Ein guter Kenner Thomas Manns, der politische Publizist Klaus Harpprecht, nennt das Werk „das Produkt einer intellektuellen und moralischen Verkrampfung, die den Autor mitunter an den Rand des geistigen Infarkts gebracht hat“.
Und Harpprecht zögert nicht, darin „die Ankündigung des Aufstands der Irrationalität, der Deutschland und mit ihm Europa in den Abgrund reissen sollte“, zu sehen. Noch schärfer urteilte Golo Mann, der Sohn des berühmten Schriftstellers. Das Buch habe, schrieb er dem französischen Soziologen Raymond Aron, eines mit Hitler gemeinsam: „Beide hätten nicht passieren dürfen.“
Ohne Aufbau und Komposition, voller Polemik
Die Rede ist von den „Betrachtungen eines Unpolitischen“. Ihre Niederschrift beschäftigte Thomas Mann zwischen 1915 und 1918, ohne dass er zu Beginn schon klar gesehen hätte, wohin das Unternehmen ihn führte.
Es ist ein Monstrum von einem Buch geworden: über 600 Seiten lang, ohne Aufbau und Komposition, voller Polemik, aber auch voller Selbstzweifel. Der Autor selbst sprach von dem „künstlerisch heillosen Gedankentumult“, der in dem Buch walte.
Vierzehn Jahre zuvor waren Thomas Manns „Buddenbrooks“ erschienen, und der Verfasser war berühmt geworden. Vielen Lesern erschien er als neuer Nationaldichter, und der junge Autor bereitete sich vor, diese Rolle auszufüllen.
Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, stellte er sich, insgeheim glücklich darüber, ausgemustert worden zu sein, in die grosse Schar begeisterter deutscher Patrioten. In der Schrift, „Gedanken im Kriege“ bezog Thomas Mann erstmals Stellung und griff in den Propagandakrieg ein, den französische und deutsche Schriftsteller entfesselt hatten.
Von der geistigen Überlegenheit Deutschlands überzeugt
Unmissverständlich machte er klar, dass er den Krieg begrüsste und den deutschen Sieg wünschte. „Wie hätte der Künstler“, schrieb er, „der Soldat im Künstler, nicht Gott loben sollen für den Zusammenbruch einer Friedenswelt, die er so satt, so übersatt hatte?“ Von der geistigen Überlegenheit seines Landes war Thomas Mann überzeugt. Schon in „Gedanken im Kriege“ konstruierte er einen Gegensatz zwischen „Zivilisation“ und „Kultur“ und liess keinen Zweifel daran, dass die französische „Zivilisation“ der deutschen „Kultur“ unterlegen war.
Die „Betrachtungen eines Unpolitischen“, vom Autor als „Gedankendienst mit der Waffe“ bezeichnet, erschienen, als die deutsche Niederlage schon besiegelt war. Das Werk ist zuerst Ausdruck eines persönlichen Konflikts mit dem vier Jahre älteren Bruder Heinrich. Dann weiten sich die „Betrachtungen“ zur kulturpolitischen Stellungnahme, die scharf zwischen Freund und Feind unterscheidet. Und schliesslich handelt es sich um ein kompliziertes und widersprüchliches Zeugnis der Selbstreflexion, das der Infragestellung des eigenen Künstlertums nicht ausweicht.
Auch Heinrich Mann war Schriftsteller, ein Konkurrenzverhältnis war programmiert. Der ältere Bruder war mit einigen Romanen hervorgetreten, bevor Thomas mit dem grossen Erfolg der „Buddenbrooks“ in Führung ging. Heinrich Mann war frankophil und sah seine Vorbilder in den gesellschaftskritischen Romanciers Balzac, Flaubert und Zola.
In den Jahren vor Kriegsbeginn arbeitete er an seinem grossen Roman „Der Untertan“, einer scharfen Kritik an der wilhelminischen Gesellschaft, die er von autoritärer Gewalt und serviler Unterwürfigkeit geprägt sah. Thomas Manns Vorbilder waren dagegen Schopenhauer, Nietzsche, Richard Wagner und die russischen Schriftsteller. Er bekannte sich zum Obrigkeitsstaat Wilhelms II., den es gegen die französische Republik zu verteidigen galt. Sein Roman „Königliche Hoheit“, 1909 abgeschlossen, war eine ironisierende Verklärung deutschen Fürstentums.
