Das von der Uno verkündete «Internationale Hirse-Jahr» hat Mühe, auf dem Verhandlungstisch der G20 zu landen. Zwar wurde es von Indien in dessen Präsidentschaft-Agenda aufgenommen – aber Hirse ist und bleibt eine «orphan crop».
Indien begann sein Präsidentschaftsjahr der G20-Nationengruppe mit einer Agenda der üblichen globalen Reizthemen – Krieg, Wirtschaft, Umwelt, Nord-Süd-Zusammenarbeit. Dabei ging ein weiteres Thema fast gänzlich unter, das Premierminister Modi auf seine Präsidentschaftsfahne geschrieben hatte: 2023 ist das «Internationale Jahr der Hirse».
Man kann sich rechtens fragen, ob mit diesem bekannten PR-Placebo kurz eines der vielen Dauerthemen angesprochen wird, die (k)einer Lösung entgegenblicken. Es genügt, wenn sie einen Augenblick lang angestauten Frust ventilieren – seien es Frauenrechte oder Legasthenie, Opossums oder den Regenwald. Dann kommt bereits der nächste Wellenschlag und sie tauchen wieder ab.
Dass die Hirse es auf die Agenda der gewichtigen G20-Vereinigung geschafft hat, hängt natürlich mit Indiens Präsidentschaft zusammen sowie der Vorarbeit seiner Uno-Delegationen in New York und Genf. Diese hatten es bereits 2021 geschafft, die Generalversammlung und die FAO dafür zu gewinnen, das Jahr 2023 zum Internationalen Hirsejahr zu erklären.
Fast keine Gluten
Indien ist mit vierzig Prozent Anteil der weltweit grösste Produzent von Hirse. Dieses vielleicht älteste Getreide-Gras der Agrargeschichte hält sich gerade hier so hartnäckig, weil Indien so viele Klimazonen hat. Hirsefelder finden sich im steinigen kalten Himalaya ebenso wie in der wasserarmen Rajasthan-Wüste. In den Deltas Südindiens und Bengalens gedeiht sogar eine Hirsesorte im salzwassergetränkten Boden.
Der «soziale Boden» ist ein weiterer Grund, dass sich Hirse in Indien so gut hält. Wie überall auf der Welt sind damit uralte Essgewohnheiten verbunden, die sich bekanntlich länger halten als andere Formen kultureller Produktion. Das Fladenbrot der drei hauptsächlichen Hirsesorten – Jowar (Sorghum), Bajra (Perlhirse), und Ragi (Fingerhirse) – ist selbst städtischen Indern ein Begriff, und viele ziehen es dem «Chappati» oder «Naan» aus Weizen vor. «Ragi erinnert mich an die raue Hand eines Bauern», sagte mir kürzlich ein Freund – und biss zu.
Dennoch hat die Hirse auch in Indien einen schweren Stand. Die Gentechnologien der «Grünen Revolution» haben dafür gesorgt, dass Reis, Weizen und Mais ihren alten genetischen Vetter bei weitem hinter sich gelassen haben. Es sind Sorten, die höhere Erträge liefern; wegen ihrer Kochfreundlichkeit sind sie beim Kunden beliebt und erzielen so höhere Preise. Es hilft wenig, dass Hirse die Vorzüge von Weizenbrot und Reis-Mus verbindet – es lässt sich sowohl kochen wie backen. Dank den Gluten-Stoffen im Weizen lässt sich dessen Teig eben gut kneten – wen kümmert’s, dass Hirse praktisch keine Gluten enthält.
Hoher Anteil an Mineralien
Hirse hat neben der klimatischen und konsumfreundlichen Anpassungsfähigkeit weitere Vorzüge gegenüber Weizen und Reis. Die Reifungsdauer ist um fast die Hälfte geringer; dies lässt, zusammen mit der weiten Wettertoleranz, doppelt so viele Produktionszyklen zu.
Entscheidend ist jedoch der Nährwert der Hirse. Sie punktet nicht nur mit der vernachlässigbaren Glutenpräsenz (beim Weizen erreicht sie bekanntlich bis zu 80 Prozent des Proteingehalts). Sie enthält im Vergleich mit den «edleren» Gewächsen einen markant höheren Anteil an Mineralien (Eisen und Zink), Aminosäuren und Vitaminen.
Politik und Gentechnologie haben aus der Hirse eine «orphan crop» gemacht. Nicht nur hat die forschungsintensive Grüne Revolution die Produktivität hybrider Reis- und Weizensorten um ein Vielfaches erhöht. Die Politik hat zudem mit massiven Preissubventionen nachgeholfen. Der Staat offeriert einen «Minimum Support Price» (MSP) und garantiert damit den Einkauf von Reis und Weizen, u. a. für die Ausgabe der (Gratis-) Schulmahlzeiten. Hirse wird nicht eingekauft und verteilt.
