Das Marktsegment, das sie bedienen, ist klein. Dennoch sind sie in jeder europäischen Gross- oder Universitätsstadt zu finden: iranische Buchhandlungen. Sie fristen ein schwieriges Dasein. Doch im Internetzeitalter misst sich ihr Erfolg nicht an Verkaufszahlen, sondern an ihrem Einfluss auf das kulturelle Leben im Heimatland.
Eine Autorenlesung als grenzüberschreitendes Ereignis? Kaum zu glauben oder zumindest nicht üblich, möchte man meinen. Es sei denn, ein weltberühmter Autor stellt nach intensiver Werbung ein aussergewöhnliches Buch vor.
Dass es aber zu einem „Weltereignis“ werden könnte, wenn eine weitgehend unbekannte Professorin in der Aula einer Universität einem ausgesuchten Fachpublikum ihre Biographie einer Dichterin vorstellt, die vor fünfzig Jahren verstorben ist, klingt dennoch undenkbar. Doch in unserer virtuellen Realität müssen wir uns wohl an manches Undenkbare gewöhnen.
Das Ereignis fand Anfang Dezember an der US-Universität Virginia statt. Kaum hatte die Professorin die Bühne verlassen, noch hielten die Ovationen der ZuhörerInnen an, da war ihre fast einstündige Rede über Facebook, Youtube und andere soziale Medien schon tausendfach vervielfältigt, kommentiert und empfohlen und in jeder Ecke der Welt zu hören. Farzaneh Milani heisst die Professorin. Sie lehrt seit dreissig Jahren an der besagten Universität vergleichende Literaturwissenschaft.
Poetin der Freiheit
Milani stellte an jenem kalten Dezemberabend in persischer Sprache ihr 600 Seiten umfassendes Buch über die iranische Dichterin Forugh Farrokhzad vor. Diese in jungen Jahren verstorbene Poetin kennt fast jeder Iraner und jede Iranerin. Wer sich einen Überblick über die iranische Literatur des zwanzigsten Jahrhundert verschaffen möchte, kommt an Farrokhzad nicht vorbei. Die Poetin gehört zu den Klassikern. Sie gilt als verkörperte Frauenfreiheit schlechthin, und im literarischen Betrieb wagen selbst die Puristen nicht, ihre dichterischen Fähigkeiten in Abrede zustellen. Selbst der iranische Revolutionsführer Ali Khamenei, der sich auch in Sachen Dichtkunst für einen Experten hält, liess Farrokhzad nicht unkommentiert.
Feministische Heldin als Klassikerin
Dabei war die Dichterin, als sie vor fast fünfzig Jahren starb, gerade mal 32 Jahre alt. Seit ihrem Tod wurden zahlreiche Bücher, Dutzende Doktor- und Diplomarbeiten sowie Tausende Artikel über sie geschrieben – und das nimmt, wie die spektakuläre Veranstaltung in Virginia zeigt, kein Ende. Denn es gibt immer Neues und Interessantes in Farrokhzads kurzem Leben zu entdecken. Das neue Buch über die Poetin Farrokhzad von der Professorin aus Virginia trägt den vieldeutigen Titel „Eine literarische Biographie“. Und es handelt sich um ein Werk, das in der Tat mehr ist als eine einfache Lebensgeschichte.
Es ist nicht nur eine Reise in die Gedichte, sondern auch in die Geschichte der Dichterin. Milani hat 1979 bereits ihre Diplomarbeit über Farrokhzad geschrieben. Die Dichterin scheint die Passion der Professorin – oder, wie sie selbst sagt, ihr „Lebenswerk“ – zu sein.
„Schlüssellochlyrik“ oder historische Wahrheit
In ihrem neuen Buch präsentiert Milani bislang unbekannte Dokumente und Interviews mit Freunden und Verwandten der Dichterin. Doch das Spektakuläre, manche sagen, das Skandalöse an dem neuen Buch ist, dass die Autorin erstmals auch dreissig Liebesbriefe der Dichterin veröffentlicht. In diesen Schreiben an ihren Geliebten kommt eine Sprachkünstlerin zu Wort, die für ihre Offenheit bekannt ist.
