Kapitel 3
Vor dreissig Jahren wurde Namibia – die letzte Kolonie Afrikas – unabhängig. Die SRF-Filmerin Marianne Pletscher drehte damals einen 44-minütigen Dokumentarfilm über das Land. Dreissig Jahre später besuchte sie erneut die Hauptdarstellerin ihres damaligen Films und reiste mit ihr kreuz und quer durchs Land. Entstanden ist ein Bericht über einen Staat zwischen Verzweiflung und Hoffnung.
KEIN BEDINGUNGSLOSES GRUNDEINKOMMEN MEHR
Wir sind unterwegs ins Dorf Otjivero, mit rund 2000 Einwohnern. Das Dorf, 100 Kilometer östlich von Windhoek gelegen, wurde vor ein paar Jahren weltweit berühmt, denn dort wurde 2008 das bedingungslose Grundeinkommen eingeführt, als Pilotprojekt für das ganze Land.
Der heutige Präsident und damalige Wirtschaftsminister Hage Geingob sprach sich damals für das revolutionäre Projekt aus. Otjivero wurde ausgewählt, weil es den Menschen dort sehr schlecht ging und weil es so abgelegen ist, dass nur wenige Faktoren ein späteres Untersuchungsergebnis verfälschen konnten. Alle Einwohner des Dorfes unter 60 bekamen 100 namibische Dollar (ca. 7 Franken) im Monat. Stiftungen und die evangelische Kirche finanzierten das Projekt.
Weil das Geld irgendwann auslief, wurden die Auszahlungen immer weniger und endeten 2015 ganz. Trotzdem, in seiner Blütezeit funktionierte das Projekt: Obwohl der Betrag gering war, gab es weniger unterernährte Kinder, mehr Kinder gingen regelmässig zur Schule, mehr Menschen nahmen die Hilfe von Gesundheitsstationen an (beides war nicht kostenlos) und es wurden kleine Geschäfte eröffnet.
Harambe statt bedingungsloses Grundeinkommen
Das Experiment kam zu einem Ende und von einer landesweiten Einführung des Grundeinkommens wurde nicht mehr gesprochen. Wir besuchen Emilia Garises, die damals eine kleine Schneiderei eröffnet hatte und die heute noch schwärmt von der Zeit, als das ärmliche Dörfchen florierte. Die Regierung entschied sich gegen das Projekt und für andere Formen der Armutsbekämpfung: Eine Landreform, bessere Infrastruktur und ein Armutsbekämpfungsprogramm namens Harambe. Erst ein kleiner Teil davon ist verwirklicht, Emilia spürt wenig davon.
Mit ihrer Altersrente von 1700 namibischen Dollar (ca. 120 Franken) bringt sie noch 5 elternlose Kinder durch. Aber da es keine Unterstützung mehr gibt im Dorf, sind ihr die Kunden abhanden gekommen. Das Geld ist knapp, Wasser und Toiletten müssen bezahlt werden. Emilia bleibt als Erinnerung an das Grundeinkommen-Projekt nur eine Hochglanzbroschüre, die ihre und andere Erfolgsgeschichten erzählt, die jetzt ins Gegenteil gekippt sind.
Die Meinungen der Ökonomen gehen auseinander, ob das Grundeinkommen für das ganze Land finanziell tragbar gewesen wäre. Rosa, Emilia und die Gruppe, die das Projekt durchgeführt hat, sind sich einig: «All das Geld, das in die Korruption geflossen ist, hätte gereicht, um das Grundeinkommen landesweit einzuführen. Auch die Unzahl der Minister und Vizeminister und die Armee kosten viel zu viel Geld.» Emilia, die früher als Wahlkämpferin für die Swapo aktiv war, will von der Regierungspartei nichts mehr wissen. «Das darf aber im Dorf keiner wissen, sonst kriege ich Probleme.»
Altersrente, Kindergeld, Schulspeisung
Die Diskussion um das Grundeinkommen hat jedoch zur Einführung oder Verbesserung anderer Sozialleistungen geführt. Jede und jeder über 60 erhält eine Altersrente, und über 300’000 Kinder bekommen Kindergelder und Schulspeisung.
