Auf den ersten Blick allerdings handelt es sich nur um den Abschied von der idyllischen Schweiz. Die Schweiz als Sehnsuchtsort der Touristen, die dort alpine Landschaft in ihrer „Unverfälschtheit“ erleben wollten, weicht der Zersiedelung, dem Verkehr und der Industrie. Hans Magnus Enzensberger hat einmal gesagt: „Der Tourist zerstört das, was er sucht, indem er es findet.“
Natürlich sind es nicht nur die Touristen, die hier ihr grausiges Werk verrichten. In der Schweiz dürften sie sogar nur der kleinere Teil des Problems sein. Schliesslich ist die Verwandlung der Landschaft in nüchterne Agglomerationen ein unvermeidbarer Prozess unserer Zeit. Was aber ist die „wahre“ Schweiz? Die „unverfälschte“ Natur oder das Bild, das unsere Gegenwart zeigt?
Da fängt das Philosophieren an. In seinem vorzüglichen einführenden Text zum begleitenden Katalog beschreibt Peter Pfrunder, wie sich der fotografische Blick im Zuge der Umgestaltungen der Schweiz verändert. Am Anfang, als die Touristen die Schweiz entdeckten, dominierte der „romantische“ Blick, also eine Sichtweise, die sich an der damals in Europa sehr beliebten romantischen Darstellung der „wilden“ und „unberührten“ Natur orientierte.
Aber Peter Pfrunder zeigt unterschiedliche Perspektiven schon am Beispiel der frühen Schweizer Fotografen. Während Albert Steiner noch „die Erhabenheit der Berge“ zeigen wollte, erfasste Theo Frey den Menschen als denjenigen, der sich in der Natur seinen Lebensunterhalt erarbeitet. Und Hans Baumgartner interessierte sich schon für die Veränderungen, die mit der Landwirtschaft und dem Handwerk einhergingen.
Warum tun wir uns so schwer damit zu akzeptieren, dass auch die Landschaft nicht so bleibt, wie sie einmal war? Peter Pfrunder findet eine Antwort bei dem Schweizer Literaturwissenschaftler Peter von Matt, der in seiner neuesten Essaysammlung, „Das Kalb vor der Gotthardpost. Zur Literatur und Politik der Schweiz“ (2012), feststellt, dass unsere „kollektive Phantasie“ allemal stärker ist als die Realität. Man könnte zuspitzen: Veränderungen empfinden wir bloss als Störung.
Was geschieht aber, wenn Fotografen die Störung als das Normale darstellen wollen? Dann entstehen Bilder, die wir spontan als banal empfinden. Da kommen Strassenkreuzungen in den Blick, Betonwüsten, Tankstellen, alles das also, was wir in unserem Alltag ständig sehen und was so überhaupt keine Sehnsüchte zu wecken imstande ist. Die fotografische Kunst besteht wiederum darin, das Banale so ins Bild zu setzen, dass es nicht mehr belanglos erscheint.
In den Ausstellungsräumen beeindrucken gerade die neueren Arbeiten durch ihre Präzision und zum Teil durch ihre Wucht. Die Abbildungen im Katalog sind erstaunlich gut. Und dank des Essays von Peter Pfrunder erschliessen sich die unterschiedlichen fotografischen Ansätze und Sichtweisen so klar wie in einer gut geschriebenen modernen Geschichte der Fotografie.
Welches ist nun aber die „wahre Wirklichkeit“ der Schweiz? Oder weniger philosophisch gefragt, müssen wir uns, um mit der Zeit zu gehen, von unseren liebgewordenen Bildern trennen und zum Beispiel das Innere eines Postamts (Jean-Luc Cramatte) bewundern?
Und was sollen wir davon halten, dass ein Fotograf wie Christian Schwager uns Bilder liefert, die auf unsere liebgewordenen Vorstellungen von Häusern, Chalets oder Scheunen zielen, tatsächlich aber bloss umgebaute Bunker zeigen? Diese Fotografien von Tarnungen und Täuschungen werfen die Frage auf, wodurch wir uns täuschen lassen.
Die Ausstellung zeigt, wie die Fotografie zu einem analytisch-philosophischen Medium werden kann. Sie nimmt unsere Vorstellungswelten auf, aber im Zuge der Zeit machen sich einzelne Fotografen daran, jene Dinge in höchster Vollendung ins Bild setzen, die zu dieser Vorstellungswelt vom „Schönen“ und vielleicht sogar „Erhabenen“ absolut nicht passen. Dahinter steckt die Aufforderung: Schaut auf diese Welt, wie sie ist, und gewinnt Distanz zu euren Phantasien.
"Adieu la Suisse", Fotostiftung Winterhur, bis 25. August 2013
Katalog: Peter Pfrunder, Adieu la Suisse, Fotostiftung Winterthur