Der 12. September 1848 ist ein Meilenstein in der Geschichte der Schweiz: Mit der Annahme der Bundesverfassung wurde der Bundesvertrag von 1815 abgelöst und die Basis für die moderne Schweiz gelegt. Die Auseinandersetzungen über die neue Bundesverfassung zeugen aber auch von der damaligen politischen Zerrissenheit der Schweiz, in der dieser zukunftsweisende politische Wurf entstand.
Bereits in den 1830er Jahren hatten sich die politischen Spannungen zwischen den Radikalen und den Katholisch-Konservativen wieder aufgebaut. Die Radikalen strebten dezidiert einen säkularen zentralen Staat an und drängten auf eine rasche und konsequente Durchführung der politischen Neuerungen. Die Katholisch-Konservativen hielten dagegen am Bundesvertrag von 1815 fest, der den Kantonen fast vollständige Souveränität zugestand, und sie verwarfen – unterstützt von zwei päpstlichen Enzykliken – Aufklärung und Liberalismus als ketzerische Machenschaften. In den 1840er Jahren wurden die Konfrontationen zunehmend konfessionalisiert, mit Klosteraufhebungen einerseits oder der Berufung der Jesuiten nach Luzern andererseits, was zu zwei Freischarenzügen führte. Ende 1845 schlossen sich die katholischen Kantone der Innerschweiz mit Freiburg und Wallis zu einem Schutzbündnis zusammen, dem Sonderbund, mit einem Kriegsrat mit ausserordentlichen Vollmachten und mit Kontakten zu ausländischen Mächten (Österreich, Frankreich).
Sonderbund wird aufgelöst
Die Jesuitenkrise stärkte die Radikalen und Liberalen in mehreren Kantonen und im Frühling 1847 hatten diese an der Tagsatzung eine knappe Mehrheit. Im Juli beschlossen sie, dass der Sonderbund aufgelöst, der Jesuitenorden ausgewiesen und der Bundesvertrag revidiert werde.
Im November 1847 wurden die Sonderbundstruppen nach drei Wochen Krieg und ohne grosse Verluste besiegt. Auch wenn die Sondersbundkantone allesamt katholisch waren und die Frage der Jesuiten stark polarisierte, war der Sonderbundskrieg im Grunde kein konfessioneller Krieg. Auf der Seite der Sonderbundsgegner befanden sich nämlich auch die katholischen Kantone Solothurn und Tessin sowie die Kantone mit grossen katholischen Bevölkerungsanteilen (SG, AG, GR). Zudem spielten auch liberale Katholiken beim Aufbau der modernen Schweiz eine wichtige Rolle.
Revision des Bundesvertrags
Insofern der Bundesvertrag von 1815 keine Revision vorsah, hatte der Tagsatzungsbeschluss etwas Revolutionäres an sich. Interventionsnoten von Frankreich, Preussen, Österreich und Russland wies die Tagsatzung zurück. Es kam ihr dabei zupass, dass diese europäischen Mächte mit dem Ausbruch der 1848er Revolutionen im eigenen Land selbst beschäftigt waren.
Gleich nach Beendigung des Sonderbundskrieges ernannte die Tagsatzung die Revisionskommission, welche den Bundesvertrag revidieren beziehungsweise die neue Bundesverfassung ausarbeiten sollte. Es nahmen alle Kantone an den Beratungen teil, ausser Appenzell Innerrhoden und Neuenburg. Die ehemaligen Sonderbundskantone, deren katholisch-konservative Elite demoralisiert war, sandten liberale Vertreter.
Die Kommission nahm ihre Arbeit Mitte Februar 1848 auf; sie konnte dabei auf den Entwurf der gescheiterten radikalen Verfassungsrevision von 1832/33 zurückgreifen, was ihre Arbeit erleichterte. Die Beratungen, welche der Historiker Rolf Holenstein in seinem Werk «Stunde Null» minutiös rekonstruierte, standen unter dem Einfluss der gemässigten Liberalen. Es gelang ihnen, zwischen den kühnen Plänen der Radikalen und dem harten Widerstand überzeugter Föderalisten pragmatische Lösungen zu finden. Anfang April wurden die Arbeiten nach lediglich acht Wochen abgeschlossen.