In dieser Beziehung steht Namibia nicht schlecht da, verglichen mit andern afrikanischen Staaten. «Im Vergleich zu den Versprechungen, die vor dreissig Jahren gemacht wurden, sind wir allerdings leider noch nicht sehr weit», sagt eine Funktionärin des Gesundheits- und Sozialministeriums.
4’000 vorwiegend weisse Farmer
Wir fahren weiter durchs Buschland, vorbei an riesigen Farmen. Die zur Zeit der Unabhängigkeit von der Regierung angekündigte Landreform ist erst zu einem ganz kleinen Teil verwirklicht.
Die Landwirtschaft ist neben der Fischerei und den Minen ein wichtiger Wirtschaftssektor. Zwar steuert sie nur einen geringen Teil zum Bruttosozialprodukt bei, jedoch stellt der Agrarbereich fast die Hälfte aller Arbeitsplätze. Die meisten Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sind allerdings schlecht bezahlt. Es gibt rund 4’000 Farmen. Sie gehören in der Mehrheit immer noch weissen Familien, die meisten betreiben extensive Rinder- und Schafzucht. Mehr gibt der Boden nicht her, ausser im Norden, wo noch Subsistenzwirtschaft herrscht.
Schleppende Landreform
Das Land ist trocken, beständig herrscht Wassermangel und seit drei Jahren wieder einmal Dürre. Wieweit diese Dürre auf den Klimawandel zurückzuführen ist, weiss niemand, denn schon hundertjährige Berichte erzählen von exzessivem Wassermangel. Was jedoch neu ist: Viele der Familien im Norden, die Subsistenzwirtschaft betreiben, sind wegen der Dürre von Hunger bedroht, wie die Regierung kürzlich mitteilte.
«Viel zu wenig ist passiert bei der versprochenen Landumverteilung», sagt Rosa. Ich erzähle ihr, wie ich die Landreform in Simbabwe erlebt habe, als die weissen Farmer enteignet wurden und das Land Helden des Freiheitskampfes übergeben wurde. Kurz zusammengefasst führte das zu einer der grössten Hungersnöte in der Geschichte des Landes.
Brachliegendes Land
«Unsere Regierung hat sich gegen Enteignungen entschieden», sagt Rosa. Aber viele Farmen wurden verkauft, und anstelle von landlosen Bauernfamilien besassen plötzlich ehemalige oder heutige Regierungsmitglieder das Land und bebauten es gar nicht, oder aber sie übernutzten es, was auch nicht geht.»
Wir besuchen eine mit Rosa befreundete weisse Farmerin. Sie bestätigt, dass Farmen in ihrer Nähe brachliegen, Oliven- oder Fruchtbäume eingingen, die viel Pflege benötigen. Was die schnellere Überführung des Landes an schwarze Farmerfamilien betrifft, sind sich die beiden Freundinnen nicht einig. Für die liberale Weisse, die ihren Namen hier lieber nicht lesen möchte, steht die Nahrungssicherheit im Vordergrund: «Diese gewährleisten nun einmal nur erfahrene Farmer mit genug Kapital, um Durststrecken wie jetzt überstehen zu können.»
Ohne wirtschaftlich integriert zu sein, geht gar nichts
Eine weisse Farmerstochter, die für die Agribank als Ausbildnerin für neuangesiedelte Bauern tätig war und sogar als Farmerin des Jahres gewählt wurde, sagt: «Die südafrikanische Regierung hat uns mit den ehemaligen Homelands für Schwarze und den kommunalen Gebieten ein riesiges Problem zurückgelassen. Die Menschen hier wissen so viel über Viehhaltung und Pflanzen, viel mehr als ich. Aber ohne die Vermarktungsstrukturen zu kennen, ohne wirtschaftlich integriert zu sein, geht gar nichts. Es wird noch mindestens eine Generation dauern, bis die Leute so weit sind.»
Ein anderer Farmer erzählt mir, dass er einen Drittel seiner Tiere wegen der seit drei Jahren anhaltenden Dürre schlachten musste. Zum Glück hatte er Abnehmer in Südafrika, mit dem Namibia wirtschaftlich immer noch eng verflochten ist.