Wohl auch deshalb scheint sich, seit die neue Biografie auf dem Markt ist, jede und jeder genötigt zu fühlen, eine Meinung oder zumindest einen Kommentar zu dem Werk zu haben. Darf man die Intimitäten einer Frau, einer bekannten Dichterin, in aller Öffentlichkeit breittreten? Ist es erlaubt, sexuelle Gefühle einer Poetin feilzubieten, die für ihre Freimütigkeit und rückhaltlose Ehrlichkeit bekannt war, zumal in einer orientalisch-islamischen Gesellschaft, in der Schamgefühle wichtig sind?
Es sind nicht nur Feuilletonisten, die solche rhetorischen Fragen stellen. Auch jene Publizisten scheinen erbost zu sein, denen Scham und Scheu des Publikums wichtiger sind als manche historische Begebenheiten. Konservative Webseiten etwa schreiben von einem Tabubruch oder von „Schlüssellochlyrik“. Manche Puristen sprechen von verbalem Voyeurismus und wörtlicher Nacktheit.
Dichterin der Sünde
Ja, unbedingt, man müsse all das veröffentlichen, sonst werde man weder der Poetin noch ihrer Zeit und der historischen Wahrheit gerecht, antwortet die Literaturwissenschaftlerin Milani. Und muss dies seit nunmehr sechs Wochen unentwegt wiederholen: bei ihren zahlreichen TV-Auftritten, bei Lesungen oder in Radiointerviews, und jedesmal zitiert sie Farrokhzad selber, deren allererstes Gedicht „Die Sünderin“ heisst:
„Gesündigt habe ich, gesündigt voller Lust
In einer Umarmung, die warm und brennend war
Gesündigt habe ich, umschlossen von Armen
so heiss und stark und fest wie Eisen
Im Becher funkelte der rote Wein
In seinen Augen funkelte die Lust
Und auf dem weichen Lager zitterte mein Leib
Vor Trunkenheit auf seiner nackten Brust
Gesündigt habe ich, gesündigt voller Lust
Sein Körper zitterte, er sprach kein Wort
Du grosser Gott, ich weiss nicht, was ich tat
Fernab und ganz allein an jenem stillen Ort“
Zwanzig Jahre alt war Forugh Farrokhzad, als sie mit diesen Zeilen für Furore sorgte. Das Gedicht war das literarische Ereignis des Jahres 1955, kontroverses Thema in fast allen Zeitungen.
Und schon damals glaubte bald jede und jeder, eine Meinung über die junge Dichterin zu haben. Denn mit Farrokhzad hatte sich eine Künstlerin zu Wort gemeldet, die weit über die Literaturszene hinaus einen einmaligen Rang beanspruchte. In der langen Geschichte der persischen Dichtkunst war sie die erste, die sich mutig und offen jener Sprache bediente, die bis dahin nur Männern vorbehalten war. Mehr noch: Im Gegensatz zu ihnen bekannte sie sich offen zu ihren Gefühlen und äusserte sich ohne Umschweife zur irdischen Liebe. Es waren eher die Männer, die in ihren Gedichten als ambivalente und quasi verschleierte Wesen auftauchten.
„Sünde“ war der Beginn einer kreativen Lebensphase, die nur zwölf Jahre dauerte. Jeder war zwar neugierig auf Farrokhzads Privatleben, aber niemand stellte ihre Kunst, ihr Können oder ihre Integrität infrage – obwohl Freiheit und Gefühle von Frauen ihre Themen waren und blieben. Las sich ihr erstes Gedicht bereits wie eine Revolte gegen Konventionen, so hiess einer ihrer Lyrikbände unmissverständlich Esiaan (Rebellion), und auch weitere Gedichtbände trugen ähnliche Titel: Asir („Die Gefangene“,1955), Divaar („Die Wand“,1956), Tavalodi Digar („Die Wiedergeburt“,1964).
Farrokhzad verfiel nicht den Moden der Zeit, sie sympathisierte weder mit einer Partei noch einer Ideologie. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb ist sie bis heute über politische Grenzen hinweg eine anerkannte Dichterin. Sie gehört zu den meistgelesenen iranischen Autoren.
