Aus Indien schaffte es nur ein einziger Rennfahrer zu den Olympischen Spielen nach Beijing. Für Arif Khan war allein die Teilnahme so viel wert wie eine Goldmedaille. Der Himalaya ist die grösste und schneereichste Bergregion der Welt. Doch nur ein einziger Rennfahrer schaffte es zur Olympiade nach Beijing. Für Arif Khan war allein die Teilnahme so viel wert wie eine Goldmedaille.
Wer wie ich auf dem Land wohnt und sich nicht immer aufs Internet verlassen kann, greift zur Zeitung. Aber auch dort werde ich nicht fündig, wenn ich von der Winter-Olympiade lesen will. Wie immer wird spalten- und seitenweise über Cricket berichtet, mit kurzen Einschüben zu Landhockey und Badmintonturnieren.
Es gab bisher eine einzige Ausnahme – und es war keine sportliche. Der Mann, der am Eröffnungstag mit der Fackel ins Olympiastadion lief, war kein Sportler, sondern ein Armee-Offizier. Qi Fabao war der Kommandant eines Regiments, das vor bald zwei Jahren im westlichen Himalaya – Ladakh gemäss indischer Nomenklatur – mit einem Trupp indischer Soldaten in ein Handgemenge geriet.
Kleinkrieg im West-Himalaya
Laut indischer Darstellung hatten die Volksarmisten im Jahr 2020 eine Patrouille angegriffen, die im umstrittenen Niemandsland zwischen den indischen und chinesischen Stellungen regelmässig vereinbarte Punkte anlaufen, um symbolisch ihren territorialen Anspruch geltend zu machen. Am 15. Juni 2020 wurden sie im (übrigens menschenleeren) Galwan-Sektor in der Nähe des türkisblauen Pangong-Sees daran gehindert. Beim Streit – in dem auch Stöcke und Brecheisen zum Einsatz kamen – sollen zwei Dutzend indische und drei chinesische Soldaten ums Leben gekommen sein.
Seitdem hat sich die Lage im West-Himalaya beruhigt – zumindest nach aussen. Denn noch immer stehen sich beide Armeen gegenüber, nur knapp ausserhalb der Schussdistanz. Und es kommt immer wieder zu Zwischenfällen – chinesische «Arbeiter mit Schaufeln» etwa, die zwischen den beiden Lines of Control an einer Schotterstrasse werkeln. Die Störfälle werden dann bei einem der regelmässigen Treffen zwischen den Front-Kommandanten «bereinigt».
Im Vorfeld der Beijing-Olympiade hatte die chinesische Regierung mit massivem Druck auf das IOK durchgesetzt, dass sich Athleten und Delegationsmitglieder jeglicher politischer Äusserungen enthalten müssen. Das hinderte den Gastgeber nicht daran, als letzten Fackelläufer der Eröffnungszeremonie eine Person auszuwählen, die in einem immer noch akuten Grenzkonflikt mit Indien bei einem Zwischenfall das Kommando wahrnahm, in dem zwei Dutzend indische Soldaten starben.
Affront gegen Indien
Es war beileibe nicht nur Indien, das diesen Affront bemerkte. Im Gegenteil: Oberst Qi Fabao wurde in der – auf ausländische Leser abzielenden – Global Times als Volksheld gefeiert, und zwar ausdrücklich für die heroische Verteidigung des Vaterlands in Galwan.
Für einen Augenblick war die Winterolympiade in Indien in aller Munde. Der Sprecher des Aussenministeriums erklärte, das olympische Mandat verpflichte den gastgebenden Staat – als ausführendes Organ der weltweiten olympischen Bewegung – zu politischer Neutralität. Stattdessen habe China den Eröffnungsakt für einen gezielten Fusstritt gegen ein Mitglied der olympischen Familie missbraucht. Indien lasse sich dies nicht bieten. Es sagte die offizielle Teilnahme am Eröffnungsakt ab.
Allerdings war es zu spät, um auch die Teilnahme an den Spielen abzusagen. Im Unterschied zu den Alpenländern hätte Indien dies zwar nicht viel gekostet. Die indische Delegation bestand nämlich aus einem einzigen Sportler, der als Fahnenträger eine Handvoll Sportbeamte anführte.
Der Slalom-Meister aus Kaschmir
Für den Alpin-Skifahrer Arif Khan wäre die Teilnahme also beinahe gescheitert – und dies zum zweiten Mal. Bereits vor vier Jahren in Südkorea hatte er Forfait erklären müssen. Khan hatte sich für den Slalom qualifiziert, doch dann machte ihm die Politik einen Strich durch die Rechnung.
Arif Khan ist Kaschmirer, der Sohn eines Sportladen-Besitzers in Gulmarg, Indiens einzigem Wintersport-Ort. Der Kashmir Alpine Ski Shop liegt dort am Fuss der zwei Pisten, die mit Skilifts versehen sind. Arif hatte das Glück, in den späten achtziger Jahren aufzuwachsen, als auch im Winter ein bescheidener Tourismus-Betrieb florierte und zumindest das Highland Park Hotel füllte, das einzige nennenswerte Etablissement vor Ort. Ein Raupenfahrzeug zog die paar Skifahrer jeweils mithilfe von einem Dutzend Seilen den Hang hoch.