Heinrich gegen Thomas, Thomas gegen Heinrich
Im November 1915 erschien Heinrich Manns Essay mit dem kurzen Titel „Zola“. Der französische Schriftsteller war 1898 mit dem Zeitungsartikel „J’accuse“ für den unschuldig wegen Spionage verurteilten Hauptmann Dreyfus eingetreten und hatte dem Recht zum Sieg verholfen.
Heinrich Mann sah in Zola den Musterfall des politisch engagierten, fortschrittsgläubigen Gesellschaftskritikers. Er bewunderte am Franzosen, dass er in seinem Werk dem einfachen Volk, der Masse, seine Stimme lieh und für soziale Gerechtigkeit und Demokratisierung eintrat. Heinrich Manns Zola-Essay gipfelte im pathetischen Aufruf: „Geist ist Tat, die für den Menschen geschieht, und so sei der Politiker Geist, und der Geistige handle.“
In Heinrich Manns Essay finden sich einige Stellen, die der Bruder, ohne dass sein Name genannt wurde, als gegen sich gerichtet empfand. Er war im Innersten getroffen und schwer gekränkt. Mit seinen „Betrachtungen“ schlug er zurück; auf den Schuss aus dem Hinterhalt antwortete er mit der Salve des Exekutionspelotons. Auch Thomas nannte seinen Bruder nicht beim Namen. Aber wenn er mit verächtlicher Herablassung vom „Zivilisationsliteraten“ sprach, wusste jeder Leser, wen es anging.
Deutschtum, das ist Kultur - nicht Literatur
Mit dem Begriff des „Zivilisationsliteraten“, wie er durch die „Betrachtungen“ geistert, ist der Schriftsteller gemeint, der in die Niederungen der Politik hinabsteigt, in der Hoffnung, den moralischen und demokratischen Fortschritt voranzutreiben. Dem Tagesgeschehen zugewandt, gehen diesem Autor Aura und höhere Weihe des Dichters ab. In der kritischen Einschätzung durch Thomas Mann ist er die fatale Figur, welche „die Literarisierung, Radikalisierung, Intellektualisierung, Politisierung, kurz: Demokratisierung Deutschlands betreibt“.
Dem „Zivilisationsliteraten“ fehlt das Verständnis für das Geheimnis der schöpferischen Leistung, er verkennt die metaphysische Dimension des Menschen und reduziert diesen auf seine soziale Funktion. Auf den vielen Seiten seiner „Betrachtungen“ sammelt Thomas Mann mit fleissiger Leidenschaft und hoher literarischer Begabung Attribute und Vokabeln, die er zur verbalen Steinigung seines Bruders benötigt.
Gleichzeitig aber dient das Buch -– und hier wird es politisch - der Zurückweisung des geistigen Dominationsanspruchs Frankreichs.
Der „Zivilisationsliterat“ ist, Thomas Manns Meinung nach, „grossmäulig-demokratisch“, „platt-human“, „trivial-verderbt“, „feminin elegant“, „zersetzend-analytisch“; er ist ein Schönredner, ein jakobinischer Schwätzer, ein heimatloser Kosmopolit.
Auf diesen flachen französischen Zivilisationsbegriff antwortet Thomas Mann mit seiner Vorstellung von der deutschen Kultur. „Der Unterschied von Geist und Politik“, schreibt er in den „Betrachtungen“, „enthält den von Kultur und Zivilisation, von Seele und Gesellschaft, von Freiheit und Stimmrecht, von Kunst und Literatur; und Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur.“
D'Annunzio, Volksschänder, Wollüstling
Am Typus des Bürgers verdeutlicht Thomas Mann seine Ansichten. Der französische Bürger, der „bourgeois“, ist das Geschöpf der Revolution, Vernunftmensch, demokratisch, kosmopolitisch, profitorientiert und auf oberflächliche Weise liberal und menschenfreundlich.