Die Bundesverfassung 1848
Die vorgeschlagene Bundesverfassung regelte nur gerade das Nötigste. Sie erklärte die Aussenpolitik zur Sache des Bundes, legte die Grundlagen für die Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraums (z. B. durch Aufhebung der Binnenzölle) und gab dem Bund die Kompetenz für die Vereinheitlichung von Münze, Mass und Gewicht.
Ebenfalls Eingang in die Bundesverfassung fanden die Postulate der Gewaltenteilung: Die neuen Organe des Bundesstaates waren das Parlament (National- und Ständerat), der siebenköpfige Bundesrat und das Bundesgericht. Von den Freiheits- und Bürgerrechten führte die Bundesverfassung nur die wichtigsten auf: Rechtsgleichheit, Glaubens- und Gewissensfreiheit, Pressefreiheit, Vereinigungsfreiheit, Niederlassungsfreiheit und Petitionsfreiheit. Die Garantie der Kultus- und der Niederlassungsfreiheit wurde auf die beiden «anerkannten christlichen Konfessionen» beschränkt. Den Angehörigen anderer Religionen, namentlich der jüdischen, waren diese beiden Grundrechte verwehrt. Die Bundesverfassung enthielt ferner zwei konfessionelle Ausnahmeartikel, namentlich das Verbot der Aufnahme des Jesuitenordens. Kein Thema war das Frauenstimmrecht.
Von Bedeutung für die Politik der kommenden Jahrzehnte war die Bestimmung, dass die Bundesverfassung jederzeit revidierbar sein soll, und zwar auf Initiative des Parlamentes hin oder des Volkes (mit der Unterschrift von 50’000 Stimmberechtigten).
Mehrheitliche Zustimmung in den Kantonen
Am 27. Juni 1848 stimmte die Tagsatzung dem Verfassungsentwurf mit knapper Mehrheit zu. Darauf wurde dieser an die Kantone zur Entscheidung geschickt. Bis zum 3. September nahmen die Kantone zur neuen Bundesverfassung Stellung. Das Verfahren war dabei nicht einheitlich. In 14 Voll- und zwei Halbkantonen gab es Volksabstimmungen, in zwei Voll- und vier Halbkantonen befanden die Landsgemeinden (UR, OW, NW, GL, AI, AR) über die neue Bundesverfassung, in Graubünden die Gerichtsgemeinden und im Tessin die Kreise. In Freiburg wiederum entschied das Parlament. Es war daher keine gesamtschweizerische Volksabstimmung im heutigen Sinn.
Die Bundesverfassung wurde von einer klaren Mehrheit der Kantone (14 Vollkantone und 3 Halbkantone) angenommen. Die Ja-Stimmenanteile in den entsprechenden Kantonen lagen zwischen 61 Prozent (SO) und 95 Prozent (NE). Die beiden Landsgemeinden in Glarus und Appenzell Ausserrhoden stimmten «einmütig» bzw. «mit entschiedener Mehrheit» zu.
Abgelehnt wurde die Bundesverfassung in 53/2 Kantonen. Darunter waren 42/2 ehemalige Sonderbundskantone (UR, SZ, OW, NW, ZG, VS) sowie Appenzell Innerrhoden und das Tessin. Dabei verwarfen die vier Landsgemeindekantone (UR, OW, NW, AI) mit geschätzten 84 bis 97 Prozent Neinstimmen. In Schwyz, Zug und im Wallis lag der Nein-Stimmenanteil zwischen 60 und 75 Prozent. «Nein» war auch die Stimme aus dem Tessin, bei dem jedoch weniger eine grundsätzliche Ablehnung der Bundesverfassung den Ausschlag gegeben haben dürfte als vielmehr regionale Interessen; das Tessin äusserte nämlich starke Bedenken im Zusammenhang mit dem Wegfall der kantonalen Zolleinnahmen.
