Es geschieht am vergangenen Donnerstag bei Kilometer 7 auf der El Junquito-Autobahn westlich von Caracas. Die Fernsehjournalistin Carol Romero filmt an der PDV-Tankstelle eine aufgebrachte Menge. Die Menschen protestieren, weil es wieder kein Benzin gibt.
Plötzlich erscheinen Mitglieder der „Bolivarischen Nationalgarde“. Sie schlagen die Journalistin zusammen, nehmen ihr das Handy weg und führen sie ab.
Nach wie vor werden in Venezuela Journalisten und Regimekritiker verfolgt, schikaniert, eingeschüchtert, ins Gefängnis gesteckt und teilweise mit dem Tod bedroht.
Was tut Trump?
Und nach wie vor verspricht der amerikanische Präsident, das diktatorische Regime von Nicolás Maduro zu stürzen. Doch der venezolanische Präsident, der das Land ins Desaster gewirtschaftet hat, sitzt fester im Sattel als vor einem Jahr.
In knapp fünf Monaten finden in den USA Präsidentschaftswahlen statt. Viele Venezolaner stellen sich die Frage: Hat Trump in dem südamerikanischen Land noch etwas Spektakuläres vor, um doch noch mit einem aussenpolitischen Erfolg prahlen zu können?
Doch dem Präsidenten im Weissen Haus sind die Hände gebunden. Unterstützt wird Maduro von Russland, China, Kuba und Iran. Zudem hält die Armee, die „bolivarischen nationalen Streitkräfte“, nach wie vor eisern zum Präsidenten.
Sanktionen und wieder Sanktionen
Eine „militärische Intervention“ der USA, die der amerikanische Aussenminister Mike Pompeo schon vor einem Jahr nicht ausschloss, wäre mit grossen Risiken verbunden. Fernsehbilder von Särgen mit amerikanischen Soldaten kann sich Trump kurz vor den Wahlen nicht leisten.
Nicht ausgeschlossen wäre eine Intervention ohne amerikanische Militärs. Söldner findet man immer. Doch angesichts der Stärke der venezolanischen Armee wäre das Risiko gross, dass ein Putsch scheitert.
Was bleibt also? Trump kündigte schon an, er werde die Sanktionen verstärken. Zum wievielten Mal? Zum 12. oder 17. Mal? Sanktionen werden Maduro kaum in die Knie zwingen. Vorerst jedenfalls nicht. Jetzt will Trump amerikanische Kriegsschiffe vor der venezolanischen Küste in Position bringen. Wozu?
Juan Guaidó, ein Has-Been
Solange Russland und China das Regime stützen, und solange Iran Öl und Kuba Medikamente und Nahrungsmittel liefern, wird sich in Venezuela wohl wenig ändern.
Dazu kommt: Die venezolanische Opposition, die im vergangenen Jahr eindrückliche Massenproteste organisierte, ist zerstritten. Schon vor Corona fanden kaum mehr grössere Demonstrationen statt.
Juan Guaidó, der von den USA portierte „Interimspräsident“, hat an Unterstützung verloren. Zwar wird er immer noch von 54 Staaten als Präsident anerkannt, aber das nützt ihm jetzt wenig. Für die meisten Venezolaner ist er ein Has-been.
Die USA und das Öl
Einige Oppositionelle sind lethargisch geworden und scheinen sich mit dem Regime Maduro arrangieren zu wollen.
Die Corona-Krise hat Maduro in die Hände gespielt. Der Lockdown für die 30 Millionen Einwohner, der Mitte März verfügt wurde, hat auch die letzten Demonstrationen abgewürgt.
Die „bolivarischen Sozialisten“ werfen den USA seit jeher vor, das Land zu destabilisieren, um ans venezolanische Öl zu kommen. Kein Land verfügt über derart grosse Ölreserven wie Venezuela. Anti-Amerikanismus, der „Kampf gegen den Imperialismus“ und der Flirt mit Kuba gehörten seit jeher zum Programm des „bolivarischen Sozialismus“.
Kurskorrektur
Inzwischen hat sich Maduro – zumindest teilweise – vom „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, den sein Vorgänger Hugo Chávez propagiert hatte, abgewendet. Schon fürchten „bolivarische“ Hardliner die Auferstehung eines „zügellosen Neoliberalismus“.
