„Als ob die Zeit stehengeblieben wäre“, erklärt ein Augenzeuge. 38 Grad warm ist es an diesem Dienstagmorgen am Bahnhof von Andria, einer 100’000-Einwohner-Stadt nördlich von Bari. Etwa 25 Personen steigen in den Zug mit der Nummer ET 1023. Es sind Studenten, ein Polizist und zwei ältere Männer, die zu einer Untersuchung ins Spital nach Bari wollen.
Wie vor 60 Jahren tritt der Stationsvorstand auf den Bahnsteig und winkt mit einer grünen Kelle. Es ist 11.38 Uhr. Mit der grünen Kelle gibt er die 17 Kilometer lange eingleisige Strecke nach Corato frei.
Drei Minuten später: die Katastrophe. Mit einer Geschwindigkeit von fast 100 Kilometern die Stunde prallt der ET 1023 auf einen entgegenkommenden Zug.
Bei den Toten handelt es sich vorwiegend um Studenten, Pendler und Arbeiter. Auch einer der Lokführer kommt ums Leben, der andere überlebt schwerverletzt. Zunächst war von 27 Toten die Rede, die Zahl wurde dann auf 23 herunterkorrigiert.
Am Unglücksort herrschen auch am Mittwochmorgen dramatische Szenen. Angehörige versuchen, die Absperrungen zu durchbrechen. In den Trümmern suchen sie nach Vermissten. Laut Medienberichten könnten noch mehrere Menschen tot oder verletzt in den zerschmetterten Wagen eingeklemmt sein.
„Plötzlich sahen sich die Zugführer in die Augen“
Offenbar prallten die beiden Züge ungebremst aufeinander. „Die beiden Lokomotivführer konnten den entgegenkommenden Zug nicht sehen“, erklärte Massimo Nitti, der Generaldirektor der Betreibergesellschaft. Der Unglücksort befindet sich direkt nach einer Kurve. „Plötzlich sahen sich die Lokführer in die Augen.“
Die Staatsanwaltschaft im apulischen Küstenstädtchen Trani ermittelt jetzt wegen mehrfacher fahrlässiger Tötung.
Die Stationsvorsteher in Andria und Corato stehen in telefonischem Kontakt miteinander. Sie geben die Züge frei oder halten sie zurück. Ein automatisches Sicherheitssystem gibt es nicht. Das Teilstück zwischen Andria und Corato sei die „einzige Strecke, auf der der Verkehr per Telefon geregelt wird“, erklärt Massimo Nitti.
Priorität Hochgeschwindigkeitszüge
Beide Zugskompositionen waren mit Blackboxes bestückt. Beide konnten inzwischen gefunden werden. Das Aufzeichnungsgerät des Zuges, der von Corato aus gestartet war, ist intakt, jenes des Zuges, der von Andria losfuhr, ist schwer beschädigt.
Italien hat in den jüngsten Jahren viel in das Schienennetz investiert, vor allem allerdings für Hochgeschwindigkeitszüge zwischen den grossen Städten. Der Regionalverkehr wurde vernachlässigt. Auf Regionalsrtrecken wird oft noch 70-jähriges Material eingesetzt. Bis 2018 soll auch die Strecke zwischen Andria und Corato zweispurig ausgebaut sein, verspricht Massimo Nitti.
(J21/M.D./Agenturen)