Ein zentraler Begriff dominiert das derzeitige Pädagogenvokabular: eigenverantwortliches und damit selbständiges Lernen. Auf dieses allgegenwärtige Zauberwort stösst, wer den Lehrplan 21 studiert, wer aktuelle Unterrichtsmittel konsultiert, wer die Reformpostulate analysiert. Eingebettet ist das methodische Ideal in offene Lernstrukturen und den Imperativ des Wohlfühlens. Nur bleibt die Frage: Ist das pädagogische Wirksamkeit genug?
Nicht auf die Dogmen der Didaktik schwören
An diesen drei didaktischen Dogmen kommt keine künftige Lehrerin vorbei. Jeder angehende Lehrer wird darauf geprüft. „(Er) lernt, der Rhetorik zu folgen und von ihr direkt auf die Praxis zu schliessen“, – und damit auf die Wirkung seines pädagogischen Tuns. Doch, so der anerkannte Zürcher Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers weiter, „sei die Rhetorik der Ausbildung im Blick auf den Effekt (des Unterrichts) nicht sehr verlässlich.“(1)
Nur die Effektwerte machen eben sichtbar, was ein pädagogisches Konzept beinhaltet und konkret für das Lernen der Kinder bedeutet. Wohlklingende Theoriebegriffe alleine verfügen über keine Wirkungsgarantie in der Praxis, so wenig wie ein Frostschutzmittel gegen Durst hilft.
Selbständigkeit braucht Führung
Kinder stecken voller Potenziale. Das weiss jede gute Mutter, darüber freut sich jeder erfahrene Lehrer. Und gleichzeitig warnen verantwortungsvolle Erzieher vor dem Romantisieren und Idealisieren. Falls sie nicht Jean-Jacques Rousseaus pädagogischem Postulat des Laisser-faire folgen, führen sie den jungen Menschen und leiten ihn an – in einer asymmetrischen pädagogischen Beziehung. So wie es das griechische Wort paid-agogein (Päd-Agogik) eben meint: Kinder und Jugendliche führen, hinführen. Führen, nicht nur betreuen und begleiten.
Gleichheit in Ausbildungsprozessen ist eine Fiktion. Sie sind immer gekennzeichnet durch Kompetenzdifferenz und damit durch Ungleichheit oder eben Abhängigkeit. Das erfordert einen behutsamen und achtsamen Umgang mit Macht und Autorität. Eine der zentralen Aufgaben von Unterricht und Erziehung besteht darin, auf eine Aufhebung dieser Asymmetrie hinzuwirken. Autonomie ist das erzieherische Ziel, Symmetrie die Intention. Doch der Weg dorthin bleibt asymmetrisch.
Lernwirksamer Unterricht basiert auf Steuerung
Die verbreitete Euphorie um eigenverantwortliches und damit autonomes Lernen sei kurzsichtig, warnt darum die renommierte Lernforscherin der ETH Zürich, Professor Elsbeth Stern, und fügt bei: „Ohne intensive Lehrersteuerung ist hohe Lernwirksamkeit nicht zu erzielen; einmal ganz abgesehen von den Schwierigkeiten, die schwächere Schüler mit der Selbstständigkeit haben.“ (2) Hier wird pädagogische Verantwortung einfach an den Einzelnen abgeschoben. Der Rückzug der Lehrperson aus dem Lernprozess führt nicht selten zu Stress und Druck bei den Schülern. „(Sie) haben das Gefühl, sie müssten permanent Output produzieren (und) sich beweisen“, schreibt auch der Jugendpsychologe Allan Guggenbühl. Und etwas salopp bilanziert er: „Das selbständige Lernen, das als grosser Fortschritt angepriesen wird, ist zum Teil ein Schuss nach hinten.“
Frühe Autonomie für alle ist eine Illusion. Die Leidtragenden dieses methodischen Ideologems sind jene, die es sonst schon schwerer haben: Kinder und Jugendliche mit geringerem kulturellem Kapital aus dem Elternhaus (3) oder einer Migrationsbiographie. Darum brauchen gerade sie solche Lehrer, die nicht nur selbstbestimmte Lernprozesse coachen und mittels Unterrichtsblätter Planarbeit moderieren. Sie sind auf jene Lehrerinnen angewiesen, welche die Systematik der Inhalte vor den Kult um moderne Methoden setzen, die Führung übernehmen und entsprechende Orientierungen vorgeben.
Direkte Instruktion mit hohem Effektwert
Alle empirisch bewährten Studien zeigen: Die Lehrstrategie der „direkten Instruktion“ ist besser als ihr momentaner Ruf. Sie lenkt das systematische Lernen effektiv und zielgerichtet. Leider verwechseln sie viele mit der – zur recht kritisierten – Frontalmethode oder dem Paukerunterricht. Doch das Gegenteil ist der Fall: Direkte Instruktion wird zwar vom Lehrer gesteuert, wirkt aber intensiv schülerzentriert. Nicht umsonst erhält diese Lehrmethode vom neuseeländischen Bildungsforscher John Hatte einen hohen Effektwert (4) zugeordnet – fast dreimal höher als der individualisierende Unterricht.