Soweit ist es noch lange nicht. Die Massnahmen sehen gewisse Privatisierungen und die Abschaffung von Devisen- und Preiskontrollen vor. Die Einfuhr von Nahrungsmitteln ist jetzt zollfrei. Preisbindungen wurden teilweise aufgehoben. Die Meinungen gehen auseinander, wie weit das Programm zur Wiederbelegung der Konjunktur zu greifen beginnt.
Schon jubeln einige Regierungsmitglieder. Der Soziologe Ociel Alí López von der Universidad Central de Venezuela sagt, das Land habe das Schlimmste überstanden und beginne wieder „aufzuleben“. *)
Fünf Tage Arbeit für ein mageres Huhn
Wirklich? Zwar berichten Venezolaner ihren in Europa lebenden Angehörigen, dass das Angebot an Nahrungsmitteln tatsächlich etwas gewachsen sei. Auf den Märkten finde man zum Teil wieder Reis, Kartoffeln, Mais, Früchte und Gemüse. Doch die meisten Venezolaner könnten sich diese Lebensmittel nicht leisten.
Die Preise für die Grundnahrungsmittel haben sich seit März mehr als verdoppelt. Jetzt hat das Regime Preisobergrenzen für Produkte des alltäglichen Gebrauchs angeordnet. Der Mindestlohn wurde erhöht, doch noch immer muss man fünf Tage arbeiten, um sich ein mageres Huhn leisten zu können.
Viele Venezolaner leben von Geldüberweisungen von Angehörigen, die sich ins Ausland abgesetzt haben. Laut Angaben der Uno sind vier Millionen Venezolaner und Venezolanerinnen geflüchtet. Viele von ihnen transferieren jetzt einen Teil ihrer Ersparnisse oder der neuen Einkünfte an ihre zurückgebliebenen Verwandten.
Die Armen werden ärmer
Das Konjunkturprogramm und die Wirtschaftsreformen haben zwar einigen wenigen einige Erleichterungen gebracht. Doch die Gefahr besteht, dass sich der Graben zwischen Armen und nicht ganz Armen vertieft. Wer kein Geld hat und keine Angehörigen im Ausland, dem geht es schlecht. Die staatlichen Sozialprogramme, die Hugo Chávez einführt hatte und die selbst von seinen Gegnern gelobt wurden, brechen zusammen. Es fehlen die Mittel, um sie weiterzuführen. Dass die von Trump verfügten Sanktionen vor allem die Armen treffen, ist eine Tatsache.
Doch die Hauptschuld trägt das Regime selbst. Das Debakel begann schon unter Hugo Chávez, der 1999 an die Macht kam und 2013 an Krebs starb. Mit den sprudelnden Öleinahmen half er zwar den Armen, verpasste es aber, die Wirtschaft zu diversifizieren. Unter seinem Nachfolger Maduro verrotteten die Förderanlagen, auch wegen der amerikanischen Sanktionen. Heute muss das Land Benzin importieren. Vor zwei Wochen brachten fünf iranische Riesentanker unter dem Protestgeschrei von Donald Trump 1,5 Millionen Barrel iranisches Öl ins Land.
Zwanzig Tage kein frisches Wasser
Doch die Versorgungslage bleibt lamentabel. Die liberale venezolanische Zeitung „El Nacional“ berichtet von Autofahrern, die schon um drei Uhr morgens an den Tankstellen anstehen und nach stundenlangem Warten nach Hause geschickt werden.
Immer wieder fällt der Strom und die Wasserversorgung aus. Bewohner des Altagracia-Quartiers in Caracas demonstrieren an diesem Mittwoch, weil sie seit zwanzig Tagen kein Wasser haben. In den Spitälern fehlt es nach wie vor an hygienischem Material und Medikamenten.
Hatz auf Journalisten
Die Medien sind zensuriert. Etwa 50 unabhängige Zeitungen stellten ihr Erscheinen ein. Wie die Organisation Espacio Público schreibt, sind viele der Opfer Journalisten, so jüngst auch Luis López von der Zeitung La Verdad de Vargas. Allein im Mai wurde die Meinungsfreiheit 112 Mal verletzt.
