ja sei ein Steilpass für ein sofortiges Beitrittsgesuch. Ein EG-Beitritt war für aber eine klare Mehrheit undiskutabel.
...und das EG-Beitrittsgesuch
Nun konnte der Bundesrat lange erklären, „strategisches Ziel“ heisse keineswegs „sofortiger Beitritt“ und das Volk werde gemäss Bundesverfassung sowieso Nein sagen können – das Volk glaubte ihm nicht mehr. Das Misstrauen, er wolle nach einem EWR-Ja in die EG stürmen, war nicht mehr auszurotten. Bis dahin hatte der EWR als Alternative zum Beitritt gegolten - aber wenn er ein Sprungbrett dazu war, musste man Nein stimmen.
Diese Zweideutigkeit brachte den Bundesrat paradoxerweise dazu, ein Gesuch um EG-Beitrittsverhandlungen zu beschliessen! Mitten in der heissen Kampagne für und wider den EWR! Heute stellen die Medien dieses Gesuch als den entscheidenden Fehler dar, der zum EWR-Nein geführt habe. Sie vergessen, dass sie den Bundesrat damals bestürmten, es einzureichen! Wenn er ein Ja wolle, müsse er „Klarheit schaffen“, ob nach einem EWR-Ja ein Beitrittsgesuch komme oder nicht. Klarheit war aber nur auf zwei Arten zu schaffen: Entweder bekannte sich der Bundesrat zum Ziel des EG-Beitritts – oder er versprach dem Volk: „Auch nach einem EWR-Ja kein Beitrittsgesuch“. Letzteres war einer Regierung, die aussenpolitisch beweglich bleiben wollte, in jener Lage nicht zuzumuten: Ein kategorischer Verzicht auf die Beitrittsoption hätte die Schweiz auf Jahre hinaus europapolitisch eingeschnürt und zur Isolation verdammt, denn alle vier grossen EFTA-Partner hatten EG-Beitrittsgesuche gestellt und drei von ihnen traten ihr drei Jahre später auch bei, wir drohten mutterseelenallein in der EFTA zu bleiben.
4 gegen 3
Noch ein Zufall, der das Nein in ein Ja verwandelt hätte: Die Mehrheit im Bundesrat war von einer einzigen Stimme abhängig! Die drei „Lateiner“ Felber, Delamuraz und Cotti waren für das Beitrittsgesuch, die drei Deutschschweizer Koller, Villiger und Stich dagegen, ihre drei Regierungsparteien FDP, CVP und SP gespalten. Hätte die SVP 1987 einen EU-Skeptiker zu ihrem Bundesratskandidaten gemacht, dann hätte er 1992 gegen das Beitrittsgesuch gestimmt. Dass im Bundesrat eine Mehrheit gegen den EG-Beitritt sei, hätte die Ängste vor einem Beitrittsgesuch ausgeräumt, und die 4 Promille mehr Ja zum EWR wären sicher gewesen.
Ogi kippte jedoch die Abstimmung in eine 4:3-Mehrheit für das Beitrittsgesuch. Dass es gerade am 18.Mai 1992 beschlossen wurde, war eine euphorische Überstürzung: Bundespräsident René Felber musste an jenem Montag ins Spital aber wollte vorher noch mitstimmen – ein Ja am Sonntag vorher zum Schweizer Eintritt in den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank schien gerade gezeigt zu haben, das Volk sei internationalen Bindungen nicht angeneigt – und diese Euphorie trieb den Bundesrat dazu, seinen Beschluss den nichtsahnenden Schweizern nicht in Bern zu verkünden sondern in Luxemburg, um drei Uhr früh improvisiert an der Pressekonferenz nach der Einigung in den EWR-Verhandlungen.
