Indien hat seine eigene Art, mit dem Trauma eines Terroranschlags umzugehen: Es macht aus dem Schauplatz einen Tourismus-Magneten; und überzieht ihn mit einer Flutwelle von Besuchern, die alle Sicherheitskontrollen über den Haufen werfen.
Bewältigungsstrategie
Der Gateway of India mit dem Tajmahal Hotel als Kulisse ist nach dem „richtigen“ Tajmahal Indiens beliebtester Selfie-Standort geworden. Es ist die vielleicht einzige „robuste“ und gewaltfreie Art, auf Terror zu reagieren: Man überwältigt ihn mit (Weiter)Leben, Alltag, zerstört ihn durch Zerstreuung.
Die Menschen, die an jenem kühlen Abend vor zehn Jahren vor die Gewehrläufe der zehn Selbstmordtäter gerieten – Zugpassagiere, Hotelgäste, Kinogänger, Restaurantbesucher, Sabbat-Beter, Taxifahrer, Polizisten – gehörten auch zu dieser dichten Ansammlung städtischen Lebens und wurden vom Todeslos getroffen.
Oder sie wurden von ihm verschont, wie jenes französische Paar, das aus dem Hotel-Restaurant heraustrat, kopflos vor Angst. Sie stiessen auf einen Terroristen und – dankten ihm, weil sie meinten, er gehöre zur Anti-Terror-Einsatztruppe. Er war so genarrt, dass er sie ziehen liess. Was man im Westen „östlichen“ Fatalismus nennt, ist im Grund nur das dumpfe Bewusstsein, dass das Leben einer Lotterie gleicht; mit dem einzigen Unterschied, dass der Gewinner jener ist, der nicht das grosse Los zieht.
Safety in numbers
Auch meine Frau und ich sind damals davongekommen, weil wir keine Kino-Tickets mehr erhalten hatten. Drei Stunden später sahen wir im Fernsehen die Kinogänger aus dem Metro Cinema treten und mussten zuschauen, wie sie von Schussgarben niedergemäht wurden. Geschossen wurde aus einem gekaperten Polizeiauto, das die Strasse auf und ab raste.
„There is safety in numbers“, lautet das geflügelte Wort. Doch im Grund weiss jeder, dass die einzige Sicherheit in der Magie dieses Spruchs liegt. Vor einigen Tagen besuchten wir die Dargah – das Grabmal – des Sufi-Meisters Nizamuddin Chishti im gleichnamigen Viertel der Hauptstadt Delhi.
Die Gassen waren voll von Besuchern, Pilgern, Verkäufern (und wohl auch Taschendieben). Vor dem Schrein sassen die Menschen dichtgedrängt um die Qawwali-Sänger und wiegten sich im Rhythmus ihrer exaltierten Melodie. Niemand kümmerte sich um Sicherheit – wiewohl jedermann wusste, wie leicht es für einen religiösen Fanatiker wäre, diesem „Götzendienst“ ein Ende zu bereiten und im Lichtblitz der Explosion das Paradies zu betreten.
Lückenhafte Kontrollen
Ich nahm einen einzigen Polizisten wahr. Statt seinem Finger am Abzug des Sturmgewehrs zurrte er sein Taschentuch hinter den Ohren fest, wie es sich für das Betreten des Allerheiligsten gehörte. Er umkreiste den Schrein, verrichtete ein paar Gebete und streute Rosenblätter, die ihm ein Helfer gereicht hatte, auf das Grabtuch.
Zehn Jahre nach dem Attentat ist Indien immer noch kein „Sicherheitsstaat“ geworden. Personenkontrollen etwa haben denselben Stellenwert wie ein Mantra, gefühlvoll und nutzlos. Wie könnte es anders sein? An Feiertagen besuchen über hunderttausend Leute den Gateway of India, um sich vor dem Tajmahal fotografieren zu lassen und damit an der „Participation mystique“ eines grossen Ereignisses teilzuhaben (und sei’s drum, dass es ein tödliches war).
Die Warteschlange zieht sich mehrere hundert Meter hinter der Abschrankung hin, bei der zwei bis drei Polizisten die Personen- und Gepäckkontrollen durchführen. In Wirklichkeit tun sie nur so, denn eine genaue Überprüfung hätte stundenlanges Warten zur Folge, das sich irgendwann in einem „Sturm auf die Barrikaden“ entladen würde.
Eine Überlebende
Es mag sein, dass die Dörfler aus dem Inneren des Landes nur deshalb so geduldig in Reih und Glied stehen, weil sie wissen, dass sie dahinter in Sicherheit sein werden. Aber vielleicht ist dies nur unsere städtische Phantasie. Auch die Armen – gerade sie – wissen, dass die Kontrollen ein Placebo sind. Aber sie wollen daran glauben, und deshalb, so wissen oder hoffen sie, wirkt es.