Prominentestes Beispiel ist die linksliberale Zeitung „El Nacional“, die einzige unabhängige, landesweit vertriebene Zeitung, die Maduro auf die Finger klopft. Die Zeitung hatte früher eine Auflage von 250’000 und am Sonntag von 350’000 Exemplaren.
Doch dann kam Maduro. Das Regime begann den Chefredaktor, Miguel Henrique Otero, zu schikanieren und zu bedrohen. Auch Journalisten wurden verleumdet und diffamiert. Doch „El Nacional“ hielt stand. Die Drohungen nahmen ein Ausmass an, dass sich der Chefredaktor nach Madrid absetzte, von wo aus er die Zeitung leitet.
„Rekordzahl willkürlicher Verhaftungen“
Und plötzlich sagte die Regierung, es fehle an Papier. Viele unabhängige Zeitungen mussten deshalb ihre Druckausgabe einstellen. Die regimefreundlichen Zeitungen allerdings wurden weiterhin mit Papier beliefert. 2018 sah sich El Nacional gezwungen, ihre Druckausgabe einzustellen und nur noch online zu publizieren. „Wir werden die Zeitung wieder drucken, sobald das Regime fällt“, sagte Otero der spanischen Zeitung ABC. „Das wird meiner Meinung nach nicht lange dauern“, fügte er bei. Doch es dauert länger, als er denkt. Das Interview mit ABC war 2018 geführt worden.
„Reporter ohne Grenzen“ (ROG) schreibt: Seit 2017 gebe es in Venezuela „eine Rekordzahl von willkürlichen Verhaftungen und Gewalttaten gegenüber Reportern durch Polizei und Geheimdienst. Die Nationale Telekommunikationskommission sperrt Sendefrequenzen von kritischen Radio- und Fernsehsendern und veranlasst kurzfristige Abschaltungen von Internet oder Social Media. ... Ausländische Journalisten werden oft festgenommen, verhört und abgeschoben. In der Konsequenz flohen viele Medienschaffende aus Venezuela.“ Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen nimmt Venezuela den 147. Platz ein.
Nicht nur mit Repression festigt Maduro seine Macht. Die Armee schart er hinter sich, indem er die hohen Offiziere weit überdurchschnittlich bezahlt.
Juan Guaidó abgesetzt
Eine Demokratie ist Venezuela schon längst nicht mehr. Das Parlament, in dem die Opposition die Mehrheit hatte, wurde 2017 entmachtet und durch eine „verfassungsgebende Versammlung“ ersetzt, in der Maduros Leute das Sagen haben. Maduro-Kritiker werden festgenommen, so der Bürgermeister von Caracas, Antonio Ledezma. Die von Maduro abgesetzte Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz flüchtete nach mehreren Drohungen nach Kolumbien.
Im Januar dieses Jahres wurde Juan Guaidó als Präsident des entmachteten Parlaments abgesetzt. Zu seinem Nachfolger wurde in einer chaotischen Abstimmung Luis Parra gewählt. Parra erhielt die Stimmen von mehreren Oppositionellen – wie vielen, ist unklar. Obwohl die Abstimmung eine Farce war (das Protokoll mit den Stimmenzahlen wurde „gestohlen“), führte sie zu einer weiteren Schwächung von Guaidó.
„Alles andere wäre eine Überraschung“
Am 26. März hatten die USA Maduro des „Narko-Terrorismus“ beschuldigt und ein Kopfgeld von 15 Millionen Dollar auf ihn ausgesetzt. Man könnte das als Hilflosigkeit der USA interpretieren.
Sollte der Präsident nicht einem Attentat zum Opfer fallen, könnte er noch lange an der Macht bleiben. Dieser Ansicht sind zumindest venezolanische Dissidente in Europa.
In Genf lebende Venezolaner, die engen Kontakt mit ihren Angehörigen in Venezuela haben, sind ernüchtert. „Wir werden wohl noch längere Zeit mit Maduro leben müssen“, heisst es. „Alles andere wäre eine wunderbare Überraschung.“
*) https://amerika21.de/analyse/239838/venezuela-wirtschaftliche-oeffnung
Der Weg zur Diktatur
(einige Eckdaten zur venezolanischen Krise)
1999: Der selbsternannte Sozialist Hugo Chávez wird venezolanischer Präsident. Er greift die USA heftig an und führt den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ ein.
