Ein Sommernachmittag auf der Furka-Passhöhe in den 1980er- und 1990er-Jahren: Velofahrer in bunten Trikots erreichen atemlos den Platz vor dem Hotel Furkablick, machen auf der Terrasse Pause und lassen sich mit einem Stempel ihre Leistung bescheinigen. Am Nebentisch sitzen deutsche Autotouristen. Auch Wanderer stärken sich, Soldaten, die in der nahen Militärunterkunft ihren WK leisten, jassen. Die verschiedenen Gruppen nehmen gegenseitig voneinander kaum Notiz.
Sie nehmen auch keine Notiz von jenen wenigen Leuten, die aus ganz anderem Grund auf die Furka kamen und vielleicht gar im alten Hotel, das seinen Charme bewahrt hat – Zimmer wie vor hundert Jahren, ein wunderschöner Speisesaal, spartanische Etagenduschen – übernachten und ihren Zimmerschlüssel auf den Tisch legen. Er ist befestigt an einem handgeschmiedeten kleinen Eisenring, in den die Buchstaben eingestanzt sind: „COVERED BY CLOUDS“. Hier oben dominieren tatsächlich meist dunkle Wolken. Die Schlüssel sind ein Werk des amerikanischen Konzeptkünstlers Lawrence Weiner.
Gegen Schnelllebigkeit und Oberflächlichkeit
Die Furka-Passhöhe und das Hotel Furkablick waren damals ein Ort internationaler Kunst. Lawrence Weiner ist einer der vielen Künstler, die – oft mit ihren Freunden und Freundinnen – in diese wunderbare, aber auch kühle und dramatische Berggegend kamen, um hier zu arbeiten. Einige Namen aus der illustren Reihe: Panamarenko, Marina Abramovic/Ulay, Stanley Brouwn, Per Kirkeby, Kim Jones, Roman Signer, John Armleder, Luc Deleu, Terry Fox, Christoph Rütimann, Remy Zaugg, Ian Anüll, Jenny Holzer, Res Ingold. Manche von ihnen waren mehrfache Biennale- und Documenta-Teilnehmer und zu Gast in den prominenten Museen der Metropolen. Manche zählten zu einer verschworenen und global vernetzten Avantgarde-Gemeinde.
Auf die Furka lud sie Marc Hostettler, Galerist der Galerie Média in Neuenburg. Er wollte hier weder Kunsttourismus noch Events noch kunstvermittelnde Aktivitäten lancieren. Er wollte vielmehr die Künstler auf 2436 Meter über Meer in einem Labor zusammenführen, das Konzentration und Kreativität fördert. Es ging ihm um die Künstler und um Kunst auf (nicht nur geographisch) höchstem Niveau, nicht um Kunstbetrieb oder Kunstmarkt. Allfälligen Besuchern verlangte er einiges ab: Zeit vor allem, sich umzusehen und einzulassen auf Ungewohntes, Durchhaltevermögen, auch physischer Art. Furk’art – so der Name des ganzen Projektes – wirkt im Rückblick wie die Demonstration gegen Schnelllebigkeit und Oberflächlichkeit.
Hostettler kaufte das Hotel, das lange Jahre leer stand, und richtete es notdürftig ein. Daniel Buren versah die Fensterläden mit seinen Streifenmustern. Rem Koolhaas baute das Restaurant um und versah es mit einer Sonnenterrasse – das einzige Werk des bahnbrechenden niederländischen Architekten in der Schweiz.
Ein Tropfen Parfum und andere Beispiele
Begonnen hat alles 1983 mit James Lee Byars, der in Marc Hostettlers Galerie eine Ausstellung hatte. Hostettler lud den Künstler zu einer Performance auf der Furka ein: In Gold gekleidet, einen hohen schwarzen Hut auf dem Kopf, „weihte“ Lee Byars die Landschaft mit einem Tropfen schwarzen Parfums.
Einige Beispiele für Kunst auf der Furka: Res Ingold platzierte einen Container seiner imaginären Ingold-Airline auf der Passhöhe, Jenny Holzer meisselte ihre Texte ins Gestein. Panamarenko baute ein fluguntüchtiges Fluggerät. Christoph Rütimann erzeugte mittels Gasflamme in einem Rohr einen stehenden Ton. Rémy Zauggs Performance philosophierte über Grundfragen der Malerei. Armleder versah Innenräume mit seinen Malereien. Max Bill fügte vier Betonbalken zu einem „Feuerplatz“. Richard Long versah eine Hausfassade mit einem Wind-Diagramm. Per Kirkeby baute aus Backsteinen einen Turm. Roman Signer versah einen Holztisch mit Raketen, liess ihn schweben und in Stücke zersplittern. Niele Toronis Pinselabdrucke markieren eine Wand im Restaurant. Marina Abramovic/Ulay machten mit ihrer Performance „Nigthsea Crossing“ Station auf der Furka und sassen sich am 22. September 1984 im Hotelsaal während Stunden gegenüber. Draussen wütete ein Schneesturm.
