Was für ein erholsamer Tag. Der Luft-Qualitäts-Index der chinesischen Hauptstadt wies am Wochenende einen Wert von 42 auf. Das sind nur 17 Punkte über dem von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen Grenzwert von 25 Mikrogramm Feinstaub pro Kubikmeter Luft. Die Luftqualität wird deshalb von der Umweltbehörde mit dem seltenen Prädikat „exzellent“ versehen. Maskenfreies Spazifizieren in der 20-Millionen-Metropole ist für einmal selbst für Kleinkinder mit noch zarten Lungen ohne Risiko zu bewältigen.
Shijiazhuang?
Vor wenigen Tagen noch war das ganz anders. Sicht zwischen hundert und zweihundert Meter. Maskierte Menschen eilten durch den Dschungel der Grossstadt. Szenen wie aus einem Science-Fiction-Film. Die städtischen Messstationen zeigten Werte weit über 500. Der Spitzenwert von 671 wurde weltweit medial verbreitet. Die Verkäufe von Masken erreichten neue Rekordwerte. Unterdessen sind solche Masken nicht mehr wie einst nur in Apotheken sondern auch überall bis zum letzten Convenience-store zu kaufen. Meist gibt es fünf Modelle, das teuerste besonders geeignet zur Abwehr von den besonders heimtückischen 2,5-Partikeln.
Peking ist zwar medial beim Thema Luftverschmutzung weltweit präsent, bei weitem jedoch nicht die von der dicken Luft am schwersten betroffene chinesische Stadt. Schon einmal von Shijiazhuang gehört? Die 4-Millionen-Stadt in der Peking benachbarten Provinz Hebei bringt es so oft wie keine andere chinesische Stadt auf über 500 Punkte im Luftqualitätsindex. Allein für dieses Jahr haben die Stadtväter umgerechnet rund eine Milliarde Franken zur Bekämpfung der Umweltverschmutzung – Luft, Wasser, Erde – bereitgestellt. Nicht ganz freiwillig wohl. Der Autoverkehr wird eingeschränkt, die Industrielandschaft – geprägt in Hebei von Eisen und Stahl – soll neu aufgegleist werden. Der Druck von der Zentralregierung nimmt zu. Ein Wachstum ohne Nachhaltigkeit – so das neue Mantra – führe mittel- und langfristig in eine Sackgasse und ist dem Volkswohl abträglich.
Strom aus Kohle
Der Staatsrat – die Regierung – hat deshalb schon im vergangenen Jahr die Weichen mit einer Politik zur „Verhütung von Umweltverschmutzung“ und einem „Aktions- und Kontrollplan“ richtungsweisend neu eingestellt. Das ganze Programm soll in den nächsten vier Jahren Investitionen in der Höhe von umgerechnet rund 250 Milliarden Franken kosten. Davon sollen für saubere Energie 70 Milliarden, für energiefreundliche Automobile 30 Milliarden und für Strukturanpassungen in der Wirtschaft 200 Milliarden aufgewendet werden. Für die hundert grössten Städte sowie für verschiedene Regionen werden verbindliche Ziele zur Verbesserung der Umwelt gesetzt.
Auch für das ganze Land wurden neue Ziele definiert. So soll bis ins Jahr 2017 der Anteil von Kohle an der Stromproduktion auf 65 Prozent sinken (2013: 67%). Gleichzeitig soll der Anteil nicht-fossiler, d.h. „sauberer“ Energie – in China gehört dazu auch die Atomenergie – bis 2020 auf über 20 Prozent gesteigert werden. Die Zentralregierung will diese Vorgaben mit Härte durchsetzen. Das ist schwierig selbst in einem autoritären System. Denn in den Provinzen, Präfekturen und Kreisen wird oft selbsherrlich entschieden. Je weiter von Peking entfernt, umso selbständiger. Doch die Pekinger Zentrale, d.h. die allmächtige Kommunistische Partei, hat ein wirksames Druckmittel in der Hinterhand: Beförderungen. Früher war dafür fast ausschliesslich wirtschaftliches Wachstum massgeblich. Neu kommt jetzt die Erreichung der erlassenen Umweltziele dazu. Wie die offizielle Regierungszeitung „China Daily“ schreibt, könnten Städte, welche die Zielvorgaben nicht erfüllen, sogar „öffentlich an den Pranger gestellt werden“. Schliesslich geht es auch, wie das Gesundheitsministerium die chinesischen „Massen“ regelmässig aufschreckt, um die Volksgesundheit. Jährlich sterben rund eine halbe Million Menschen vorzeitig wegen Luftverschmutzung. Zudem könnte die Lebenserwartung von derzeit 74 Jahre stagnieren oder gar wieder sinken.
