Ich war, seit ich gehen kann, ein „Strieli-Bueb“. Das schweizerdeutsche „Striele“ bezeichnet in verschiedenen Regionen der Schweiz das Ohne-Plan-Unterwegssein. „Strolchen“ oder „sich herumtreiben“ würde man im Hochdeutsch sagen, aber diese Wörter haben einen negativen Beigeschmack, der sich mit meiner Art des Strielens nicht verträgt. Als Kindergärtler strielte ich durch die Nachbarschaft, soweit mich meine kleinen Beine trugen, in der Primarschule erweiterte ein Trottinett (aus Holz, mit archaischem Bremssystem: Holzklotz auf Hartgummi) meinen Aktionsradius vom See bis in den Küsnachter Wald und an die Zürcher Stadtgrenze, und als Basler Gymnasiast eröffnete mir mein erstes Velo unbegrenzte Mobilität innerhalb der Regio Basiliensis nach Frankreich und Deutschland.
Viel später kam das Strielen auf dem Wasser dazu. Während vier Jahren habe ich im Journal 21 darüber berichtet. Offenbar ist meine eigene Freude an diesen Berichten auf manche Leserinnen und Leser übergesprungen. Was könnte einem Schreiberling Schöneres passieren? In einem Anflug von Übermut habe ich deshalb der Redaktion versprochen, auch nach dem Schiffsverkauf über mein Strielen zu berichten. Doch die bange Frage steht im Raum: Gelingt der Gang vom Wasser aufs Land? Von Darwin wissen wir, dass es Pflanzen und Tiere im Laufe der Evolution schafften. Und ich erinnerte mich, dass mein allererster Artikel für das Journal 21 vor vier Jahren nach einem Ausflug über Land entstanden ist („Einstein im Weinberg oder die Kunst des Infragestellens“).
Vom Chauffeur persönlich begrüsst
Nun denn, wo beginnt die Wasserkreatur ihren Landgang? – In der Nähe des Wassers natürlich! Also mache ich mich, die kostbare Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr nutzend, auf ans Wasser.
Das Abenteuer eines Strielis beginnt im ÖV. In Döttingen verlasse ich die S27. Eine Viertelstunde Wartezeit bis zur Abfahrt des 149er-Busses Richtung Laufenburg. Nirgends lernt man ein Schweizer Dorf schneller kennen als am Bahnhof. Man kommt zu Fuss oder im Auto, besorgt etwas beim Kiosk, im nahen Supermarkt oder holt sich Bargeld beim Bankomat. Plötzlich tönt die entnervte Stimme einer älteren Frau über den Platz: „Kann mir jemand beim Billetautomaten helfen?“ – Diejenigen, die es könnten, eilen davon, die andern wirken ratlos. Ich kann es und habe Zeit. Eine Tageskarte nach Waldshut wünscht sich die Hilfe Suchende, und gräbt in ihren vielen Einkaufstaschen nach dem Portemonnaie. Der überschwängliche Dank wärmt die Seele. Jeden Tag eine gute Tat, habe ich einst bei den Pfandfindern gelernt.
Im Bus nehmen kaum fünf Leute Platz. Jeder wird vom Chauffeur persönlich begrüsst. Ich sitze ich auf meinem Lieblingssitz, ganz vorne rechts. In Kleindöttingen steigt ein Mann ein, begrüsst den Chauffeur mit Vornamen. Man kennt sich von irgend einem Verein. Wie es gehe, fragt er den Fahrer. „Ja, ja“, meint dieser, am Stephanstag habe er frei gehabt, jetzt arbeite er bis übers Neujahr. – „Und du?“ – „Habe meinen Job verloren, nach 25 Jahren im gleichen Betrieb! Outsourcing heisst jetzt die Devise, da werden die über Fünfzigjährigen zuerst entsorgt.“ Der Chauffeur reagiert betreten, fragt nach der Zukunft. Dann langes gegenseitiges Schweigen. In Schwaderloch steigt der Mann aus. Er wolle mit ein paar Freunden nach Deutschland hinüber zum Essen, meint er zum Abschied und geht schweren Schrittes auf dem Strässchen Richtung Rhein.
„He, du warst zu früh mit deinem Geläute!“
Jetzt sitze ich allein im Bus. Beim Kreisel an der Rheintalstrasse in Etzgen werde ich vom Chauffeur mit einem „en schöne Tag“ verabschiedet. Eine Treppe führt zum Schulhaus hinauf, das oberhalb der Strasse auf einer Geländeterrasse steht. Hochnebel hängt über der Landschaft; irgendwie passt er zur Traurigkeit des Entlassenen, die mich bis hierher verfolgt. Als ich auf einem steilen Feldweg zum Wald hinauf gehe und sich der Blick über das Rheintal hinüber zum Hotzenwald weitet, fällt das beklemmende Gefühl von mir ab. Die Baumkronen wirken wie eine gotische Kathedrale; dort fühlte ich mich schon als Kind in einer besonderen Art glücklich und aufgehoben.