Das Verschwundene zeigen
Warum das alles hier zur Sprache kommt? Das Haus für Kunst Uri in Altdorf zeigt in seinen schönen Räumen eine Ausstellung über diese Ereignisse, die im Gedächtnis der Insider und Teilnehmer zwar als höchst bedeutsam haften blieben, aber in einer breiten Öffentlichkeit eher vergessen sind. Kein Wunder, da manche der in der weiten Berglandschaft verstreuten Kunstwerke verwittert oder ganz verschwunden und andere zwischen all den Steinbrocken nur schwer aufzufinden sind. Geblieben sind Relikte, ein paar Spuren, einzelne Werkstücke. Wie die Atmosphäre wiederbeleben?
Fotos der Kunstwerke zeigen? Die beiden Gastkuratoren – der Journalist Thomas Bolli, der das Furka-Geschehen damals verfolgte, und der Urner Fotograf Christof Hirtler – entschieden sich zusammen mit der Museumsleiterin Barbara Zürcher anders. Sie holten Kunstwerke, die sich im Hotel Furkablick befanden, darunter manche Arbeiten, die nie zu sehen waren, nach Altdorf, ebenso einige Einrichtungsgegenstände wie Vitrinen oder ein Sofa. Dokumente, Schriften, Fotos, Pläne liegen in Vitrinen aus. Die Ausstellungsmacher zeigen zudem Videos, die das Geschehen dokumentieren – zum Beispiel das Ausgiessen des Parfums durch James Lee Byars oder eine Performance von Terry Fox.
Kultfiguren Beuys und Lee Byars
Wer sich der schön und phantasievoll präsentierten Ausstellung widmet und einiges Vorwissen und vor allem Geduld mitbringt, um sich in die Materie zu vertiefen, wird Einblick bekommen in den Geist von Furk’art. Er wird mitunter auch einiges Augenzwinkern konstatieren – und da und dort vielleicht auch auf sehr zeitbedingte Mystizismen stossen, zum Beispiel, wenn die Ausstellung von Kult-anfälligen Personen wie Joseph Beuys und James Lee Byars handelt.
Da präsentiert eine Vitrine einen Beuys-Hut wie eine heilige Reliquie, dazu rosa und weisses Seidenpapier von James Lee Byars. Die beiden sollen 1984 in der Performance „Introduction oft the Sages to the Alps“ von zwei Seiten einen steilen Schneehang emporgestiegen sein und oben sich begrüsst haben. Ob sich das wirklich so zugetragen hat? Auf den Fotos lassen sich die beiden winzig kleinen Menschlein jedenfalls nicht identifizieren. Beuys war sicher nicht oben, und James Lee Byars soll vorzeitig abgereist sein. Eher also spielten Bergführer die Rollen der Künstler.
Eine bewusste Legendenbildung? Lee Byars schrieb später an Joseph Beuys: „Ich liebe es, dass wir jetzt so berühmt sind, dass wir nicht gesehen werden müssen. Unsere Namen sind solch‘ vollkommene Attrappen.“ Und: „Ich liebe Deinen Dampf in Basel. Grossartiges Genie. Ich danke Dir. J.L.B. Heiliger James Lee der Neue von Venedig.“ Selbstironie oder Sakralisierung der Kunst? Oder Beides?
Die Ausstellung kann Vergangenes nicht lebendig machen. Sie kann eine Ahnung vermitteln und – das vor allem – einladen, den Ort des Geschehens aufzusuchen und sich im Gelände umzusehen. Im Sommer werden Führungen in der Landschaft und im Hotel angeboten. (Informationen auf der Homepage des Hauses für Kunst Uri in Altdorf.)
Haus für Kunst Uri, Altdorf, bis 26. Mai 2019
Seit 2004 verwaltet die Alfred Richterich Stiftung das Furkablick Hotel, das Restaurant sowie alles, was sich von Furk’art erhalten hat.