1960 studierte sie in England Film und drehte 1964 „Das Haus ist schwarz“, der mit dem Oberhausener Kurzfilmpreis ausgezeichnet wurde. Sie starb am 13. Februar 1967 in Teheran bei einem Autounfall. Ihr Begräbnis wurde zu einem nationalen Ereignis.
Auch wenn all das manchen heutigen Zeitgenossen kaum glaubwürdig klingen mag: Wir sprechen von der Kulturszene des Iran vor 60 Jahren.
Aktueller denn je
Ist diese Zeit nicht längst vergangen, sind Farrokhzads Gedichte nicht vergessen, vergraben unter den Bergen der gegenwärtigen Glaubenspropaganda? Nein, sagt Professor Milani: „Sie bewegt uns immer noch, auch lange nach ihrem Tod. Ihrer Zeit war sie weit voraus, nicht zähmbar und nicht haltbar im Korsett der herrschenden Werte – deshalb war, ist und bleibt sie aktuell.“
Farrokhzad sei die Botin einer leisen, aber beständigen Revolution, die in vollem Gange sei, sagt die Biographin und zitiert jüngere Dichterinnen, die allesamt von Farrokhzads Sprache und Persönlichkeit stark beeinflusst sind. „Kann in einem Land, in dem 60 Prozent der Studenten weiblich sind, eine Dichterin wie Farrokhzad in völlige Vergessenheit geraten?“, fragt die Autorin und fügt hinzu, sie wundere sich deshalb nicht, wenn viele junge Menschen in sozialen Netzwerken oft Farrokhzads Verse zitierten. Dann zitiert die Professorin selbst einen Vers von Farrokhzad, der zu einem Sprichwort avanciert ist: „“پرواز را به خاطر بسپار پرنده مردنی است“: „Behalte den Flug im Gedächtnis – der Vogel ist sterblich.“
Leser im Iran im Blick
In der Biographie beschreibt Milani nicht nur das Kulturpanorama der iranischen Gesellschaft der 60er Jahre. Sie hat auch die Zeit danach und die literarische Gegenwart im Blick. Man sieht, hier ist eine Wissenschaftlerin am Werk, die akribisch forscht und für ein breites Publikum schreibt. Hätte dieses Buch die iranischen Zensurhürden passieren können? Unvorstellbar, antwortet die Autorin und fügt hinzu: „Im Internetzeitalter ist doch vollkommen einerlei, welcher Verlag in welcher Ecke dieser Welt ein Buch publiziert.“ Zufall oder nicht: „Naakojaa“, zu Deutsch „Nirgendwo“ heisst das Internetportal, auf dem man die Biographie für 34 Euro bestellen kann.
Nirgendwo, überall
Für iranische Verhältnisse sehr teuer, doch die Autorin hat Ideen entwickelt, wie man Interessenten aus dem Iran eine kostenlose Print- oder Ebookversion des Buches zur Verfügung stellen kann. Denn die Nachfrage aus dem Iran steige merklich, berichtet Naakojaa. Der in Paris ansässige Verlag publiziert seit vier Jahren weltweit persischsprachige Bücher. „Nirgendwo“ ist also praktisch überall – und er ist im iranischen Literaturbetrieb in jeder Hinsicht einmalig.
Nur der Wahrheit und Ästhetik verpflichtet
„Keine politische, ideologische oder geographische Norm kann uns vorschreiben, was verlegerische Freiheit ist.“ Das war der erste Satz jener Erklärung, mit der Tinuche Nazmjou vor vier Jahren seinen Verlag ins Leben rief. Dieses Bekenntnis des Franko-Iraners war nicht nur eine Kampfansage an das Teheraner Zensurregime. Es war auch eine an jene Verlegerkollegen im Ausland, die der „reinen“ Exilliteratur huldigen. „Nur die Textqualität ist unser Maßstab, sonst nichts“, verkündete Nazmjou und seine vierjährige Verlagspraxis beweist, dass er sich strikt daran hält. In seinem realen wie virtuellen Laden kann man fast alles bestellen, Publikationen aus dem Iran ebenso wie „reine“ Exilliteratur. Das Portal von Naakojaa ist inzwischen auch eine Seite für Buchkritik, an der sich der Verleger selbst aktiv beteiligt. Denn als Autor, Übersetzer und Theaterregisseur ist Nazmjou in der iranischen Kulturszene ebenso gut präsent und vernetzt wie in der französischen. Im März 2016 gab er der „International Assembly of Independent Publishers“ einen amüsanten und höchst informativen Bericht über seine Erfahrung als Verleger im Ausland.