Der Waldweg folgt dem Hang talaufwärts, ist stellenweise halb zugewachsen und vernässt. In einem Seitentälchen geht es hinunter nach Schwaderloch. Vom Turm der katholischen Kirche setzt das Elfuhrgeläute ein. Kurz danach erhält es Konkurrenz vom gegenüberliegenden Ufer. Die Stundenschläge der Albbrucker Kirche scheinen der Schweizer Schwester tadelnd zurufen zu wollen: „He, du warst zu früh mit deinem Geläute!“ Oder ticken die Uhren in der EU einfach anders?
Hauptsache Bier
Ich gehe über die Ebene zum Rheinufer und dann flussaufwärts. Soviel Wasser hat der Rhein wohl seit vielen Monaten nicht mehr geführt. Die Strömung ist kräftig. Natürlich versucht der Kapitän a. D. abzuschätzen, ob seine Solveig gegen sie ankommen würde. In der Ferne Leibstadt! Noch sieht man weder Kühlturm noch Kraftwerkdom, dafür riesige Betonsilos, in deren Schatten sich das ausgediente Bahnhofsgebäude duckt. Der Personentransport auf der Strecke Koblenz-Laufenburg ist seit Jahren eingestellt, doch die SBB nutzen die Strecke noch immer für Güterzüge. Eben fährt ein Tankzug Richtung Basel; wahrscheinlich hat er Kerosin vom Rheinhafen nach Kloten gebracht.
Von weitem erblicke ich auf dem Nebengeleise der Station eine kunterbunte Reihe von Fahrzeugen, darunter einen grellroten Wagen, der sich beim Näherkommen als ausrangierter Gepäcktriebwagen der Chemins de fer du Jura entpuppt.
Etwas weiter hinten in der Zugskomposition leuchtet ein gelber Güterwagen mit der Aufschrift EICHHOF BIER, daneben das stilisierte Eichhörnchen, dass mich an meine Rekrutenschule in Buochs erinnert, als der Feldschlösschenbier gewohnte Basler das Gebräu aus Luzern zu trinken gelernt hatte – Hauptsache ein Bier.
Und hinter dem gelben Wagen – ich fühle mich noch ein paar weitere Jahre in meine Schulzeit zurückversetzt – steht doch tatsächlich einer jener unverkennbaren geschlossenen Güterwagen mit dem erhöhten Dach, in welchem der Zirkus Knie seine Elefanten von Stadt zu Stadt zu transportieren pflegte. Tempi passati – für Wagen und Inhalt. Auf was warten sie hier, diese Zeugnisse einer entschwindenden Zeit? Wie ein Bildband der Schweizer Eisenbahngeschichte des 20. Jahrhunderts kommen sie mir vor.
Ökologische Umgehungsgewässer
Hinter Leibstadt zwängen sich Weg und Bahn auf dem engen Uferstreifen an Fluss und steiler Böschung vorbei. Ein Wehr leitet das Wasser auf der deutschen Seite in den Kanal zum Kraftwerk Albbruck-Dogern. Vom Oberwasser führt ein künstlicher Bach in einem weiten Bogen in den alten Rhein unterhalb des Wehrs. Das Wasser überwindet den Höhenunterschied in vielen kleinen Stufen und öffnet dadurch den Fischen einen Weg flussaufwärts. Im Internet lese ich später, das ökologische Umgehungsgewässer sei vor ca. zehn Jahren im Rahmen der Konzessionserneuerung des Kraftwerkes gebaut worden und mit seinen 800 Metern das Längste dieser Art. Ob die Fische die Bemühungen von uns Stromkonsumenten wohl zu würdigen wissen?
Und dann, am oberen Rand der steilen Böschung, taucht unvermittelt der Kühlturm des KKW Leibstadt auf. Meine Erinnerung springt um mehr als 40 Jahre zurück – nicht etwa weil ich einem Kernkraftwerk verjüngende Wirkung zuschreibe, sondern weil damals der erst auf dem Papier existierende Kühlturm den kaum Dreissigjährigen sozusagen über Nacht ungewollt zu einem eidgenössischen Experten gemacht hat. Ich war in jenen Jahren an der EAWAG, dem Wasserforschungsinstitut des ETH-Bereiches, in Dübendorf tätig, als der Direktor, Professor Werner Stumm, seinen einzigen Physiker in die gleichsam über Nacht gegründete eidgenössische Kühlturmkommission delegierte.
