Über 2400 km erstreckt sich der Berm, ein von Landminen, elektrischen Zäunen und Stacheldraht geschützter, mannshoher Wall, von der Atlantikküste durch unwirtliche, mal sandige, mal steinige, Wüstengebiete der Sahara bis in das Rifgebirge, nach der Chinesischen die zweitlängste Mauer der Welt. Sie soll die ehemalige spanische Kolonie in der Westsahara vor ihren ursprünglichen Bewohnern, den Sahraouis, schützen.
Seit 1965 forderte die UN-Generalversammlung wiederholte Male die Dekolonisierung der Westsahara. Marokkos König Hassan II. beanspruchte die Kolonie als Teil seines Landes, die UNO stellte fest, dass die Bevölkerung die Unabhängigkeit wünsche, und der Internationale Gerichtshof, dessen Zuständigkeit von Marokko nicht anerkannt wurde, wies die Souveränitätsansprüche Marokkos und Mauretaniens zurück. Als sich Spanien schliesslich nach General Francos Tod 1975 aus seiner Kolonie zurückzog, marschierten 350’000 Marokkaner in einem sogenannten „Grünen Marsch“ gen Süden und besetzten das Gebiet.
Ein teurer Konflikt
Seither nutzt Marokkos königliche Familie den Disput um den Status der Ex-Kolonie, um ihre Position gegenüber dem Militär zu stärken, und behauptet, die Westsahara habe schon vor der spanischen Kolonisierung zu Marokko gehört. Die Polisario widerspricht dieser Darstellung. Ihr Volk habe in Jahrhunderten als Halbnomaden und Hirten eine eigene Kultur entwickelt. Auch Geschichtsbüchern ist zu entnehmen, dass Marokko das Territorium kaum kontrollierte. 1767 hatte der marokkanische Sultan dem spanischen König geklagt, die Stämme seien „weitgehend isoliert von meinem Herrschaftsgebiet, und ich habe keine Macht über sie.“
Die Besatzung kommt das Königreich teuer zu stehen. Der marokkanische Ökonom Fouad Abdelmoumni von Transparency International meint, Marokkos Militäreinsatz, Investitionen in die Infrastruktur und Arbeitslosenunterstützung (um die Sahraouis an Marokko zu binden) habe das Königreich seit 1975 rund 862 Milliarden Dollar gekostet. Und König Mohammed VI. gab zu, dass ihn jeder Dirham Gewinn, den sein Land in der Westsahara mache, das Siebenfache koste.
Am 26. Februar 1976 stimmten eine Reihe sahraouischer Clanchefs der Aufteilung der Westsahara zwischen Marokko und Mauretanien zu. Nur einen Tag später rief die Polisario (Frente Popular para la Liberación de Saguia el-Hamra and Río de Oro), die bereits gegen die spanische Kolonialmacht gekämpft hatte, die Demokratische Arabische Republik Sahara aus und führte fortan ihren Krieg gegen den neuen Besatzer fort. Als die Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) 1984 die DAR Sahara aufnahm, trat Marokko aus und blieb bis Januar 2017 das einzige afrikanische Land, das nicht Mitglied dieser Organisation war.
Lösungsvorschläge
Sechzehn Jahre lang, bis 1991, als die beiden Kontrahenten nach dem Kollaps des Ostblocks einen Waffenstillstand und ein Referendum vereinbarten, führte die Polisario von ihren Stützpunkten im algerischen Tindouf aus, wo 170’000 Sahraouis in Flüchtlingslagern hausen, einen zermürbenden Guerillakrieg gegen die marokkanische Besatzungsmacht und warf ihr vor, „Afrikas letzte Kolonie“ zu plündern, die reichen Fischgründe vor der Küste und die riesigen Phosphatvorkommen, die im Tagebau bei Bou Craa abgebaut und auf dem längsten Förderband der Welt in den Hafen von El Aaiún transportiert werden.
Schliesslich schlug der ehemalige US-Aussenminister James Baker III, der sich des Problems im Auftrag der Vereinten Nationen annahm, die Selbstregierung unter Aufsicht einer von den UN ernannten Westsahara-Autorität vor, der nach fünfjähriger Amtszeit ein Referendum über die Unabhängigkeit folgen sollte. Diesem Vorschlag stimmten nach anfänglichem Zögern Algerien und die Polisario zu. Im Juli 2003 nahm der UN-Sicherheitsrat den Plan einstimmig an und rief alle Beteiligten auf, den Plan auszuführen. Marokkos König Mohammed jedoch, der ein eindeutiges Votum für die Unabhängigkeit befürchtete und inzwischen jeden Plan, der diese Option einschloss, ablehnte, warnte den amerikanischen Präsidenten in einem Brief, dort könnten sich „terroristische Gruppen niederlassen“. Daraufhin liessen die USA auch diesen Plan fallen, und James Baker trat unter Protest zurück.
2017 übernahm der ehemalige Bundespräsident und Direktor des Weltwährungsfonds Horst Köhler den Job als UN-Sondergesandter für die Region, der schon lange die Lösung solcher offenen Fragen in Afrika forderte, um den Flüchtlingsstrom einzudämmen. Und tatsächlich gelang ihm ein erster Erfolg. Zunächst lehnte Marokko ein Treffen mit der Polisario ab. Die beiden Kontrahenten konnten sich nicht einmal über die Form des Verhandlungstisches einigen. Doch Köhler gelang es, allen Seiten Konzessionen abzuringen. Am 5. und 6. Dezember trafen sich schliesslich Vertreter aus Marokko, Mauretanien, Algerien und der Polisario bei einem Schweizer Fondue in Genf zu Gesprächen „in respektvoller Atmosphäre und Umgebung“, wie Marokkos Botschafter bei den Vereinten Nationen Omar Hilale anschliessend erklärte.
