Zehn solcher Spielplätze umfasst eine lesenswerte Anthologie mit Kurzgeschichten zur Kindheit in der Innerschweiz. [1] Sie führt uns in ferne Welten – und doch liegen sie zeitlich nahe.
„Vergesst das Kind nicht!“ Dieser Mahnruf stand am Anfang. Andreas Iten, Zuger a. Ständerat und damaliger Präsident des Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellervereins ISSV, rief Ende 2013 zu einem Wettbewerb auf. Über 30 Texte zum Thema „Kindheit in der Innerschweiz“ gingen ein; ausgewählt und prämiert wurden zehn Erzählungen. Sie berühren. Es sind Geschichten von Autorinnen und Autoren aus drei Generationen – Geschichten, die Vergangenes noch einmal zu Leben erwecken, Persönliches ins Gedächtnis rufen, Erlebtes feinfühlig skizzieren. Erinnerung nicht als Wiederholung, sondern gestaltet als Spielplatz des Damaligen, frei von Zwängen der Chronologie oder der Konsistenz, doch von eindringlicher emotionaler Kraft. So werden die Spielplätze auch zu Bewährungsräumen.
Ein kluges Vorwort von Daniel Annen führt in die Geschichten ein, setzt sie in einen Gesamtkontext und verbindet sie. Ursprung und Herkunft, Ordnung und Fortschritt, so überschreibt der aktuelle Präsident des ISSV seine erhellenden Gedanken.
In der Double-bind-Zwickmühle
„Hartes Brot“ heisst Tony Ettlins Rückblick auf seine Jugend in Stans. Nah und plastisch taucht vor uns sein Doppelleben als Gehilfe in Vaters Backstube und als Primarschüler auf – alles in einer gefestigten, wohl geordneten Welt. Der gestrenge Lehrer verkörperte sie als Inkarnation fachlicher und pädagogischer Autorität. Entsprechend autoritär war und wirkte er. Kein Zweifel störte, auch wenn er mit rabiaten Körperstrafen operierte und zum Teil schändlich prügelte. Die Schule bildete die unbestrittene Bastion von Zucht und Ordnung. Gehorchen war Gebot, der Gottesdienst Pflicht. Die Moral dominierte, die Strafe disziplinierte, die Gesellschaft sozialisierte. Das war gelebter Alltag – und mitten drin der kleine Tony mit den harten Forderungen der Erwachsenenwelt. Der Titel ist mehr als nur Metapher.
Die Stadt als sakraler Raum
Ins katholische Milieu führt uns auch Franziska Greising mit ihrem Text „Ein Tag im Juni“. Luzern gehört zu den katholischen Stammlanden: bis lange ins 20. Jahrhundert hinein eine geschlossene, mental und soziokulturell homogene Welt – ein Leben fast nach dem Rhythmus der Kirchenglocken. Sie läuteten nicht nur, sie gaben auch den Ton an. Religion und Tradition setzten Werte und Normen und gaben dem Alltag Gestalt. Auch durch das Fronleichnamsfest.
Der sogenannte Herrgottstag verwandelte die Stadt in einen sakralen Raum, feierlich geschmückt für die grosse Prozession. Altäre und Weihrauch, Fahnen und Blumen, Musik und Böllerschüsse der Herrgottskanoniere, die Mädchen in weissen Kleidern, die Knaben mit Krawättchen, die Männer im Sonntagsanzug, der Stadtpfarrer und Stiftsprobst in goldbesticktem Ornat. Würdevoll schritt er unter einem Baldachin an der Spitze der langen Prozession, gefolgt von den geistlichen, militärischen und weltlichen Würdenträgern. Am Schluss folgte das Volk. Wo aber waren an diesem Tag die Protestanten? Und was machten sie? In der katholisch-tridentinisch geprägten Welt der Stadt Luzern eine berechtigte Frage. Die Antwort der kleinen Schülerin überrascht. Doch lesen Sie selber.
Auch die übrigen Texte verleiten zur Lektüre. Es sind Entdeckungsreisen in Welten von einst, doch prägend bis heute; geschrieben haben sie Bruno Bollinger, Rolf Brogli-Burgener, Romano Cuonz, Heidy Gasser, Rebecca Gisler, Irma Hildebrandt, Therese Martino-Fässler und Peter Weingartner.
Staunen ist mehr als kindliche Naivität
Das Staunen könnte der Anfang des Denkens sein: Dieser behutsame platonische Gedanke kam mir bei der Lektüre dieser anregenden Geschichten mehrmals in den Sinn. Ich staunte immer wieder, wie weit weg das Damalige ist – und uns zeitlich dennoch so nahe steht. Die grossen und die kleinen, die kräftigen und die feinen Unterschiede irritieren. Wenn wir überrascht sind, stehen wir eben der Wirklichkeit gegenüber. Und diese Wirklichkeit ist anders geworden. Die Welt hat sich in schnellem Tempo verändert – tektonischen Verwerfungen ähnlich: im Religiösen, im Pädagogischen. Eigentlich in allem. Der kräftige Wandel der Lebensbedingungen bewirkt eine veränderte Kultur. Die zehn Geschichte animieren zum (Nach-)Denken. Am Anfang steht das Staunen über den rasanten Wandel.
[1] GESTERN. Kindheit in der Innerschweiz. Zehn Kurzgeschichten. Mit einem Vorwort von Daniel Annen, ISSV-Präsident. Luzern: Verlag pro Libro 2015.