Für obligatorische Anlässe wie Schulreisen und Skitage, Schullager und Exkursionen dürfen in Zukunft nicht mehr die Eltern aufkommen. Finanzverantwortlich zeichnet die Schule; von den Eltern kann sie nur noch die Essenskosten verlangen. Mehr nicht. So hat das Bundesgericht im Dezember 2017 entschieden. Als Folge streichen einzelne Gemeinden solche speziellen Intermezzi. Das Geld fehlt. „Eine Bankrotterklärung für die Schweiz“ sei das, erklärte der oberste Schweizer Lehrer, Beat W. Zemp.
Bildung: Vorgang aus vielen Quellen
Spiel und Sport, Theater und Konzerte, Ausflüge und Lagertage gehören zu jenem Bereich, der nicht im Stundenplan steht und nicht im Fächerkanon figuriert. Doch er hat seinen unverzichtbaren Wert. Die Pädagogik umschreibt diesen Bereich mit den Begriffen „Schulleben und Schulkultur“. Sie prägen die Atmosphäre einer Schule nachhaltig.
Die Schulkultur schafft Zwischenzeiten – und damit pädagogisch wichtige Momente. Projekte, Lagerwochen und Exkursionen führen über das Korsett des Stundenplans hinaus und kreieren komplementäre Arbeits- und Lernformen. So entstehen zusätzliche Zeiträume und neue Lernchancen. Bildung wird zum Vorgang aus vielen Quellen. Eine davon sind Schulreisen. Mich persönlich haben sie geprägt. Und viele andere auch.
Schule als Türöffner zu Natur und Kultur
Unser Fünft- und Sechstklasslehrer kannte vermutlich nur zwei Ziele für Schulreisen. Beide führten ins Urnerland, die eine aufs Rütli, die andere ins kahle Urserental. Keine spektakulären Ausflüge, keine Actions, keine Events. Einfach eine kleine Reise – aber mit grosser Wirkkraft. Noch heute schaue ich hinauf zum trutzigen Turm der Herren von Hospental, wenn ich mit der Matterhorn-Gotthard-Bahn am Dorf vorbeifahre.
Lange und langsam waren wir unterwegs auf der Wanderung von Hospental nach Andermatt. Zuerst verweilten wir beim Turm, diesem imposanten Zeugen aus alter Zeit. Dann tauchten wir in den dunklen Schutzwald ein. Unser Lehrer zeigte uns, wie wichtig und bedeutsam dieser Bannwald für das Dorf war und gehütet wurde wie ein Schatz. Die Natur als Teil der Kultur.
Prägender Wert einer bescheidenen Reise
Ich erlebte den strengen, starken Mann, wie er sich liebevoll den Details zuwandte, spürte seine elegisch-lyrische Ader. Unser Lehrer – Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur in Personalunion! Wir, eine wilde Bande von über 50 Knaben, waren gefangen vom Augenblick und aufmerksam, achtsam. Darum war es einprägsam und wirksam, was er uns erzählte. Noch immer weiss ich, wie er uns die barocke Kapelle St. Karl (Borromäus) von Hospental erklärte und die Kircheninschrift deutete. Sie wurde zur Allegorie meines Lebens und blieb unauslöschlich im Gedächtnis.
Hier trennt der Weg, o Freund, wo gehst du hin?
Willst du zum ew’gen Rom hinunterziehn?
Hinab zum heil’gen Köln, zum deutschen Rhein.
Nach Westen weit ins Frankenland hinein?
Mit grosser Leidenschaft eine kleine Welt erklärt
Auf dieser Schulreise zählte nicht das Besondere; bedeutungsvoll war das Naheliegende. Unser Sechstklasslehrer hatte ein Auge für das Bedeutsame im Kleinen, ein Gespür für das Wichtige im engen Lebensraum zwischen Andermatt und Realp. Ein Lehrer mit einem achtsamen Auge für das Grosse im Kleinen, leidenschaftlich verliebt in die Geheimnisse dieser Landschaft, vertraut mit den unscheinbaren Phänomenen dieses rauen Gebirgstals. Was er uns über sein Heimattal Urseren erzählte, berührte unsere Sinne, gab Sinn und Bewusstsein und wurde wirksam. Noch heute bin ich ihm dafür dankbar.
Nicht das ohnehin Sichtbare wollte er wiedergeben, sondern Unscheinbares sichtbar machen – formuliert auf Augenhöhe von uns Schülern, skizziert als einprägsames Erlebnis. Was prägen und bleiben soll, muss zum Erlebnis werden. Dazu ist Entdecken nötig und Verweilen. Schulreisen waren für unsern Lehrer solche Gelegenheiten.
Wie wird aus Informationen Bildung?
Diese Exkursionen sind heute anspruchsvoller geworden. Das sei zugegeben. Die Zeiten haben sich geändert. Geblieben aber ist die grundlegende pädagogische Kernfrage: Wie wird der tägliche Schulweg zum persönlichen Bildungsweg, wie der tägliche Schulstoff zur Bildung? Niemand weiss es letztlich ganz genau, weil Bildung nicht quantifizierbar ist. Doch eines zeigt sich deutlich: Bildung ist in weiten Teilen ein gemeinsamer Weg; vieles prägt und wirkt. Und Bildung ist an Menschen gebunden. Sie ereignet sich, wie Pestalozzi sagte, von Angesicht zu Angesicht. Bildung als kreatives Tun zwischen Menschen, zwischen Lehrpersonen und Jugendlichen.
Einen solchen Primarlehrer hatten wir. Zu Phänomenen hat er uns geführt – mit seiner Leidenschaft für die Welt. Auch auf der kleinen Schulreise. Nichts Spektakuläres, doch für den persönlichen Lernprozess etwas Singuläres und Wirksames. Der Lehrer hat uns hellhörig gemacht für das Grosse im begrenzten Mikrokosmos des Urserentals. Er half uns, eine kleine Welt zu erschliessen und zu verstehen. Exemplarisches Lernen.
Vom Wert der Schulreisen
Nicht alles, was sich empirisch messen lässt, ist bedeutsam, und nicht alles, was für wichtig erachtet wird, ist relevant. (1) Das ist eine schlichte Tatsache. Auch der Wert der Schulreisen lässt sich kaum quantifizieren. Doch eines wissen wir: Unzählige Schülerinnen und Schüler erinnern sich daran. Ein Leben lang. Ungewohntes und Aussergewöhnliches bleiben im persönlichen Langzeitgedächtnis haften. Gleichzeitig verleihen sie dem Schuljahr die charakteristischen Farbtöne. Ein Farbtupfer mit besonderem Glanz ist und bleibt die Schulreise.
(1) Vgl. Julian Nida-Rümelin, Klaus Zierer: Bildung in Deutschland vor neuen Herausforderungen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 2017, S. 9.