Auch Gemeinplätze wie „Safety in Numbers“ sind wahr. Ein weiterer lautet: „Life is cheap“, gerade wenn es in der Überfülle eines Milliardenvolks daherkommt. Weil es billig ist, kann sich jedermann eins leisten – aber es geht dann auch schnell verloren. Das musste auch Devika Rotawan erfahren, der in der gestrigen Sonntagsausgabe der „Hindustan Times“ ein kleines und bewegendes Porträt gewidmet wurde.
Devika stand an jenem 26. November auf einem Bahnsteig des ehemaligen Victoria Terminus, als die zwei Terroristen systematisch auf die wartenden Passagiere zu schiessen begannen. Eine Kugel traf sie im Bein, sie sah den Schützen und fiel ohnmächtig zu Boden. Der Zufall wollte es, dass Ajmal Kasab der einzige Angreifer blieb, der überlebte. Beim Strafprozess wurde Devika als Augenzeugin vernommen.
Den Terrorismus ausrotten
Dies machte sie auf einen Schlag stadtbekannt. Zeitungen schrieben über sie, sie wurde im Fernsehen interviewt. Dann drehte sich das Blatt. In der Schule wurde Devika als Kasab-Mädchen gehänselt, sie musste mehrmals die Schule wechseln; am Telefon erhielt sie Morddrohungen.
Mit ihrem Bruder und Vater, einem Witwer und Tagelöhner, lebt Devika immer noch in der Vier-auf-vier-Meter-Behausung in einem Bombay-Slum. Das versprochene Geschenk einer staatlichen Wohnung blieb aus, ebenfalls die finanzielle Unterstützung für ihren Unterricht.
Anfeindung und bürokratische Gefühllosigkeit haben Devika nicht von ihrem Ziel abgebracht zu studieren. Sie will einmal in den höheren Polizeidienst eintreten. Sie hat Kasab verziehen, doch das Blutbad am Bahnhof hat sie überzeugt, dass Terrorismus ausgerottet werden muss. Und sie wagt immer noch, gross zu träumen. „Kasab war ein kleiner Fisch“, sagte sie dem HT-Reporter. „Ich will den ganzen Ozean säubern.“
Trost
In Indien führt jeder alltägliche Tod unweigerlich zum – tröstlichen und untröstlichen – Losungswort: Das Leben geht weiter. Aber darin schwingt das Wissen mit, dass es nur der erste Schritt zur nächsten Zäsur ist. Dies ist nicht nur ein individuelles Reaktionsmuster. Auch der Staat denkt und handelt entsprechend.
In den letzten Tagen kam es zu zahlreichen Einschätzungen zum Stand der Vorbereitungen des Landes im Hinblick auf neue Terrorakte. Neue? Die meisten Kommentare begannen mit der Korrektur dieses Ausdrucks. Denn es sei ja nicht so, dass erneute Attentate erst noch kommen würden – sie sind schon ausgeführt worden: Nicht weniger als zehn islamistische Terrorakte gab es post-26/11, jene von maoistischen Naxaliten und Hindu-Attentate nicht eingerechnet.
Diese Einsicht schärfte dann auch den Blick auf Gegenwart und Zukunft. Zwar wurden nach 2008 die gröbsten Schwächen behoben. Dazu gehört die verbesserte Koordination zwischen einem Dutzend Nachrichtendiensten. Diese waren damals nicht fähig gewesen, aus der Überfülle von Signalen über einen geplanten Anschlag ein kohärentes und immer konkreteres Bedrohungsmuster zu konstruieren.
Schlachten von gestern
Auch die Küstenwache ist verbessert worden. Gleich mehrere der gestaffelt tätigen Sicherheitsgürtel hatten es damals nicht fertiggebracht, einen gekaperten Kutter unter Beobachtung zu nehmen, der sich über mehrere Tage der Küste vor Bombay genähert hatte. Drittens sollte sich auch das beschämende Spektakel nicht mehr wiederholen, bei dem die „Rapid Intervention Force“ sechzehn Stunden brauchte, bis sie intervenierte.
Für Indien gilt, noch mehr als für andere Länder: Der Staat bekämpft nicht nur windmühlenhaft die falschen Gegner. Noch verhängnisvoller ist, dass er sich auf die Schlachten von gestern vorbereitet, weil ihm die Imagination fehlt, Ort und Methode des nächsten Angriffs zu antizipieren.
So wird es denn auch in Zukunft zu neuen ikonischen Wortschöpfungen wie 9/11 und 26/11 kommen, denen die Kraft fehlt, als Mahnmale in die Zukunft zu wirken. Am Ende hält man sich vielleicht doch besser an geflügelte Worte wie „There is safety in numbers“, so flügellahm sie auch sind. Denn dies kann man Indien gewiss nicht nehmen: In Sachen Bevölkerung ist und bleibt es eine grosse Nummer.