Besondere Verfahren in Luzern und Freiburg
Es mag überraschen, dass die beiden wichtigen Sonderbundskantone Freiburg und Luzern der Bundesverfassung zustimmten. Dies hatte jedoch mit besonderen Abstimmungsverfahren zu tun, welche die radikalliberalen Minderheitsregierungen festgelegt hatten. In Freiburg entschied der damals mehrheitlich radikal-liberale Grosse Rat selber über die Vorlage und verzichtete darauf, sie den Stimmberechtigten vorzulegen – wohl, weil er mit einer (klaren) Ablehnung rechnete. In Luzern wurden die Nichtstimmenden als Ja-Stimmende gezählt. Diese Handhabung stand gewissermassen in der Tradition des Vetos. Sie kam übrigens auch schon 1802 bei der Volksabstimmung über die Verfassungsrevision von Malmaison zur Anwendung, der ersten in der Schweiz durchgeführten Volksabstimmung.
Die Bundesverfassung tritt in Kraft
Am 12. September 1848 entschied die Tagsatzung – gestützt auf die Stellungnahme der Kantone –, dass die Bundesverfassung «anmit feierlich angenommen (sei) und … als Grundgesetz der Eidgenossenschaft erklärt» werde. 16 Voll- und zwei Halbkantone trugen den Entscheid, Gegenstimmen gab es keine, aber Stimmenthaltungen (Urkantone, Appenzell Innerrhoden). Nachdem die Tagsatzung die Kantone aufgefordert hatte, die Mitglieder des Nationalrats und des Ständerates zu wählen, schloss am 22. September die eidgenössische Tagsatzung «ihre Session und ihre Wirksamkeit», so der Historiker Johannes Dierauer. Nachdem die Liberalen und Radikalen in den ersten Parlamentswahlen einen überwältigenden Sieg errungen hatten, trat am 6. November die Bundesversammlung erstmals zusammen und wählte sieben Liberale und Radikale in den Bundesrat. Die Bundesverfassung von 1848 besiegelte die einzige erfolgreiche 48er Revolution in Europa.
Ausblick
Bis die politische Schweiz jene Gestalt erhielt, die sie heute hat, brauchte es noch einige grosse Veränderungen – auf der Basis der Bundesverfassung von 1848. Die wichtigste war die Revision der Bundesverfassung von 1874. Diese gab dem Bund weitere Gesetzgebungskompetenzen und schuf die Grundlagen für weitere Rechtsvereinheitlichungen, vor allem im wirtschaftlichen, sozialen und verkehrspolitischen Bereich. Betreffend die Rollenteilung von Staat oder Kirche wies die Bundesverfassung das Zivilstands- und das Primarschulwesen dem Staat zu und bei den Grundrechten wurden erstmals explizit die Handels- und Gewerbefreiheit aufgeführt sowie das Recht auf Ehe, die allgemeine Glaubens- und Gewissensfreiheit und die Kultusfreiheit. Die Niederlassungsfreiheit wurde erweitert und die Prügel- und Todesstrafe wurden abgeschafft. Konfessionelle Ausnahmeartikel (z. B. Ordens- und Bistumsartikel) befeuerten dagegen nochmals den Kulturkampf.
Wichtig für die künftigen politischen Auseinandersetzungen war die Einführung des fakultativen Gesetzesreferendums, welches für die politische Opposition ein geschätztes und wirkungsvolles Kampfinstrument werden sollte. Sie leitete den Übergang von der repräsentativen zur halbdirekten Demokratie ein.
1891 war das Jahr, in dem die direkte Demokratie mit der Einführung der Volksinitiative nochmals stark ausgebaut wurde. Im selben Jahr wurden mit Joseph Zemp der erste Katholisch-Konservative in den Bundesrat gewählt. Damit wurde ein alter politischer Graben etwas zugeschüttet, nicht zuletzt auch, weil sich mit der erstarkenden Arbeiterbewegung eine neue gesellschaftliche Konfliktlinie herausbildete.
War die Schweiz im 19. Jahrhundert europaweit eine Pionierin in Sachen Demokratie, so gehörte sie bei anderen verfassungsmässigen Rechten zu den Nachzüglern. So dauerte es nochmals achtzig Jahre, bis die Schweiz das Frauenstimmrecht einführte.