Die Medien schlafen
Zum Nein trug auch eine unverständliche Schläfrigkeit der Medienwelt bei. Wir waren damals in Brüssel vier hauptamtliche Korrespondenten, zwei von der NZZ, einer vom Tagesanzeiger und ich für die Basler Zeitung, den „Bund“ und drei Regionalzeitungen in Sankt Gallen, Luzern und Winterthur. Lächerlich ungenügend um das Stimmvolk über die unsere Zukunft bestimmenden EWR-Verhandlungen zu informieren. Plötzlich nach dem Schock des Neins erwachten die Medien und schickten zehn weitere Korresponenten nach Brüssel.
Die landesweit deckenden Radio DRS und die Depeschenagentur SDA liessen sich von zwei AusländerInnen über unsere EWR-Verhandlungen informieren. Die eine bediente DRS nur gelegentlich neben ihrer Hauptarbeit für einen deutschen Sender. Die andere machte den EWR - mit subtiler Wortwahl ohne die Fakten zu verfälschen, das können wir Journalisten - so schlecht wie möglich, weil sie ihre Landsleute (die Österreicher) für den Beitritt motivieren wollte.
Und in der NZZ entdeckten die Schweizer an einem Montagmorgen den Titel „Wucherpreis für den EWR“, der die Schweizer Debatten von Unschlüssigkeit in Skepsis umschlagen liess. Der Kollege referierte korrekt ein Hintergrundgespräch mit einem hohen Schweizer Diplomaten, der uns die feste Haltung des Bundesrates nahebringen wollte. Weil gerade keine andere Sensation vorhanden war geriet der Wucherpreis aus den Wirtschaftsseiten als fetter Spitzentitel auf die Front des Montagsblatts. Und ein im Sonntagsdienst alleingelassener Jungredaktor hatte das von Manfred Rist gesetzte Fragezeichen gestrichen.
Die Befürworter schiessen einen Bock
Schwerer als diese Zufälle wog ein Strategiefehler der EWR-Befürworter. Bundesrat, Parlament und die ganze Wirtschaft kannten das Misstrauen gegen eine Annäherung an die EG via EWR und verharmlosten seine Bedeutung: Er sei ja bloss ein Wirtschaftsvertrag, eine simple Fortsetzung des Freihandels mit der EG.
Und hier ist Blocher wieder ein Kompliment zu machen: Er spürte am EWR sofort das Hochpolitische heraus. Der EWR ist ein politischer Sprung. Im Freihandel in der EFTA und mit der EG blieben wir autonom, niemand konnte uns zu etwas zwingen was wir nicht wollten ausser dem harmlosen Zollabbau. Der quasi existentielle Zugang zum EG-Binnenmarkt war jedoch nur zu haben, wenn wir uns im EWR Mehrheitsabstimmungen unterzogen. Und hier muss Blocher scharf widersprochen werden: Mehrheitsabstimmungen sind kein Diktat, kein Kolonialismus! EU und EWR entscheiden in wichtigen Fragen nie gegen vitale Interessen eines Mitglieds, und bei den anderen ist man oft bei der Mehrheit. Wie ein Schweizer Kanton im Bundesstaat.
Ende der Fahnenstange?
Noch viele andere Imponderabilien spielten damals zwischen Ja und Nein das Zünglein an der Waage. Ein Zufallsmehr von einigen Promille hat 1992 unser Land auf einen von keinem anderen befolgten Sonderweg misstrauischer Distanz von der Europäischen Union geführt. Bilaterale Abkommen, welche uns die EU gnädig gewährt hat, haben uns zwanzig Jahre lang ein Rosinenpicken im Binnenmarkt erlaubt. Seit einem Jahr scheint es, dass die EU nicht mehr so gnädig bleiben will. Wenn wir uns nicht dem Nachvollzug der ohne unsere Mitwirkung beschlossenen Binnenmarktregeln unterziehen, droht sie uns den Weg des Bilaterialismus zu verschliessen. Dann bleiben uns nur die drei Optionen, die 1992 eine Mehrheit von 50,3 Prozent vom Tisch fegte: EWR, EU-Beitritt oder Alleingang.