Nineteen Eighty-Four war in den Nachkriegsjahren eine apokalyptische Vision, der George Orwell in seinem gleichnamigen Roman Ausdruck gegeben hatte. Das Jahr 1984 kam und ging, und die Jahreszahl verlor für uns in Westeuropa ihren beklemmenden Stachel, weil die politische Apokalypse nicht eingetreten war (vielleicht nicht zuletzt dank Büchern wie 1984). Fünf Jahre später konnte man die Metapher auch aus dem persönlichen Wortschatz endgültig löschen, als der sowjetische Big Brother abdanken musste.
Für Indien allerdings war 1984 ein Albtraum gewesen, und er lastet bis heute auf dem Land. Im Juni rollten Panzer über den Marmorboden des heiligsten Schrei einer indischen Religion – dem Sikhismus – und schossen den Goldenen Tempel in Amritsar in Trümmer. Vier Monate später, am 31. Oktober, wurde Premierministerin Indira Gandhi von zwei Sikh-Leibwächtern erschossen. Es folgten drei Tage, in denen jeder Sikh in der Hauptstadt Delhi zum Freiwild wurde. Der Staat schaute zu, als Mobs von Hindus und Kongress-Parteigängern auf Nachbarn, Zugpassagiere, Taxi-Chauffeure, losgingen, sie niedermetzelten oder in ihren Häusern, Zugsabteilen und Taxis einäscherten.
574‘000 Opfer
Genau einen Monat später, kurz nach Mitternacht am 2./3.Dezember 1984, kam es in der Union Carbide-Industrieanlage hinter dem Hauptbahnhof der Stadt Bhopal zu einem Zwischenfall. Aus einem Tank entwich das Zwischenprodukt eines Düngemittels, Isocyanat. Eine Wolke hüllte das Zentrum der Stadt ein. Mehrere hunderttausend Menschen wurden aus dem Schlaf gerissen, husteten, erlitten Magenkrämpfe und Augenbrennen. Sie torkelten auf die Strassen und sahen ringsherum Mitbürger in derselben Verfassung, und bald schon herumliegende Leichen und Menschen im Todeskampf.
‚Delhi 1984’ erhielt im Wortgebrauch den beklemmenden Unterton eines Pogroms an dreitausend Menschen, deren Schuld darin lag, dass sie einer bestimmten Religionsgemeinschaft angehörten. ‚Bhopal’ wurde gar weltweit zu einem generischen Ausdruck für Industriekatastrophen. 22150 Menschen starben an den direkten Folgen des Unglücks, ungezählten weiteren verkürzten Organschäden das Leben, und viele tausend – darunter später geborene Kinder und Kindeskinder – leben bis heute mit Verdauungsstörungen, Halluzinationen, Hormonschäden und körperlichen Missbildungen. Insgesamt wurden über eine halbe Million Menschen – 574‘272 – von den Gerichten als ‚Opfer’ registriert.
Ungesühnte Verbrechen
Ist es gerechtfertigt, sich dreissig Jahre nach den Ereignissen dieser menschengemachten Katastrophen zu erinnern? Ja, denn dies ist keine Geschichtslektion, sondern immer noch eine Zwischenbilanz. Die Wunden, die diese beiden Ereignisse damals schlugen, sind bis heute nicht geheilt, die Verbrechen bleiben im Wesentlichen ungesühnt. Eine Katastrophe ist eins – doch sie wiederholt sich, wenn die Gesellschaft nicht fähig ist, sie zu heilen und dem Vergessen anheimzugeben.
Natürlich kam es in beiden Fällen zu hektischer polizeilicher, gerichtlicher und politischer Betriebsamkeit. Im Fall der Sikh-Pogrome wurde über die Jahre ein halbes Dutzend Untersuchungskommissionen eingesetzt; zehntausende Opfer und Zeugen unterschrieben eidesstattliche Erklärungen und nannten Orte, Zeiten und Namen – von Anführern, Mitläufern, Waffenlieferanten, Henkern, und Polizeibeamten, die den Fängern den Weg wiesen.
Union Carbide kommt billig weg
Weniger als zwei Dutzend Personen wurden nach jahrelangen fruchtlosen Gerichtsverfahren zu leichten Gefängnisstrafen verurteilt. Die Rädelsführer, darunter prominente Kongresspolitiker, zogen sich mit Winkelzügen aus jeder juristischen Schlinge und bastelten weiter an ihrer Karriere. Auch Indiras Sohn Rajiv Gandhi – Autor des wahrhaft neronischen Ausspruchs „Wenn ein grosser Baum fällt, bebt eben die Erde“ – wurde bis zu seinem gewaltsamen Tod nicht mehr von einer Anklageerhebung eingeholt.