Toxischer Cocktail
Die Stadt- und Provinzregierungen sind denn eifrig daran, eigene Aktionspläne zu entwickeln. Besonders gefordert ist natürlich Peking. Bürgermeister Wang Anshun hat denn auch versprochen, im laufenden Jahr „entschieden durchzugreifen“. Allein die Verbesserung der Luftqualität lässt sich die Hauptstadt des Reichs 2014 umgerechnet über zwei Milliarden Franken kosten. Es ist auch höchste Zeit. Im letzten Jahr war die Stadt an 58 Tagen „schwer verschmutzt“. Zhang Dawei von der Pekinger Umweltbehörde sagt es, echt chinesisch, etwas weniger drastisch: „Betrachtet man das ganze Jahr, dann war die Luftqualität in Beijing an insgesamt 176 Tagen gut“. Wang fügte dann hinzu: „Dem stehen aber 58 Tage mit extrem schwerer Luftverschmutzung gegenüber. Das heisst, schwere Luftverschmutzung gibt es druchschnittlich alle sechs bis sieben Tage und damit viel zu oft“. Der Cocktail aus Schwefel- und Stickstoffdioxid, Kohlenmonixid, Ozon und Feinstaub hat nicht nur gesundheitliche Folgen. Wie Pekings Tourismusbehörde mitteilt, sind im letzten Jahr satte zehn Prozent weniger Touristen angereist als im Jahr zuvor.
Die Situation in Peking und China wird sich gewiss verbessern. Aber es braucht Zeit. Chinesische Politiker und Umweltwissenschafter weisen auch zu recht darauf hin, dass China jetzt Erfahrungen macht, welche Indurstrieländer in Europa, Amerika und Japan bereits hinter sich haben. Auch in diesen Ländern sei die Wirtschaft mit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert schnell gewachsen ohne Rücksicht auf die Umwelt. Noch in den 1950er-Jahren in England oder in den 1960-Jahren in Japan sei die Luftverschmutzung ähnlich gewesen wie heute in China. Der dicken Luft in London fielen noch anfangs der 1960er-Jahre hunderte von Menschen zum Opfer.
Die grosse Herausforderung
Die grosse Herausforderung für China ist denn nicht etwa der Atomausstieg. Der Ausstieg aus der Kohle ist das grösste Problem. Der Rohstoff Kohle, der schon Mitte des 18. Jahrhunderts beim Beginn der Industriellen Revolution in Grossbritannien der Rohstoff schlechthin war, ist auch heute noch nicht aus dem Energiemix wegzudenken. Kohle ist reichlich vorhanden und relativ billig. Sowenig es einen schnellen, reibungslosen und schmerzfreien Atomausstieg in den Industrieländern geben wird, sowenig wird es einen schnellen, reibungslosen und schmerzfreien Ausstieg aus der Kohle für China geben. Was in den nächsten Jahrzehnten hilfreich sein wird in Ost und West, sind technologische Neuerungen und Durchbrüche. Mit dem moralischen Zeigefinger grüner Gutmenschen, und sei es noch so gut gemeint, wird wenig bis nichts bewegt.
Im übrigen ist es doch erstaunlich, dass in Sachen Luftverschmutzung China weltweit im Brennpunkt steht und nicht etwa Indien. Die Luftverschmutzung in Delhi oder Mumbai nämlich kann es mit jener von Peking oder Shanghai ohne weiteres aufnehmen. Der einzige Unterschied ist allein darin zu finden, dass im autoritärenChina der Druck von der Bevölkerung weit grösser ist als jener im demokratischen Indien. Kommt dazu, dass Journalisten oft wie Lemminge reagieren. Hat einmal eine Agentur oder ein Weltblatt das Thema sensationell und mitthin lesbar aufgenommen, gibt es keinen Halt mehr.
Klassische Zeitungsente
Schönstes Beispiel: als in Peking die Sicht neulich auf hundert Meter schmolz, wurden Photos von einem Riesen-LED-Bildschirm vom Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen gezeigt. „Sonnenaufgänge für die Bevölkerung, welche die Sonne nicht mehr sieht“ war zu lesen. Flincke Digital-Journalisten in Newsrooms von Websites und Analog-Journalisten von Boulevard-, aber auch Qualitätszeitungen übernahmen das Thema. Kritiklos. Ein Telephonanruf hätte genügt, um festzustellen, dass erstens der Riesen-Bildschirm für Werbung und gelegentlich Propaganda-Slogans schon über vier Jahre auf dem Tiananmenplatz steht, und zweitens der kurze Sonnenaufgang Teil der Tourismuswerbung der Provinz Shandong ist. Das aber wäre keine Meldung nach westlichem Medienverständnis gewesen und hätte natürlich auch nicht die erhofften tausendfachen Clicks generiert. Lieber also eine klassische Zeitungsente. Vielleicht müsste die Luft-Qualität in den westlichen Newsrooms einmal wissenschaftlich gemessen werden. Danach könnte – warum nicht von den Chinesen lernen? – ein digitaler „Aktions- und Kontrollplan“ der Chefredaktion für präzisere Berichterstattung sorgen........