Zu wenig genutztes Wasser
Für Rosa dauert das alles viel zu lange. Sie war deshalb aktives Mitglied der Landlosen-Bewegung, ist aber ausgetreten, als diese sich vor den letzten Wahlen zu einer Partei formierte. Immerhin gewann die neue Partei bei den letzten Wahlen auf Anhieb vier Sitze. «Als Bewegung wären wir stärker gewesen», meint Rosa. «Jetzt wird eintreten, was immer eintritt – die Machtspiele fressen alles auf.»
«Was würdest du als Landwirtschaftsministerin tun», frage ich. «Erstmals das ganze Land mit Biogärten überziehen. Zugegeben, es gibt nicht überall Wasser, aber da wo es Wasser gibt, wird es viel zu wenig genutzt. Ich bringe dich jetzt zu einem positiven Beispiel.»
Ein riesiger Gemüsegarten
Die Farm, die Rosa als «meine Farm» bezeichnet, hat eine sehr spezielle Geschichte. Rosa erzählt: «Kurz nach der Unabhängigkeit bezeichnete der weisse Landbesitzer seine Angestellten als Paviane – eine Affenart, die man immer wieder am Strassenrand sieht und die als Landplage gelten. Ein Riesenaufruhr entstand, Zeitungen berichteten, die Gewerkschaften schalteten sich ein, der Landbesitzer musste eine seiner Farmen abgeben, mit Wasserrechten für zehn Jahre.
Damals wohnten dort sechsundzwanzig Familien. Auch eine meiner Schwestern, Justine, mit ihrer Tochter war dabei. Es stimmt, die Leute wussten nicht, was anfangen mit dem Land, weil sie keine Ausbildung dazu hatten. Es drohte eine Katastrophe. Ich übernahm und organisierte, dass dort ein riesiger Gemüsegarten angelegt wurde. Mit einem Tank, der von der Pipeline des ehemaligen Farmers bedient wird, und einem Tropfenbewässerungsystem haben wir immer genug Wasser. Jetzt bewirtschaften noch neun Familien das Land – alles Frauen. Ich bin eine davon. Neben Gemüse bauen wir auch Heilkräuter an und nutzen das alte Wissen, das meinen Vorfahren half, zu überleben.»
«Ecovillage Network of Africa»
Immer wieder betont Rosa, wie wichtig das alte Wissen sei und wie wenig es heute noch genutzt wird. Das sagt sie nicht nur als Privatperson, sondern als aktives Mitglied des «Ecovillage Networks of Africa». «Und», fügt sie bei, «Ich darf meine Kinderheimkinder in den Ferien dort unterbringen.»
Ganz können Rosas Schwester Justine und die andern Frauen noch nicht von ihren Produkten leben, das Marketing und der Transport in die nächste Stadt Okahandja auf schlechten Schotterstrassen sind noch nicht optimal gelöst. Was aber sicher ist: Den Kindern aus ihrem Kinderheim, die alle ihre Ferien dort verbringen, da die meisten keine Eltern mehr haben oder aus dysfunktionalen Familien stammen, fühlen sich wohl dort. Sie begrüssen Rosa begeistert, als wir ankommen, und zeigen mir ihre Unterkünfte und die Freiluftküche.
«Die Kinder sind zwischen 4 und 18 Jahre alt», erzählt Rosa. «Die meisten bleiben bei mir im Heim, bis sie volljährig sind. Sie haben alle eine sehr leidvolle Geschichte, physischen oder psychischen Missbrauch erlebt, und sie brauchen viel Stabilität und Liebe. Oft muss ich auch eine spezielle Schule für sie organisieren, da sie wegen ihrer Erfahrungen sehr zurückgeblieben sind. Hier auf der Farm lernen sie Selbständigkeit. Die Grösseren kochen und schauen nach den Kleinen. Wenn ich nicht da bin, kümmert sich eine Hausmutter um sie. Die ist aber leider gerade weg, ohne mich zu fragen. In so einem Fall übernimmt meine Schwester Justine. Meist bringt das staatliche Sozialamt die Kinder zu mir. Ich erhalte pro Kind 10 namibische Dollar (rund 70 Rappen) pro Monat. Zudem werde ich von Sponsoren unterstützt.»