Im Fall der halben Million Industrieopfer kam es zu einer Zahlung von 470 Mio. $ durch Union Carbide. UCL kam nicht nur billig weg – 800 Dollar pro Opfer – es erkaufte sich damit Straffreiheit. Die indische Regierung machte sich zum alleinigen Rechtsvertreter aller Opfer – sie durften ihre Rechte nicht mehr selber einklagen. Das Oberste Gericht ging noch weiter und erteilte der Firma Straffreiheit, ‚against all past, present and future claims, as well as civil and criminal proceedings by all Indian citizens’.
Das Gift ist noch immer da
Die letztgenannte Garantie wurde später wieder verworfen. Doch die zahlreichen Privatklagen, die Opfer darauf anstrengten, wurden entweder zurückgewiesen (in den USA), oder endeten nach jahrzehntelangen Prozessen im Jahr 2009 in einem zusammenfassenden Gerichtsurteil: sieben Angeklagte – indische Manager und Verwaltungsräte von UCL (India) – erhielten je zwei Jahre Gefängnis. Die Verurteilten (!) legten Berufung ein; das endgültige Verdikt des Obersten Gerichts steht immer noch aus.
Das Ungesühnte lässt sich auch physisch verifizieren. Auf dem Areal der Fabrik liegen 350 Tonnen schwervergiftetes Material, in Säcken verpackt. Und die mehreren Hektar Fabrikboden, der ebenfalls verseucht ist und dessen Grundwasser hohe toxische Werte anzeigt, liegt noch immer so da wie er sich am Morgen des 3. Dezember 1984 präsentierte. Keine Gemeinde, kein Bundesstaat gab sich in all den Jahren dazu her, als Endlager zu dienen. Staat und Gerichte, deren moralische Legitimität in Sachen Bhopal kompromittiert ist, wagen es nicht, ein Machtwort zu sprechen.
Verlorene Unschuld
Ähnliches lässt sich von den Familien der Opfer sagen. Nicht nur wurden sie materiell schäbig behandelt, die Gesundheitsversorgung gleicht den vielen Armutsprogrammen: man wirft ihnen wahllos Gratis-Medikamente und Routineuntersuchungen vor die Füsse. Ich zitiere Rajkumar Keswani, einen Bhopal-Journalist der ersten Stunde (und der vielen hunderttausend seitdem): „Die Folgen der Tragödie waren apokalyptischer als das Ereignis selbst. Diese dreissig Jahre brachten grösseren Schock und Verzweiflung, und sie stellten ein politisches System bloss, das der Kollusion mit einem kriminellen Unternehmen Vorrang gab, statt den eigenen Bürgern zum Recht zu verhelfen“.
Ich war im Jahr 1984 nach Indien gekommen und befand mich beinahe in Rufweite vom Ort des Attentats gegen Frau Gandhi. Es waren Tage des Schreckens – aber auch einer surrealen Alltäglichkeit: Man fuhr zur Arbeit, sah plötzlich am Strassenrand brennende Taxis, Männer mit Kanistern und Stöcken – und fuhr in der Wagenkolonne weiter. Man hörte und sah Nachrichten – und mochte meinen, sie beträfen ein anderes Land. Deshalb auch wurde ich das vage Gefühl einer Schuld nie los: Warum stiegst Du nicht aus und versuchtest einen Brand zu löschen? Warum öffnetest Du einem fliehenden Mann nicht die Wagentür?
Auch Indien verlor 1984 seine Unschuld. Es war das erste Mal, dass indische Bürger auf eine ganze ethnische Gemeinschaft Jagd machte – und der Staat wegschaute. Es war ausgerechnet die Gemeinschaft, die bereits einmal, bei der Teilung des Landes 1948, Pogromen entkommen war. Sie fanden Schutz in der neuen Heimat, zusammen mit den Hindus, die sich nun gegen ihre damaligen Mitverfolgten kehrten. Auch den zweiten Test einen Monat später bestand der Staat nicht: Er half Union Carbide-Präsident Warren Anderson aus dem Land schlüpfen, und liess sich darauf mit einem billigen Schmerzensgeld abfinden. Und es dauerte weitere zwanzig Jahre, bis dieses eine Grosszahl der Opfer erreicht hatte. Auf ihr Recht warten sie noch heute, Sikhs wie Giftopfer.