Hintergrund dieser Ausstellung ist das zunehmende Interesse des Landesmuseums an der Fotografie. Seit 2013 werden die Bestände stetig erweitert und systematisch erfasst. Im Jahr 2016 sollen etwa 400'000 historische Fotografien erschlossen sein und in einem neuen Studienzentrum der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden.
Urtümliche Identität
Die Ausstellung verfolgt zwei parallel verlaufende Linien: Da gibt es auf der einen Seite die Entwicklung der Arbeitswelt, auf der anderen die Entwicklung der Fotografie selbst. Das Medium der Fotografie ist erst seit den 1830er Jahren im Gebrauch -
Von Anfang an war die Fotografie mehr als ein blosses Mittel der Dokumentation. Ihr Gebrauch entfaltete eine eigene Dynamik – vom Staunen über die Wirklichkeit über den Einsatz als Werbemittel bis hin zur kulturellen Selbstvergewisserung und Propaganda. In der Ausstellung sieht man von allem etwas. Da gibt es Aufnahmen von Firmen, ihren Belegschaften, den damaligen Produktionsweisen und Reminiszenzen an die ländliche Schweiz und ihre scheinbar urtümliche Identität.
Die Ausstellungsmacher haben ein paar Schneisen geschlagen. So versuchen sie, die Entwicklung der Arbeitswelt der Schweiz insgesamt nachzuvollziehen, thematisieren in diesem Zusammenhang speziell die Rolle der Frau, sie werfen Blicke auf die Wirtschaft im Krieg, überhaupt auf das Thema der Fremdarbeiter, sie zeichnen die zunehmende Bedeutung der Technik nach und deuten den Weg in die Dienstleistungsgesellschaft an.
Stereofotografie
Es werden alle Arten von Fotos gezeigt: Fotos aus Familienalben, Bilder aus Firmenprospekten, Werbefotos, Pressefotos und Dokumentationen aller Art. Kurze erläuternde Texte helfen beim Verständnis. Allerdings krankt die Ausstellung daran, dass die Räumlichkeiten des Landesmuseums selbst allzu museal wirken und einer attraktiven Präsentation gewisse Grenzen setzen.
Am besten wirkt die Ausstellung da, wo sie noch „ musealer“ als in den anderen Räumen präsentiert ist. Die Rede ist von Projektionen schwarz-weisser Stereofotos, zu deren Betrachtung die entsprechenden Brillen zur Verfügung gestellt werden. Unversehens findet man sich in alten Fabrikhallen, zum Beispiel eine Spinnerei, auf Almwiesen und in anderen Szenerien wieder. Das ist ein schöner Effekt.
Überhaupt kann man als Betrachter an sich selbst beobachten, dass sich bei alten Bildern das Gefühl einstellt, es handele sich dabei um etwas, das irgendwie mit der Kindheit, mit einer noch kindlichen Entwicklung, zu tun hat. Als wären wir heute so viel weiter und reifer.
Stewardessen
Das mag auch an der damaligen Mode liegen. So sind in der Ausstellung Bilder von der Ausbildung der ersten Stewardessen der Swissair zu sehen. Diese Bilder haben etwas unfreiwillig Komisches an sich, und es ist schwer zu entscheiden, ob das an dem damaligen Dress, dem damals vermittelten Habitus der Stewardessen oder einfach dem mangelhaften Können des Fotografen liegt.
Die überwiegende Zahl der präsentierten Bilder muss man der Gebrauchsfotografie zurechnen. Das Landesmuseum hat zwar mit der Fotostiftung Winterthur zusammengearbeitet, aber die eigenen Bestände wurden ganz sicher nicht nach künstlerischen Gesichtspunkten erworben und katalogisiert.
Parallel zur Ausstellung ist ein Bildband erschienen, dessen Bildbestand zum Teil über die Ausstellung hinausgeht, aber leider auch nicht alle Bilder der Ausstellung enthält. Besonders schade ist, dass in dem Band die Fotos von Jean-Luc Cramatte fehlen, der mit äusserster Akribie zum Beispiel die Schalterhallen von Postämtern abgebildet hat. Seine Bilder entfalten einen spezifischen ästhetischen Reiz und regen zu Diskussionen an.
Auf der anderen Seite enthält der Band zahlreiche informative Texte zum Thema der Arbeitswelt und zur Rolle der Fotografie. Aber in der Ausstellung und in dem Bildband fehlt etwas ganz Entscheidendes: die Darstellung der Arbeitswelt durch Fotografen wie Werner Bischof, Theo Frey, Otto Pfeiffer, Paul Senn oder Jakob Tuggener, um nur diese aus einer grösseren Zahl bedeutender Schweizer Fotografen zu nennen. Sie werden im Begleitband in dem Beitrag von Markus Schürpf erwähnt, und dank seiner Hinweise kann der interessierte Leser von sich aus einen Teil dieser Bilder finden, etwa wenn er in das Online-Archiv der Fotostiftung oder des Fotomuseums Winterthur geht.
Schweizerisches Nationalmuseum. Landesmuseum Zürich: Arbeit. Fotografien 1860-2015, bis 3.1.2016, Museumsstrasse 2 www.landesmuseum.ch
„ Arbeit. Fotografien aus der Schweiz 1860-2015“, 224 Seiten, 200 Abbildungen in Schwarzweiss und Farbe, Deutsch und Französisch, herausgegeben vom schweizerischen Nationalmuseum, 48 CHF [email protected]