Die Mutter von allen
Wir fahren weiter, zurück in die Hauptstadt Windhoek. Unterwegs besuchen wir immer wieder Ehemalige von Rosas Kinderheim, die irgendwo im Land eine Stelle gefunden haben. Immer schiebt Rosa, die sich weiterhin als Mutter von allen betrachtet, den Jugendlichen eine kleines Geldgeschenk zu.
Wenn wir unterwegs nicht über ihre Arbeit oder ihr Leben reden, hängt Rosa am Telefon, meist am Arbeiten, und zwar auch während dem Autofahren.
Polizei erschiesst 18-Jährigen
Wieder mal ein Anruf, diesmal ein dringender. Ein Vater aus dem Township Katatura erzählt, sein 18-jähriger Sohn sei soeben von der Polizei erschossen worden. Er fragt, was er jetzt tun solle. Rosa handelt schnell. Noch während sie am Steuer sitzt, organisiert sie den Ombudsmann, der sich um die Familie kümmern soll und informiert eine lokale Fernsehstation. Am nächsten Tag ist die Geschichte schon auf dem Sender. Sie tat das Mindeste, was sie noch tun konnte.
Rosa: «Wenigstens kann die Tat nicht unter den Teppich gekehrt werden.» Aufgeklärt ist sie bis heute nicht. Die Familie hat sich jedoch zur Anzeige entschieden und einen Anwalt genommen. Offenbar passierte es während einer Streife einer Anti-Verbrechens-Einheit. Das 15-jährige Mädchen, das die ganze Aktion gefilmt hat, soll auch verhaftet worden sein. Ein Politbeobachter der Universität Windhoek sagt, die Polizei zeige tatsächlich repressive Tendenzen, aber meistens seien die Fehler eine Folge der schlechten Ausbildung. Rosa meint dazu, meist würden solche Vorkommnisse doch nie aufgeklärt. Zeigen, dass man es nicht kritiklos hinnehme, müsse man trotzdem.
«Meine Mutter bräuchte ein Superteam»
«Rosa, willst du eigentlich die ganze Last Namibias allein auf deinen Schultern tragen? Du bist in so vielen Bereichen aktiv!» Die Frage drängt sich auf, nachdem ich sie bei so vielen verschiedenen Aktivitäten erlebt habe. Rosa schaut mich verwundert an: «Ich mache einfach, was ich kann. Aber vielleicht sollte ich den Vorschlag, bei den nächsten Wahlen Präsidentin zu werden, doch in Erwägung ziehen. Ich hatte ihn erst als Scherz aufgefasst. Aber immer mehr Menschen in meinem Umfeld nehmen ihn ernst.»
Rosas Tochter Nesindano wird später zu mir sagen: «Meine Mutter hätte die Fähigkeiten zur nationalen Führerin. Aber sie bräuchte ein Superteam, das ihr grosses Wissen und ihre tausend Interessen in geordnete Bahnen lenken kann.»
Ihr Wissen, das lerne ich bei unsern nächsten Besuchen, ist nicht nur ein intellektuelles, sondern sie kennt sich auch im uralten Wissen der Stämme Namibias aus – sie verkörpert auch die Seele des Landes. Viele sehen sie deshalb als eine Art Schamanin. Das spüre ich besonders stark bei unsern «touristischen» Ausflügen.
Kapitel 1: (bereits publiziert) 30 Jahre nach der Unabhängigkeit. Der lange Weg zur Gleichberechtigung
Kapitel 2: (bereits publiziert) «Sister Namibia» - Gegen Wahlbetrug und Korruption
Kapitel 3: «Willst du eigentlich die ganze Last Namibias auf deinen Schultern tragen?»
Kapitel 4: (folgt am 21. März) Tourismus, Völkerord, fehlende Versöhnung, Rückkehr zum Gedankengut der Ahnen
(alle Fotos © Marianne Pletscher)