Wer alte Schweizer Schulhäuser betrachtet, ist immer wieder verwundert über die architektonische Pracht dieser Bauten. Viele weisen Residenzcharakter auf. Sie waren der Stolz der Gemeinde und galten als Tempel des Aufbruchs und Fortschritts. Selbst im entlegenen Dorf.
Kinder: ökonomische Ressourcen
Der Weg aus der muffig-maroden Schulstube der frühen Neuzeit ins geräumig-grosse Schulhaus des späten 19. Jahrhunderts war zäh und lang. Man brauchte die Kinder als Hilfskräfte auf Feld und Hof. Der Stall war notgedrungen stärker als die Schiefertafel, das Brot wichtiger als ein Buch. Einen regelmässigen Schulbesuch gab es nicht.
Die Kinder waren Arbeitspotential und nicht Persönlichkeiten mit individueller Zukunft. „Unter zehn Kindern konnte kaum eins das Abc“, schildert Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) die Situation in seinem Stanser Brief von 1799. Ulrich Bräker, der „arme Mann vom Tockenburg" (1735-1798), wusste es. In seinem Tagebuch heisst es: „Lesen – wahrlich ein seltenes Glück.“
Das wollten die Promotoren einer besseren Zeit ändern. Doch das Unterfangen war dornig und der Pfad steinig.
Die Utopie als Handlungsmassstab
Das 18. Jahrhundert regte auf breiter Grundlage eine Reform des Schul- und Erziehungswesens an. Darum wird es als „Jahrhundert der Aufklärung und Vernunft“ bezeichnet und darüber hinaus mit dem Attribut des „pädagogischen“ versehen. Die Aufklärung orientierte sich nicht an der Realität, sondern an der Utopie einer neuen Zeit und besseren Zukunft. Die Idealität war ihr Massstab und Immanuel Kant ihr Exponent – nach ihm richteten sich ganze Generationen.
In seiner berühmten Schrift, „Was ist Aufklärung?“, aus dem Jahr 1784 skizzierte der Königsberger Philosoph das ideale Bild eines mündigen Bürgers. Er sollte imstande sein, sich seines eigenen Verstandes ohne Hilfe anderer zu bedienen. Dazu gehört Mut. Und diesen Mut forderte Kant ein: „Sapere aude!“ – so sein Leitgedanke.
Goethe und Schiller studierten Kant; Beethoven bewunderte ihn, Wilhelm von Humboldt folgte ihm. Er beeinflusste auch viele Schweizer. Der erste helvetische Bildungsminister, Philipp Albert Stapfer, war an Kant geschult – ebenso Johann Heinrich Pestalozzi.
Bildung als Treiber gesellschaftlicher Entwicklung
Es war Pestalozzi, dieser grosse Erzieher und Sozialreformer, der Ernst machte mit einer der gewaltigsten Ideen der Aufklärung: dass die Welt verbesserbar sei, und zwar über Bildung. In kühner Weise hat er diesen neuen Glauben angewendet auf die Kinder, hat in ihrer Verbesserung den ersten Schritt zur Verbesserung des Ganzen erkannt und seine Lebensarbeit darauf ausgerichtet.
Er hat begriffen, dass Erziehung langsam geht, umständlich, dass sie die Menschen nicht dressieren darf wie Affen oder Soldaten, sondern alles zusammen entwickeln muss, die Gefühle im Herzraum, den Scharfsinn im Kopf und die Geschicklichkeit der beweglichen Hand. Er hat es begriffen, hat es gelehrt, und meistens ist er in der Praxis gescheitert, weil sein funkelnder Kopf den tastenden Händen voraus- und davonlief. Aber versucht hat er es mit einer verzehrenden Glut, schrieb der Literat Peter von Matt. (1) Das wirkte ansteckend. Gelebte Aufklärung.
Ein demokratischer Staat braucht gebildete Bürger
Die Geburtsstunde der Schweizer Volksschule liegt in der Helvetik (1798-1803). Mit ihrer bahnbrechenden Schulpolitik legte sie die pädagogische „Frühlingssaat“. Doch es dauerte lange. Die Restauration ab 1815 hemmte den Aufbruch und band vieles wieder zurück. Die Zeit war noch nicht reif.
Erst der Bundesstaat von 1848 nahm die Ideen der Helvetik wieder auf. Die Schweiz realisierte ideell und dann auch materiell-organisatorisch, was die Helvetische Republik erreichen wollte: nämlich eine umfassende und für alle obligatorische Bildung und Erziehung als Fundament des demokratischen Staates.
Zur Bildung steigt man empor
Die Expansion der Bildung nach 1850 rief nach Raum. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts löste das Schulhaus die nicht so gute alte Schulstube ab. Die oft stickige Enge des Zimmers wich der Weite eines Gebäudes. Jede Gemeinde baute ihr Schulhaus, meist mit klar gegliederter Fassade und einem grossen Treppenaufgang: Die Kinder stiegen zur Bildung empor – und durchschritten für den Unterricht die grosse Eingangstüre. Symbol und Auftrag zugleich.
Neben der Kirche erhielt oft auch das Schulhaus eine Uhr. Sie signalisierte die neue Epoche: Das Schulleben geht im Takt – die Zeit der Uhr als standardisierte Normalität. Zeiten der Schule sind Zeiten des Lernens.
Aufbruch in die Zukunft
Das Schulhaus wurde überall zum stolzen Fortschrittszeichen. 1879 zum Beispiel weihte die Schulgemeinde Stans das Knabenschulhaus ein – mit Pomp und Pathos, mit Weihwasser und Weihrauch, mit Lob und Lied. Der festlich-feierliche Akt vereinte das kommunale und kirchliche Element. Der Bau war ein Werk, das „der Gemeinde zur Ehre, der lieben Jugend zum Wohl und Heil gereicht […] für Zeit und Ewigkeit“, meinte der Stanser Dorfpfarrer und Schulpräsident in seiner Ansprache. Gross war die Zuversicht und hoch die Erwartung, die Kirche und Behörde auf die Schule projizierten: „Gebt mir eine wahrhaft gute Schule, und ich verspreche Euch eine glückliche Gemeinde!“
Ähnlich klang es bei der Einweihung vieler Gemeindeschulhäuser. Mit gestärktem Selbstwert blickte man auf die neuen Bildungstempel.
Bildung ist ein Bergaufprozess
Das „Volk im Zwilch“ aus seiner Not herausführen und emporführen – und es dem „Volk in Seide“ über Bildung gleichstellen, das war Pestalozzis Idee, davon träumten die Aufklärer.
Doch Bildung ist anstrengend und anspruchsvoll, Lernen und sich bilden ein steter Bergaufprozess und kein linearer Schnellpfad – dass wusste die Gründergeneration der Schweizer Volksschule. Die Treppe zum Schulhaus symbolisierte es. Viele alte Schulhäuser erinnern an diesen Aufbruch – und den Aufstieg zur Bildung.
(1) Peter von Matt, Die tintenblauen Eidgenossen. Über die literarische und politische Schweiz. München 2001.