12. April 2002: Putsch von Militäreinheiten gegen Chávez. Der Präsident wird festgenommen. Hunderttausende protestieren gegen den Staatsstreich. Die Putschisten werden verhaftet, Chávez wird wieder im Amt eingesetzt. Es gibt Anzeichen, dass die USA und Spanien in den Putsch verwickelt waren. Washington dementiert.
2009: Amnesty International beklagt, dass Oppositionelle, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten unter Chávez bedroht, verfolgt und unter Anklage gestellt wurden.
5. März 2013: Hugo Chávez stirbt an Krebs. In zahlreichen lateinamerikanischen Staaten herrscht Staatstrauer.
14. April 2013: Nicolás Maduro wird mit 50,66 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt. Die Opposition spricht von Wahlfälschung, Einschüchterung und doppelter Stimmabgabe.
Februar 2014: Erste Demonstrationen gegen steigende Preise und Warenknappheit.
2014: Weltweit sinken die Ölpreise. Venezuela fehlen die Einnahmen, um die Importe lebenswichtiger Güter zu finanzieren.
19. Februar 2015: Antonio Ledezma, der Bürgermeister von Caracas, wird seines Amtes enthoben und festgenommen. 2017 gelingt ihm die Flucht nach Spanien.
10. September 2015: Der Oppositionspolitiker Leopoldo López wird wegen Aufrufs zur Gewalt zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt. Am 30. April 2019 wird er befreit und befindet sich jetzt in der spanischen Botschaft.
6. Dezember 2015: Bei den Parlamentswahlen gewinnt die Opposition zwei Drittel aller Sitze. Maduro anerkennt die Entscheidungen des Parlaments nicht. Das Maduro-treue Oberste Gericht kippt alle Parlamentsbeschlüsse.
2016: Maduro regiert mit Notverordnung.
18. August 2017: Das Parlament, das von der Opposition dominiert wird, wird entmachtet. Ein „Gegenparlament“, eine Maduro-treue „Verfassungsgebende Versammlung“ wird gebildet. Sie übernimmt die Aufgabe des Parlaments.
18. August 2017: Die von Maduro abgesetzte Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz flüchtet nach mehreren Drohungen nach Kolumbien.
Mai 2018: Maduro wird – so das offizielle Ergebnis – mit fast 68 Prozent der Stimmen für eine zweite Amtszeit gewählt. Die Opposition, aber auch zahlreiche lateinamerikanische Staaten, die USA und die EU sprachen von Wahlbetrug, von „Farce“, von einer „Beleidung für die Demokratie“.
15. Januar 2019: Die entmachtete Nationalversammlung erklärt die Wahlen für ungültig und akzeptiert die zweite Amtszeit von Maduro nicht. Juan Guaidó, der Präsident der Nationalversammlung, erklärt sich zum Interimspräsidenten.
30. April 2019: In Caracas erhebt sich eine kleine Gruppe von Militärs zugunsten von Guaidó. Der Aufstand scheitert schnell.
1. Mai 2019: Der amerikanische Aussenminister Mike Pompeo spricht von der Möglichkeit einer „militärischen Intervention“.
Juli 2019: Die Uno-Menschenrechskommissarin Michelle Bachelet spricht von Folter und aussergerichtlichen Exekutionen in Venezuela.
5. Januar 2020: Luis Parra wird in einer tumultuösen Abstimmung zum Parlamentspräsidenten gewählt – als Nachfolger von Juan Guaidó.
17. März 2020: Maduro ruft den Corona-Notstand aus und verhängt eine nationale Quarantäne für 30 Millionen Menschen.
26. März 2020: Die USA setzen auf Maduro ein Kopfgeld von bis zu 15 Millionen Dollar aus.
31. März 2020: Die USA fordern die Einsetzung einer Übergangsregierung.
3. Mai 2020: Das Regime erklärt, es habe einen bewaffneten Putschversuch vereitelt. Guaidó wird vorgeworfen, in Kolumbien Söldner rekrutiert zu haben. Die USA bestreiten jede Beteiligung.
4. Juni 2020: Der venezolanische Aussenminister Jorge Arreaza erklärt, Guaidó sei in die französische Botschaft geflüchtet. Frankreich dementiert.