„Wir wollen ein Referendum“
Zwar einigte man sich – wie kaum anders zu erwarten – auf nicht mehr als ein Kommuniqué, in dem weitere Gespräche in den kommenden Monaten vereinbart wurden. Zwar „steht ein Referendum nicht zur Debatte“, lehnte Hilale auch hier die Forderung der Polisario ab. Doch US-Präsident Trumps Sicherheitsberater John Bolton scheint ein Referendum zu unterstützen: „Wissen Sie, als Amerikaner bin ich für Abstimmungen. Alles was wir wollen, ist ein Referendum. 27 Jahre sind nun schon vergangen (seit 1991) und der Status des Gebiets ist immer noch ungelöst. Ich denke, da müsste auf alle Beteiligten starker Druck ausgeübt werden, um zu sehen, ob sie die Sache nicht regeln können.“
Eile scheint geboten. Unter der modern und westlich eingestellten nachwachsenden Generation von Sahraouis wächst der Unmut über den fehlenden Fortschritt. Die Polisario hat zwar bedeutende Fortschritte im sozialen Gefüge der Gesellschaft erreicht, Klassen-, geschlechtliche und rassische Unterschiede in ihrer Kultur abgeschafft. Frauen in den Flüchtlingslagern erfreuen sich Freiheiten und Einfluss, die in anderen Teilen der muslimischen Welt unvorstellbar wären: Frauen können Gäste zuhause und alleine empfangen, sich scheiden lassen und ohne männliche Begleitung nach Mekka fahren. Die Polisario hat die Sklaverei abgeschafft, die noch vor wenigen Dekaden praktiziert wurde und in Teilen Mauretaniens immer noch üblich ist.
Doch nun wächst die Ungeduld. „Wir haben 44 Jahre lang im Widerstand gelebt“, zitierte das amerikanische Wochenmagazin „The New Yorker“ einen jungen Mann in einem der Flüchtlingslager um Tindouf. „Wir sind überzeugt, der einzige Weg vorwärts ist Krieg.“
UN-Mitarbeiter in den Lagern bestätigen, dass die alte Polisario-Führung von jüngeren, radikaleren Sahraouis herausgefordert werde. „Bei all ihren Fehlern ist es der alten Garde der Polisario doch gelungen, die radikaleren Elemente unter Kontrolle zu halten“, sagt Anna Theofilopoulou, eine ehemalige UN-Mitarbeiterin und Kennerin der Situation. „Auch jetzt sieht sich die Polisario-Führung von der jüngeren Generation kritisiert und herausgefordert, weil sie den UN-Bemühungen folgt, die kaum mehr bringen werden, als Baker schon erreicht hat.“
Gesetzwidrige EU-Politik
Doch während amerikanische und europäische Diplomaten an einer Lösung des Konfliktes arbeiten, verfolgt die Europäische Union ohne Rücksicht auf diese Bemühungen ihre nur auf Profitmaximierung und auf das Ziel, afrikanische Flüchtlinge aus Europa fernzuhalten, ausgerichtete Politik. Anfang des Jahres, am 27. Februar, urteilte der Europäische Gerichtshof, dass das europäisch-marokkanische Fischerei-Partnerschaftsabkommen im Gebiet der Westsahara keine Gültigkeit habe. Doch nur fünf Stunden später veröffentlichten Marokkos Aussenminister Nasser Bourita und die EU-Aussenministerin Federica Mogherini eine gemeinsame Erklärung, in der sie ihre strategische Partnerschaft betonten. Während das Papier die Westsahara-Frage mit keinem Wort erwähnte, wurde darin betont, dass die Kooperation auf den Gebieten Migration und Sicherheit sowie auf dem Fischereisektor fortgesetzt werde. Über neunzig Prozent der Fischereierträge in der Region werden in der Westsahara gefangen.
Schon 2016 hatte das Gericht in einem anderen Fall entschieden, die Westsahara könne nicht als Teil Marokkos angesehen werden, ihre Ressourcen könnten daher nicht ohne die Zustimmung „der Menschen der Westsahara“ (also der Polisario) verkauft werden. Wenig später, im Februar 2017, liessen die marokkanischen Behörden im Verlauf weniger Wochen rund 900 Migranten in die beiden spanischen Exklaven Ceuta und Melilla strömen. Die Europäer verstanden den Wink, der European External Action Service begann hinter verschlossenen Türen Verhandlungen mit Marokko. Und die EU brach ihre eigenen Gesetze, setzte sich über die Entscheidung des eigenen Gerichts hinweg und bastelte mit Marokko einen Zusatzartikel zu dem Handelsabkommen, der nun auch Waren aus der Westsahara einschloss. Man spielte die einen Flüchtlinge gegen die andern aus.
„Die EU hat sich damit der Komplizenschaft bei den andauernden Menschenrechtsverletzungen in der Westsahara schuldig“ gemacht, schrieb die „London Review of Books“ in ihrem Blog. „Sie unterminiert den UN-Friedensprozess.“ Doch die langfristigen Auswirkungen sind kaum weniger gravierend. „Der Fall verleiht den kritischen Stimmen in der Literatur überzeugenden Nachdruck, die an dem Bild der EU als Akteur mit einem klaren Bekenntnis zum internationalen Recht, Zweifel zum Ausdruck gebracht haben“, schrieb die Dozentin für internationales und europäisches Recht an der Universität von Den Haag, Eva Kassoti.