Und noch etwas zeigen die wissenschaftlichen Befunde: Kinder und Jugendliche wollen ein menschliches Gegenüber, das sich für Neigungen wie Probleme interessiert, das organisiert und fachlich klar strukturiert, das hohe (Leistungs-)Erwartungen stellt und sie konsequent einfordert. Sie wünschen sich eine Person, die kontrolliert und korrigiert, die ihre Lernfortschritte evaluiert und individuell Feedback gibt und dabei ermutigt, die Widerstand aushält und auch herzlich streng sein kann. Strenge ist für solche Pädagogen darum kein Tabu.
Dissenserfahrungen ermöglichen
Das erfordert eine Lehrerpersönlichkeit, die für Lebensstile und Werte eintritt, die sie für richtig und wichtig hält und sie auch kommuniziert – eine Lehrperson, die weiss, was sie will, und darum auch mit charmanter Autorität konfrontieren kann. Für sie gehören Einspruch und Widerspruch so konstitutiv zum Unterricht und zur pädagogischen Beziehung wie Empathie. Es sind die beiden Erzieher-Standbeine: einfühlen und konfrontieren.
Gute Lehrerinnen, pflichtbewusste Lehrer treten mit den Lernenden in persönlichen Dialog und Diskurs. Wenn nötig provozieren sie Debatten, inszenieren sich als Gegenspieler und rütteln die Jungen wach; denn sie wissen, dass Dissenserfahrungen für junge Menschen existenziell sind. Allzu oft erleben sie nur Watte und Wolle; die Verwöhnungsfalle kennt kaum Wind und wabernde Wolken. Lernen erfolgt eben auch am Widerstand, vollzieht sich an Grenzen. Junge Menschen wollen nicht einfach bestätigt werden in dem, was sie schon sind und haben. Sie wollen herausgefordert werden und auf Widerspruch stossen. Aber auf eine Art von Widersprechen, das sie ergreift, bewegt und ernst nimmt.
Schule als kulturelle Gegenwelt
Nur so können Lehrer Überbrückungsarbeit leisten und junge Menschen aus ihrer Jugendsphäre und Eigenperspektive heraus in eine Art kulturelle Gegenwelt führen. Sie bedeutet für viele eine Fremdheitserfahrung, denn zwischen Jugendwelt und Bildungswelt klafft oft ein tiefer Graben. Sich im Unterricht dominant am Alltag der Schülerinnen und Schüler zu orientieren, das kann nicht der alleinige Fokus sein; das ist zu wenig und nicht zukunftstauglich. Es gibt ein Wissen und Können jenseits der jugendlichen Lebenswelt.
Schule hat darum kulturelle Gegenwelten aufzuzeigen und an ihren Inhalten Lern- und Denkgewohnheiten zu schulen und so das heute dringend notwendige Orientierungswissen zu fördern. Und darum muss man es wieder wagen, vom Bildungsauftrag zu reden und davon, dass die Beschäftigung mit Fontanes Effie Briest oder mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung in sich lohnend und wertvoll ist und dass ein Gedicht von Bertold Brecht etwas anderes bedeutet als ein Song von DJ Bobo. Alles Aufgaben, die nicht veralten.
Das Zeitlos-Gültige
Es gibt die Paedagogia perennis, das, was immer gilt und keinem Verfalldatum untersteht. Veralterungsresistent nennt man das – oder klassisch. Es ist darum naiv zu glauben, etwas sei schon deshalb gut und erstrebenswert, weil es neu, innovativ und modern ist. Viele Erkenntnisse und Prinzipien, zum Beispiel der Lern- und Gedächtnispsychologie, sind zwar alt und darum nicht modern, doch sie sind zeitlos gültig – im Gegensatz zu methodischen Modernismen wie Lernen ohne Lehrer oder Schreiben durch Lesen und Schreiben nach Gehör.
Zu den klassischen Lehrstrategien gehört auch die direkte Instruktion. Sie verbindet themen- und sachbezogene Schüleraktivität mit einem hohen Mass an schülerorientierter Lehrersteuerung und erzielt eine hohe Effektstärke. Darum zählt sie zum methodischen Weizen – und ist von der Spreu illusionärer Innovationen zu sondern.
(1) Jürgen Oelkers (2012), Outputorientierung in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung. Vortrag an der PH Graubunden. Msc, S. 13
(2) Michael Felten, Elsbeth Stern (2014), Lernwirksam unterrichten. Im Schulalltag von der von der Lernforschung profitieren. Berlin: Cornelsen, S. 6
(3) Pierre Bourdieu (2001), Wie die Kultur zum Bauern kommt. Über Bildung, Schule und Politik. Hamburg: VSA Verlag, S. 112ff.
(4) Hattie John (2009), Visible Learning. London, New York: Routledge. / Hattie John/Beywl Wolfgang & Zierer Klaus (2013), Lernen sichtbar machen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Hatties umfangreiche Meta-Meta-Studie gilt international als Referenz. Gemäss Hattie hat direkte Instruktion einen Effektwert von d = 0.59, individualisierender Unterricht lediglich eine Wirkung von d = 0.22.