Kühlturm-Monster
Die Kommission war nötig geworden, weil eine neue Studie gezeigt hatte, dass der natürliche Wärmeaustausch zwischen Fluss und Atmosphäre sehr langsam abläuft und sich daher die Zufuhr von Kühlenergie aus thermischen Kraftwerken entlang des Rheins von der Schweiz bis nach Holland im Fluss aufsummiert. Dadurch entstünden im Fluss ökologisch untragbare hohe Wassertemperaturen. Das Konzept für das KKW Leibstadt basierte damals noch – nach dem Vorbild der KKW Mühleberg und Beznau – auf reiner Flusswasserkühlung. Aufgrund des neuen Befundes musste für die beiden in der Planung bereits weit fortgeschrittenen KKW Gösgen und Leibstadt eiligst eine Lösung mit Kühlturmbetrieb gesucht werden. Die eidgenössische Kühlturmkommission hatte mittels eines für damalige Verhältnisse sehr aufwendigen mathematischen Modells den Nachweis zu erbringen, dass die Dampfwolke des Kühlturms keine untragbaren meteorologischen Veränderungen in der näheren Umgebung hervorrufen würde. Bedenken gab es vor allem wegen möglicher übermässiger Beschattung oder wegen vereisenden Strassen im Winter.
Kernkraftwerke waren ja bekanntlich höchstens bei denjenigen beliebt, welche weit weg wohnen. Und nun kam also neben der Bedrohung durch radioaktive Strahlung noch das Kühlturm-Monster dazu, ein 144 Meter hoher Turm, in dem zwei Drittel der im Reaktor erzeugten Wärme in Form von Wasserdampf (2600 Tonnen pro Stunde) an die Umgebung abgegeben würde. Ich fragte mich damals auch, wie das Bauwerk das Tal des Hochrheins verändern würde.
Eine Bürgerbewegung zur Erhaltung des Kühlturms?
Wie man sich doch an Dinge gewöhnt! Während ich zu Füssen „meines“ Kühlturms eine kurze Rast einlege und meinen Blick nach oben wandern lasse, kommt mir die Form des Turms geradezu elegant vor. Ich würde mich nicht wundern, wenn sich dereinst bei der Stilllegung des KKW eine Bürgerbewegung für den Erhalt ihres Wahrzeichens formieren würde, so wie man sich heute für den Erhalt der aus Backsteinen gemauerten Fabrikkamine einsetzt.
Schluss jetzt mit der Träumerei; noch liegen knappe zwei Stunden Weg vor mir. Auf dem Damm des Oberwasserbeckens des Wasserkraftwerkes wandere ich in einer fast 180 Grad beschreibenden Rechtskurve rheinaufwärts, links der 300 Meter breite Rhein, rechts das Fullerfeld. Hinter Bäumen verstecken sich verlassene Industriebauten, welche zur chemischen Fabrik Uetikon gehören. Das weitläufige Gelände sei zum Verkauf ausgeschrieben, lese ich später im Internet.
Biber am Werk
Wie ein Gegenentwurf zu all den künstlichen Eingriffen des Homo faber leuchten mir an den Stämmen einer kleinen Baumgruppe helle Markierungen entgegen. Sie entpuppen sich beim Näherkommen als frische Spuren natürlicher Gewalt: Biber müssen hier während der letzten Nächte auf ihre eigene Art tätig gewesen sein. Ein Bäumchen ist bereits gefällt, bei andern fehlt nicht mehr viel dazu. Ausgleichende Gerechtigkeit, denke ich, die Natur hat Zeit und ist geduldig.
Etwas später wandere ich an der Fährstation vorbei, mit der man im Sommer von Jüppen nach Deutschland übersetzen kann. Die Häuser der Altstadt von Waldshut kleben am Ufer wie Schwalbennester. Ich stelle mir vor, wie sich jetzt in den engen Gassen die Schweizer Einkaufstouristen tummeln. Ob wohl meine Freundin vom Döttinger Billettautomaten auch dabei ist?
Zurück in die Gegenwart
Oberhalb der Stelle, wo Rhein und Aare zusammenfliessen, überquere ich die Aare, gehe ein kurzes Stück durch den Auenwald und stehe dann unvermittelt vor dem Bahnhof Koblenz. Die Küche sei bereits geschlossen, sagt man mir in der Pizzeria gegenüber. Wenigstens serviert man mir noch einen Kaffee. Dann kommt schon mein Zug. Ich ertappe mich beim Gedanken, mein Herumstrielen noch etwas zu verlängern. Also fahre ich rheinaufwärts nach Eglisau und weiter über Bülach nach Winterthur. Dort befördert mich der Nachweihnachtsrummel endgültig in die Gegenwart zurück.