Am Ende jenes Jahrzehnts begann im Kaschmirtal eine bewaffnete Untergrundbewegung. Sie wurde durch Infiltration von Mudschaheddin aus Pakistan alimentiert, das nur zwanzig Kilometer westlich von Gulmarg hinter der Gerbirgskette des Pir Panjal liegt. Der Tourismus kam zum Erliegen.
Der Ski-Shop und Bergführungen von Vater Yasin Khan genügten dennoch, um seinem Sohn die Möglichkeit zu geben, in billigen Skidestinationen erste Lorbeeren zu holen – in Montenegro und Iran, in der Türkei und auf der Kunstschnee-Piste von Dubai. 2016 wurde Arif Südasien-Meister im Slalom. Er hatte dabei auch ein Rennen in Pakistan absolviert und sich für die Teilnahme an der Winterolympiade in Südkorea qualifiziert.
Durch Corona gerettet
Doch der Kaschmir-Konflikt machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Aufgerieben im Kleinkrieg zwischen Jihadisten und der indischen Armee entwickelte sich 2016 eine Kampagne zivilen Ungehorsams unter dem Slogan Azadi! – Unabhängigkeit. Diese Radikalforderung führte zu einer nie gesehenen Repression in Kaschmir; sie fachte zudem eine kaschmirfeindliche Stimmung in Indien an. Als bekannt wurde, dass Arif Khan in Pakistan gewesen war, wurde er als Landesverräter verhöhnt. Seine Sponsoren sagten sich von ihm los, und das Geld für die Reise nach Seoul blieb aus.
Mit der Pandemie drohte sich bei der diesjährigen Olympiade dasselbe zu wiederholen. Qualifikationsrennen wurden reihenweise abgesagt und Geldgeber hatten andere Sorgen. Doch dann wurde das Virus doch noch Khans Retter. Als die erste Infektionswelle von 2020 zurückging, internationale Feriendestinationen aber geschlossen blieben, ergossen sich Massen indischer Touristen nach Kaschmir.
2020/21 wurde das beste Tourismus-Jahr seit Jahrzehnten. Und zum ersten Mal landete eine Wintersportart – Arif Khans Alpindisziplinen – im Förderprogramm eines indischen Unternehmens. Der Zufall wollte es nämlich, dass der Mitbesitzer eines Stahlunternehmens in Gulmarg Skiferien machte und von Arif Khan hörte. Er bot ihm einen Sponsoren-Vertrag an; der Weg nach Beijing war wieder offen.
45. Rang, Ziel erreicht
Am Sonntag war es soweit. Arif Khan startete in Nanqing im Riesenslalom. Er landete auf dem 45. Rang. Es war der drittletzte Platz, aber im Gegensatz zu dreissig gestrauchelten Konkurrenten konnte er beide Läufe beenden. «Konstant. Und konstant langsam» lautete sinngemäss die Schlagzeile des Indian Express. Der Zeitverlust auf den Sieger: 37,89 Sekunden, ein Viertel der Gesamtzeit des Siegers. Aber das war sekundär. Khan hatte eine Olympiade-Teilnahme geschafft, und er hatte das Ziel erreicht. Die gleiche Losung gilt nun für nächsten Donnerstag, wenn die beiden Slalom-Durchgänge anstehen.
Arif Khan weiss, wie leicht Politik Sportträume durchkreuzen kann. Indiens einziger Olympionike in Beijing hat sich bisher nicht ins Schussfeld von Chinas Giftpfeilen verirrt, obwohl es in Indien Hitzköpfe gibt, die dies von ihm fordern. Er könnte zu seiner Entlastung auf Thomas Bach verweisen, den mächtigen Präsidenten des IOK, der bekanntlich kaum ein Wort der Kritik wagt.
IOK-Chef als Leisetreter
Bei der Pressekonferenz zu Beginn der Spiele hatte sich Bach aufs Gebiet der Wirtschaftspolitik begeben, um sein Leisetreten zu rechtfertigen. Er sprach vom Wintersport-Boom, der sich nun in China breitmacht und insbesondere europäischen Sportartikelfirmen zugutekommt. «Alle Geräte-Firmen, die meistens in den Alpenländern angesiedelt sind, werden von dieser Entwicklung ungemein profitieren», sagte er.
Dasselbe möchte man auch von Indien sagen können. Ein halbes Dutzend Skilifte und Seilbahnen in einer Bergregion von 2500 Kilometern Ausdehnung und sechzig Millionen Bewohnern (zählt man die Berggebiete von Pakistan und Nepal hinzu) fühlt sich beinahe surreal an. Es lässt an den Beginn des Alpen-Tourismus vor zweihundert Jahren denken, als dieser für die Randregion der Alpentäler die Moderne einläutete. Doch damals lieferte eine kleine Elite – die englische Aristokratie – den finanziellen Startschub für eine Infrastruktur, die ihrerseits zur Geburt des Wintersports führte.
Die heutige Geld-Elite Indiens braucht den einheimischen Tourismus gar nicht mehr zu erfinden – sie findet ihn im Ausland, in hunderten von global ausgerichteten Resorts mitten in einer Ski-Arena. Und für den Massentourismus gibt die zerbrechliche Ökologie des Himalaya nicht mehr her. Arif Khan wird also keinen Boom auslösen, und das nicht nur wegen seinem 45. Rang. Dennoch hat er – gerade im dunklen Umfeld Kaschmirs – einen kleinen Lichtpunkt gesetzt.