Das Gesicht der Zensur
„In der iranischen Welt geht es dem Buch nicht gut“, so beginnt Nazmjou seinen Bericht und beschreibt die Welt als einen Kulturraum, in dem es um 100 Millionen potentielle Leser geht, im Iran, in Afghanistan, in Tadschikistan und natürlich in einer Diaspora von mehreren Millionen Menschen, zerstreut über den Erdball, von Australien bis Amerika, von Malaysia bis Europa.
Er berichtet, wie er kurz nach der Verlagsgründung fast alle ihm bekannten Autoren im Iran kontaktiert und ihnen angeboten hat, ihre Manuskripte bei ihm zu publizieren. Die Antworten, die er bekam, sind erheiternd und lehrreich zugleich. Man erfährt, wie Zensur funktioniert, wer die Zensoren sind, welche Worte und Begriffe tabu sind und wie zurückgeschickte Manuskripte nach ihrer Ablehnung oder „Verbesserung“ aussehen.
Nazmjou schätzt die Zahl der potentiellen Leserinnen und Leser in der Diaspora auf zehn Millionen, seinen Kunden versendet er Manuskripte und stellt ihnen E- und Papierversion (printed on demand) zur Verfügung. Interessenten aus dem Iran bietet er Downloads und E-Books an. Sein Verlag erhalte zahlreiche Manuskripte aus dem Iran, hauptsächlich solche, die an den dortigen Zensurbehörden gescheitert seien. Doch „wir wählen nur einige zur Veröffentlichung aus“, sagt Nazmjou und wiederholt seine Maxime: „Entscheidend ist die Textqualität.“
Weltautoren auf Persisch
2014 startete Naakojaa ein neues Projekt. Der Verlag begann, persischsprachige Fassungen der Bücher von Marguerite Duras, Romain Gary, Julian Barnes und Haruki Murakami zu publizieren. Zugleich ist Naakojaa so etwas wie das persische Amazon. Der Verlag bietet seinen Kunden nicht nur die eigenen oder im Iran veröffentlichte Bücher an, sondern auch die der Konkurrenten, also anderer Exilverlage. Mehr noch: Auf dem Portal von Naakojaa wird für diese Konkurrenten sogar geworben, sie sind dort mit eigenen Logos und Angeboten präsent.
Schwieriges Dasein
Nicht alle iranischen Exilverlage sind so breit aufgestellt wie Naakooja. Die meisten sind überwiegend mit Exilliteratur befasst. Verständlich, dass die Zahl ihrer Publikationen überschaubar ist, manche von ihnen verlegen nicht mehr als zwei bis drei Bücher im Jahr. Sie nennen sich zwar Verlage, doch sind meist eher Buchhandlungen mit all den Problemen, mit denen sich kleine Buchläden auseinandersetzen müssen.
Hinzu kommt, dass sie ein sehr kleines Marktsegment bedienen: Exilierte, die immer noch an persischer Literatur und Sprache interessiert sind. Dennoch findet man persische Buchläden in fast allen deutschen Grossstädten wie in Berlin, Hamburg, Köln oder München. Und auch in vielen Universitätsstädten, etwa in Bochum, Marburg oder Dortmund, findet man engagierte iranische Buchhändler, die von ihren Geschäften oft mehr schlecht als recht leben können. Eine Umfrage des Iran Journal unter diesen Geschäften ergab, dass keiner der Buchhändler vom Buch allein leben kann. Manche Buchläden verkaufen persische Spezialitäten, andere wie Aida in Bochum und Forugh in Köln sind zugleich Orte für Veranstaltungen. Bücher in Papierform würden immer weniger verkauft und das E-Book sei noch die Ausnahme, so die Buchhändler. Manche wollen gar die Papierform auf ein Minimum reduzieren und ganz zur E-Book-Version übergehen.
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal