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Einführung
Am 21. März 2020 kann Namibia – die letzte Kolonie Afrikas – dreissig Jahre Unabhängigkeit feiern. Lange galt das Land als positives Beispiel in Afrika, ein Land ohne Bürgerkrieg, ohne ethnische Konflikte, ohne islamistische Banden, ein Touristenparadies. Aber Namibia ist auch eines der Länder mit den grössten Einkommensunterschieden weltweit. Die ehemals von der Uno gefeierten Freiheitskämpfer der Swapo zeichnen sich durch ein korruptes Verhalten aus, das dem anderer afrikanischer Länder in nichts nachsteht.
Marianne Pletscher – ehemals Afrika-Korrespondentin von SRF – drehte kurz vor der Unabhängigkeit einen Dokumentarfilm (Namibia – 2 Frauen, ein Land, eine Geschichte). Dreissig Jahre später hat sie die namibische Protagonistin des Films besucht und ist mit ihr durchs Land gereist.
Visolela Rosa Namises ist eine der bekanntesten Aktvistinnen und Feministinnen des Landes. Die einen nennen sie Rosa Luxemburg des Südens, andere Sister Namibia, einige sehen sie gar als nächste Präsidentin. Die ehemalige Freiheitskämpferin und Parlamentarierin wird von vielen bewundert, andere fürchten sie – kühl lässt sie niemanden. In vier Kapiteln erzählt Marianne Pletscher, wie sie mit der 62-jährigen Powerfrau Namibia und seine Schönheiten und Probleme erlebt hat.
DER LANGE WEG ZUR GLEICHBERECHTIGUNG
Es sollte eine Überraschung sein: Noch am Tag meiner Ankunft wurde mein dreissigjähriger Film im Hinterhof des Women’s Solidarity Center in Windhoek aufgeführt.
Zum Glück hatte ich einige Tage vorher auf Facebook die Ankündigung gelesen und die Organisatorin darauf aufmerksam gemacht, dass die Kopie nur in Deutsch existiere. Kein Problem. Nichts funktioniert in Afrika besser als eine Aktion in letzter Minute. Über Nacht wurde der Film ins Englische übersetzt und untertitelt.
Hier der Trailer des Films über Visolela Rosa Namises (deutsche Version): «Zwei Frauen, ein Land, eine Geschichte».
(Der Link zum ganzen 44-minütigen Film steht am Schluss dieses ersten Kapitels der vierteiligen Reportage.)
Dutzende Frauen und einige Männer hatten sich im Women’s Solidarity Center eingefunden, um den Film anzuschauen, unter ihnen die Hauptdarstellerin selbst.
Der Film löste eine riesige Diskussion aus. Er porträtiert Rosa als Swapo-Aktivistin, die damals glücklich war, dass die mehr als ein Jahrhundert dauernde Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung endlich ein Ende hatte. Nie vergessen ist die deutsche Kolonialzeit mit ihren heute als Genozid bezeichneten Massakern an verschiedenen Stämmen. Später kamen die jahrzehntelange südafrikanische Besetzung und der brutale Befreiungskrieg dazu.
Am meisten beindruckten mich nach der Präsentation meines Films 30 Jahre später zwei Meinungen: Ein Zuschauer meinte, die Leute in den Elendsvierteln seien heute genauso arm und unterdrückt wie damals, und eine junge Frau fügte bei: Der grösste Unterschied zu 1990 sei, dass die Unterdrücker heute nicht nur weiss, sondern oft auch schwarz seien.
Eine andere Zuschauerin meinte, immerhin werde die immer noch untergeordnete Stellung der Frauen heute thematisiert. Das sei auch Rosas Verdienst, die bereits kurz vor der Unabhängigkeit die erste Frauenzeitschrift des Landes, «Sister», gegründet hat, die heute noch existiert. Tochter Che Ulenga dankt ihrer Mutter offiziell dafür, dass sie immer noch die Massen inspiriert. Den Namen Che trägt sie, weil ihre Eltern Fans von Che Guevara waren. Damals, als die Swapo noch eine linke Befreiungsbewegung war. Rosa selbst freut sich, dass fast ihre ganze Familie gekommen ist und ich fühle mich sofort aufgenommen und zuhause.
Swapo – die brutale Befreiungsbewegung
Was ist aus der ehemaligen Freiheitskämpferin geworden? Wir nehmen uns am Anfang meines Aufenthalts Zeit für ein langes Gespräch. Rosa redet mit grosser Überzeugungskraft und Leidenschaft. Sie muss heute noch weinen, als sie sich an den Tag Anfang der neunziger Jahre erinnert, als sie erfuhr, dass die Swapo in ihren Lagern im Exil andersdenkende Landsleute brutal folterte, sie in Erdlöchern vergrub und tötete – und das zu Dutzenden.
Die Partei, für die sie im Gefängnis gesessen hatte, für die sie von der südafrikanischen Armee gefoltert wurde und an die sie bedingungslos geglaubt hatte! Rosa: «Ich legte mich unter einen Baum und wollte nie mehr aufstehen. Zwei Monate verharrte ich in einer tiefen Depression, dann fing ich mich auf und dachte, jetzt muss ich dem Land erst recht dienen. Aber mit der Swapo will ich nie mehr etwas zu tun haben.»
«Keine Versöhnungsarbeit»
Damals gründete sie mit andern zusammen eine Organisation, die sich «Die Mauer des Schweigens durchbrechen» nennt. Heute aber ist sie desillusioniert: «Es ist der Swapo gelungen, dass fast niemand mehr davon spricht.» Die Führung der Partei ihrerseits meinte dazu, das komme leider in jedem Befreiungskrieg vor, denn es gäbe immer auch Spione und Verräter, man wolle jetzt vorwärtsschauen, nicht zurück.
Rosa: «Es ist eine der grossen Tragödien unseres Landes, dass wir noch keine richtige Versöhnungsarbeit geleistet haben. Weder mit den Befeiungskämpfern noch mit den Südafrikanern und auch nicht mit den ehemaligen deutschen Kolonisatoren.»
Rosa, die Politikerin
Rosa studierte nach der Unabhängigkeit in verschiedenen Ländern des Westens, konzentrierte sich auf Frauen- und Genderthemen und entschloss sich nach ihrer Rückkehr vorerst doch für eine Politkarriere.
1999 gründete sie mit Gleichgesinnten eine neue Partei (Congress of Democrats), wurde deren Generalsekretärin und sass insgesamt neun Jahre im Parlament. Stolz ist sie vor allem darauf, dass sie in dieser Zeit viele wichtige Themen im Genderbereich zur Sprache brachte, und stolz ist sie auch darauf, dass sie zur «am schlechtesten gekleideten Parlamentarierin» gewählt wurde.
«Ich trug Kleider wie dieses», erzählt sie. «Das ist das typische Kleid, das sich die Dienstmädchen der deutschen Siedlerinnen aus den Resten der Kleider nähten, die sie für ihre Herrinnen machen mussten. Für mich ist das immer noch ein Statement, dass wir die Kolonialzeit nie vergessen dürfen.»
«Aber die andern Parlamentarierinnen trugen schicke westliche Kleidung und das galt als progressiv.» Als ihr die Machtspiele innerhalb auch dieser Partei zu stark wurden, hörte sie auf mit institutioneller Politik und konzentrierte sich auf Menschenrechtsarbeit: «Da räche ich mich immer noch an der Swapo, wo ich kann.»
Besonders stolz ist sie auf gewonnene Klagen, wie damals, als HIV-positive Frauen zwangssterilisiert wurden und sie mit ihrer Gruppe Entschädigungszahlungen von der Swapo-Regierung erzwang. Sie ist heute noch in vielen Organisationen aktiv. Hauptberuflich führt sie ein Kinderheim für Kinder aus schwierigen Verhältnissen. Wir werden die Kinder später kennenlernen, da zurzeit Ferien sind.
Auftritte in ärmlichen Dörfern
Vorerst begleite ich Rosa auf ihren Reisen. In ihrem zweiten Hauptberuf als Direktorin der namibischen Frauenorganisation Women’s Solidarity fährt sie immer wieder Hunderte von Kilometern durch trockenes Buschland und spricht in ärmlichen Dörfern, die oft nur aus ein paar hundert bis tausend Wellblechhütten bestehen, mit Frauen über ihre Rechte. Es sind dieselben Themen wie bei uns, nur etwas anders gewichtet: Verhütung und Abtreibung stehen im Vordergrund, denn Abtreibung ist im Land immer noch illegal.
Zwar äusserte sich Präsident Hage Geingob kürzlich in einer Zeitung positiv gegenüber einer Verfassungsänderung, aber Rosa meinte im selben Zeitungsartikel: «Das muss sofort passieren, es dürfen nicht noch mehr junge Frauen sterben wegen illegaler Abtreibungen. Die Gesellschaft will ihren Unterleib kontrollieren, das muss geändert werden.»
Mehr als die Hälfte der Frauen lebt ohne Mann
Längst nicht alle der Workshop-Teilnehmerinnen in einem Dorf nahe der Stadt Keetmanshoop, die in ihren schönsten Sonntagskleidern erschienen sind, wissen, dass die Verfassung des jungen Landes ihnen gleiche Rechte wie den Männern zugesteht. Über Lohngleichheit wird an diesem Anlass weniger gesprochen. Die meisten der Frauen haben prekäre Jobs auf Farmen, wenn sie überhaupt Arbeit haben, und mehr als die Hälfte lebt ohne Mann.
Wenn die Frauen mit Männern leben, sind sie oft von häuslicher Gewalt betroffen. Diese wird in Namibia – wie auch Vergewaltigung – statistisch erst teilweise erfasst, soll aber laut Schätzungen der Regierung noch viel häufiger vorkommen als bei uns. Denn aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit (offiziell rund 30%) und wegen der damit verbundenen Hoffnungslosigkeit ist der Alkohol- und Drogenkonsum der Männer sehr hoch.
Rosa fordert die Frauen konkret dazu auf, Anzeige zu erstatten und sich gegenseitig zu unterstützen. Sie geht auch auf die heikelsten Fragen ein oder provoziert diese sogar. Immer wieder sagt sie den Frauen auch, es sei wichtig, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen.
Sind die Teilnehmerinnen der Workshops jünger, stehen Teenager-Schwangerschaften im Vordergrund der Gespräche. Verstehen die Teilnehmerinnen Englisch neben ihrer Muttersprache – meist Damara oder Nama – und gibt es im Versammlungslokal einen Stromanschluss, verwendet Rosa auch Power Point.
Das ist wohl etwas vom typischsten für ihre Arbeit – sie kennt die Kultur der Dörfer, die sie besucht, und sie hat so lange im Westen gearbeitet, dass sie auch über sämtliche westlichen Informationen und Errungenschaften verfügt. Sie ist im besten Sinne Kulturbotschafterin von beiden Seiten.
Am meisten beeindruckt hat mich bei diesen Besuchen, dass sie immer wieder auch auf die Bedürfnisse sexueller Minderheiten eingeht, von Diversität und Inklusion spricht. Sie benützt sogar die Abkürzung LGBT für die verschiedenen sexuellen Minderheiten. Ich frage sie, ob das für die Frauen in diesen abgelegenen Dörfern wirklich ein Thema sei. Rosa wird heftig: «Sie müssen darüber nachdenken, denn in diesen Dörfern werden Schwule und Transen immer noch gejagt und sogar umgebracht. Diese Menschen sind unsere Kinder und unsere Enkel. Auch ihre Rechte müssen respektiert werden. Menschenrechte sind unantastbar.»
Dienstmädchen bei einem Weissen
Später erzählt sie mir auf einer unserer mehrstündigen Autofahrten von ihrer Jugend. Sie liebte ihren Vater heiss.
