„Heute ist es sehr wichtig, eine eigene Meinung zu haben, das ist viel wichtiger als beispielsweise Ahnung zu haben“, „meint“ der bayrische Kabarettist Django Asül. Und er hat Recht. Wer moderne Lehrpläne durchgeht und aktuelle Lehrbücher konsultiert, sieht sehr schnell: Gefragt ist vielfach „deine persönliche Meinung“, oft sogar das Gefühl oder die momentane Befindlichkeit. Inhalt und Wissen verkommen in der Informationsgesellschaft nicht selten zur Nebensache. Dabei könnten im postfaktischen Zeitalter ein paar klare Fakten gar nicht schaden. Wie sonst kann man Fakt von Fake unterscheiden?
Unterrichtsaufträge ohne klares Grundlagenwissen
„Die Schülerinnen und Schüler (der siebten bis neunten Klasse) können die Nachhaltigkeit naturwissenschaftlich-technischer Anwendungen diskutieren.“ So heisst es im Lehrplan 21. Und weiter ist zu lesen: Sie „können sich angeleitet über die Bedeutung von naturwissenschaftlich-technischen Anwendungen für den Menschen informieren, insbesondere in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit und Ethik (z. B. Gentechnik, Nanostoffe, Haltbarmachung von Milch, Antibiotika)“.
Kompetenzen sind an Wissen und Können gebunden
Unklar bleibt, auf welchem Grundlagenwissen und welchen Lerninhalten diese Aufträge basieren. Ein solches Basiswissen aber ist für Vernetzungen und Differenzierung notwendig. Ohne dieses Fundament ist es Schülerinnen und Schülern nicht möglich, differenziert und autonom zu denken und zu urteilen, wie es der Auftrag verlangt. Und wie, beispielsweise, können die Lernenden der Sekundarschule I „die Positionierung der Schweiz in Europa und der Welt wahrnehmen und beurteilen“, wenn sie über kein strukturiertes Wissen verfügen? Wie können sie nach Lösungen suchen, wenn sie die Probleme nicht verstehen und sie nicht einordnen können, z. B. nach den klassischen Kategorien politisch, ökonomisch, sozial?
Können ist mit Wissen verknüpft. Wer nichts weiss, der kann weder solche Aufgaben lösen noch kreative Ideen entwickeln. Er schwatzt allenfalls und meint.
Systematischer Aufbau von Wissensstrukturen
Im Grund wissen wir es alle: Die Entropie, die Selbstverzehrung des Wissens schreitet fort. Ausgerechnet die wachsende Informations- und Fächerfülle relativiert fundamentales Wissen oft über Gebühr und erhöht die Vergesslichkeitsquote. Das bringt Schulen in Bedrängnis. Junge Menschen brauchen daher ein pädagogisches Gegenüber, das sich um einen systematischen und darum nachhaltigen Aufbau von Wissensstrukturen bemüht – und nicht einfach zufällig und additiv Kenntnisse vermittelt. Es sind Einsichten, die – ganz im Sinne von Kants Urteilskraft – helfen, das Besondere vom Allgemeinen, die Regeln von der Ausnahme und wenn immer möglich das Wahre vom Falschen zu unterscheiden.
Es gibt kein Denken und Verstehen ohne Wissen. Selber denken aber basiert auf einer wichtigen Prämisse: Ich muss meine Gedanken mitteilen und dem Widerspruch aussetzen können. Deshalb sind Lernende im Unterricht auf ein persönliches Vis-à-Vis angewiesen, das ihnen antwortet, das ihnen zustimmt oder Einspruch erhebt – nicht aber eine Instanz, die stets wertet und sofort bewertet.
Junge Menschen zu Verstehenden machen
Gewissenhafte Pädagogen wissen natürlich, dass es auch Skills braucht, überprüfbare Grundfertigkeiten. Doch sie sind nur Hilfsmittel, nie Selbstzweck. Entscheidend an ihrem Unterricht ist der Einbezug der Schülerinnen und Schüler in einen Ablauf von Denkschritten: dialogisches und hermeneutisches Denken als Reise zwischen Frage und Antwort, zwischen Problemstellung und Erkenntnis – und damit als grundlegendes Training des Denkens und Verstehens.
Ziel: ein freies Selbst
Wem diese Dialektik von Kennen und Erkennen, von Kenntnis und Erkenntnis wichtig ist, hütet sich vor etwas: Schülerinnen und Schüler auf ihre Gesinnung zu überprüfen. Und er weigert sich, offiziöse oder sozial erwünschte Denkweisen zu übernehmen [1] und junge Menschen damit zu indoktrinieren. Ein solche Lehrperson respektiert ihre individuelle Freiheit: Die Lernenden können selber entscheiden und selber bestimmen, was für sie wichtig ist. So schulen sie ihre Urteilskraft – in einer Schule, die Ort des offenen Diskurses ist und Freiraum für kreatives Denken bietet.
Sokratische Pädagogen öffnen den Horizont, sie schliessen ihn nicht. Nur so wird aus der Schülerin, dem Schüler später ein freies und autonomes Selbst.
[1] Anton Hügli: Kompetenz. Begriffsgeschichtliche Perspektiven. Ms. unpubl., (2016), S. 11.