Reis – ein durstiger Kunde
Dabei wären gerade deren mineralische Spurenelemente wichtig für das Wachstum der Kinder. Das Land zählt 265 Millionen Kinder im Schul- und achtzig Millionen Frauen im gebärfähigen Alter. Bei beiden Altersgruppen sind Anämie und Zwergwuchs endemisch – Eisen und Zink könnten dies verhindern. Die nötigen Budgetmittel wären sogar vorhanden (dieses Jahr etwa 4 Mia. $). Der Bundesstaat Odisha ist bisher der einzige, der davon Gebrauch macht und den Schulkindern Hirsebrei serviert. Vor einigen Wochen – am Ende des Fiskaljahrs – liess das Landwirtschaftsministerium «ungenutzte Budgetmittel» in die Zentralkasse zurückfliessen. Vier Milliarden Dollar lautete (umgerechnet) der Betrag.
Vielleicht ist es einmal mehr die Klimakrise, die zu einem Überdenken der Prioritäten zwingen wird. Reis ist nicht mehr die sprichwörtliche «aspirational crop», seitdem sich herumgesprochen hat, dass er ein gewichtiger CO2-Produzent und ein überaus durstiger Kunde ist. Weizen und das Futtermittel Mais ihrerseits bezahlen den Preis als weltweit populärste Nahrungsmittel, indem sie zum Spielball von Spekulation und Protektionismus werden.
Nichts zeigt dies drastischer als die Purzelbäume, die der Weizenpreis mit dem russischen Angriff auf die Ukraine geschlagen hat. Nach einer kurzen Phase von Knappheit und Preissteigerungen im Jahr 2022 hat sich das Blatt gewendet. Heute besteht ein weltweites Überangebot und die Preise sind ebenso rasch und noch tiefer gefallen als vor dem Kriegsausbruch.
Teurer Strom für die Pumpen
Ironischerweise ist es Russland, das davon besonders profitiert. Es konnte Produktion sowie Ausfuhr massiv erhöhen – auf Kosten u. a. der Ukraine. Indien hoffte letztes Jahr ebenfalls, von der gestiegenen Getreidenachfrage Gewinn zu ziehen. Einmal mehr kam das Wetter dazwischen. Die historische Rekordhitze in den Reifemonaten März und April 2022 hatte dem Land eine Missernte beschert und zu teuren Importen geführt.
Dieses Jahr hingegen dürften, wie im Rest der Welt, wieder Überschüsse zu erwarten sein. Damit kommt allerdings ein neues Problem auf die Weizenbauern zu: Der indische Staat deckt sich international mit billigerem Getreide ein. Er kauft zwar immer noch von den eigenen Bauern. Aber er hat den MSP so tief angesetzt, dass der Bauer die Produktionskosten nicht mehr auszugleichen vermag – von Gewinn nicht zu sprechen. Ein wichtiger Kostenfaktor sind die Stromkosten für die Pumpen, die das Wasser aus immer tiefer gelegenen Brunnen hochziehen; manchmal liegt der Grundwasserspiegel 400 Meter unter dem Boden.
In den letzten Wochen bewegten sich aus verschiedenen Richtungen lange Prozessionen protestierender Bauer auf Mumbai zu, der Hauptstadt des Agrar-Staats Maharashtra. In den TV-Nachrichten sah man reife Weizenfelder, die abgefackelt wurden. Traktorenladungen von Zwiebeln landeten statt auf dem Markt direkt auf den Abfallbergen oder wurden ungeerntet mit den Pflanzen unter den Boden gepflügt.
Anreize zum Kauf von Hirse schaffen
Damit flimmern unschöne TV-Bilder in die Stuben der Nation, neben denen die Dauerberieselung mit triumphalistischen Gesten des G20-Präsidenten einen schweren Stand hat. Umso eiliger hat es nun die (Modi-freundliche) Provinzregierung, den Bauern Zusicherungen zu machen, damit sie aus den Strassen verschwinden. Der MSP für Weizen soll umgehend erhöht werden.
Kaum jemand stellt den Bezug zur «G20-Priorität Hirse» her. Nicht nur den Bauern – und ihren schulpflichtigen Kindern – wäre geholfen, wenn statt der Erhöhung der Weizen-Mindestgarantie Hirse angekauft würde, zu einem Preis, der als Anreiz für einen intensivierten Anbau wirken würde. Die «orphan crop» kann höchstens damit rechnen, statt am Verhandlungstisch auf den Esstischen der vielen G20-Banketts zu landen, in Form von Hirse-Chappatis.