«Er war ein früher Feminist. Er kam aus Angola. Sein Vater war ein Weisser aus Portugal. Ich lebte die ersten Jahre meiner Kindheit mit ihm allein, bis ich eine Stiefmutter bekam. Meine Mutter, eine Damara, lernte ich erst später kennen.
Er erzog mich zur Selbständigkeit und förderte mein rebellisches Wesen. Für ihn war immer klar, was damals noch unglaublich schien: dass Schwarze und Weisse gleichberechtigt sein müssten. Als ich mit 15 aus der Schule flog – es war die Zeit der Schulstreiks gegen das südafrikanische Regime – brachte er mich als Dienstmädchen bei einem Weissen unter. Als ich diesen bat, die Gläser nicht als Aschenbecher zu verwenden, flog ich auch dort schon nach einer Woche wieder raus.»
Verliebt in einen weissen Arzt
«Mein Vater verstand, dass ich mich nie so unterordnen können würde und organisierte für mich eine Ausbildung als Krankenschwester. Parallel zur Ausbildung arbeitete ich für die Swapo-Jugendliga, organisierte Demos und verteilte Flugblätter. Ich verliebte mich in einen weissen Arzt, und weder er noch ich konnten akzeptieren, dass schwarz-weisse Beziehungen verboten waren. Ich lebte illegal mit ihm zusammen, aber als wir auf der Strasse Hand in Hand erwischt wurden, verlor ich meine Arbeit und landete wieder im Gefängnis.
Später bekam ich einen Job bei der katholischen Kirche als Sozialarbeiterin und lernte Ben kennen.»
Power Couple der Swapo
Mit Ben Ulenga, der jahrelang als Kämpfer des militärischen Flügels der Swapo in Südafrika auf der Gefängnisinsel Robben Island inhaftiert gewesen war, hat sie zwei Töchter. Die beiden galten als Power Couple der Swapo. Rosa verliess ihn jedoch hochschwanger, als sie ihn mit einer Genossin im Bett erwischte.
«Damals beschloss ich, die gleichen Rechte, die ich studiert hatte, auch in meinem Privatleben konsequent zu leben.» Sie zog ihren Sohn und ihre zwei Töchter allein gross.
Förderung der LGBT-Menschen
Zurück in der Hauptstadt Windhoek sehe ich, wie konsequent Rosa ihre Förderung der LGBT-Gemeinschaft in die Praxis umsetzt: Als Vertreterin der Women’s Solidarity offeriert sie an einem Treffen der verschiedensten Lesben-Schwulen und Transgenderorganisationen, für diese die Finanzierung ihrer Projekte zu verwalten. Mir scheint fast, dank Rosa wird dieses gesellschaftlich immer noch umstrittene Thema in Namibia besser wahrgenommen als in der Schweiz.
Sogar eine Miss Trans gibt es im Land. Diese forderte die EinwohnerInnen Namibias unlängst in einer Zeitung dazu auf, Parteien zu wählen, die ihre Rechte respektierten.
Rosa for President?
An dieser Sitzung wird schliesslich einmal mehr diskutiert, was eine Kirchenvertreterin kurz vorher unter Applaus vorgeschlagen hatte: Eigentlich sollte Rosa Präsidentin werden. Noch aber kandidiert ein anderer für die nächsten Wahlen.
Kapitel 1: 30 Jahre nach der Unabhängigkeit. Der lange Weg zur Gleichberechtigung
Kapitel 2: (folgt am 7. März) «Sister Namibia» – Gegen Wahlbetrug und Korruption
Kapitel 3: (folgt am 14. März) «Willst du eigentlich die ganze Last Namibias auf deinen Schultern tragen?»
Kapitel 4: (folgt am 21. März) «Good Morning Namibia» – Tun was getan werden muss
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Link zum SRF-Dokumentarfilm von Marianne Pletscher
ZWEI FRAUEN, EIN LAND, EINE GESCHICHTE (1989)
(alle Fotos © Marianne Pletscher)