Ihm wird der deutsche Bürger als Repräsentant wahrer Kultur entgegengestellt. Dieser liebt die Ordnung, ist national gesinnt, ernst- und tugendhaft, individualistisch, nach innen gerichtet. Seinen schönsten Ausdruck findet die bürgerlich-deutsche Kultur in der Romantik.
Im „Taugenichts“ von Joseph von Eichendorff sieht Thomas Mann das sprechende Beispiel eines wahren deutschen Kunstwerks. Der Roman, stellt er fest, „entbehrt jedes soliden Schwergewichts, jedes psychologischen Ehrgeizes, jedes sozialkritischen Willens und jeder intellektuellen Zucht; er ist nichts als Traum, Musik, Gehenlassen, ziehender Posthornklang, Fernweh, Heimweh, Leuchtkugelfall auf nächtlichen Park, Seligkeit, so dass einem die Ohren klingen und der Kopf summt vor poetischer Verzauberung“.
Als krasses Gegenbeispiel zu Eichendorffs absichtsloser, in sich ruhender deutscher Kulturleistung kommt Thomas Mann gegen den Schluss seiner „Betrachtungen“ auf den „lateinischen Dichter-Politiker“ Gabriele d’Annunzio zu sprechen.
D’Annunzio hatte zu Beginn des Krieges das noch unschlüssige Italien mit glühenden Worten zum Kriegseintritt an der Seite Frankreichs aufgerufen. Diesem „Rhetor-Demagogen“ tritt Thomas Mann mit zornigem Widerspruch entgegen. „Da habt ihr ihn“, ruft er aus und denkt dabei zugleich an seinen Bruder, „den politisierten Ästheten, den poetischen Volksverführer, Volksschänder, den Wollüstling des rhetorischen Enthusiasmus, den belles-lettre-Politiker, den Katzelmacher des Geistes, den‚ ‚miles gloriosus’ demokratischer ’Menschlichkeit’! Und das sollte heraufkommen bei uns? Das sollte Herr werden bei uns? Nie wird es das.“
"Leise auf dem Weg zur Republik
Nun versteht es sich, dass die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ sich nicht auf den Gegensatz zwischen „Zivilisation“ und „Kultur“, zwischen französisch und deutsch, eingrenzen lassen. Gerade das Beispiel D’Annunzios zeigt, dass die Dinge komplizierter liegen, war doch der Italiener ein ähnlich grosser Verehrer Nietzsches, Schopenhauers und Wagners wie Thomas Mann.
Eine Unzahl künstlerischer Probleme, die den Verfasser beschäftigten, wird in den „Betrachtungen“ abgehandelt. Auch besitzt der Autor ein zu feines Gespür für Schattierungen, Nuancen und geistreiche Paradoxien, als dass er zum fatalen Vereinfacher und Ideologen taugte.
Er ist kein Deutschtümler, kein Hurrapatriot und kein Franzosenfresser. In den von heillosem Stimmengewirr erfüllten Raum der deutschen Nachkriegszeit hineingesprochen, wurde Thomas Manns Botschaft jedoch vom konservativen Bildungsbürgertum begierig aufgenommen. Von jenen Kreisen also, die sich der parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik widersetzten und damit entscheidend zum Untergang des Rechtsstaats beitrugen.
Thomas Mann ging einen anderen Weg, und er ging ihn mit Überzeugung. Er versöhnte sich mit seinem Bruder und bekannte sich im Oktober 1922 in einer aufsehenerregenden Rede im Berliner Beethovensaal zur neuen deutschen Republik. Wie war dieser Wandel möglich?
Klaus Harpprecht spricht von einer „tiefen Zäsur“ und „dramatischen Wendung“ in Thomas Manns Leben. Hermann Kurzke, kein Freund Harpprechts, aber ebenfalls ein grosser Thomas Mann-Kenner, ist davon überzeugt, dass sich im riesigen Gedankenarsenal der „Betrachtungen“ bereits Ansätze zur politischen Kehrtwende finden. „Die ‚Betrachtungen’ sind“, schreibt Kurzke mit subtiler Dialektik, „obwohl sie laut das Gegenteil wollen, leise auf dem Weg zur Republik.“
Thomas Mann hat seine „Betrachtungen eines Unpolitischen“ nie verleugnet. Aber sein früher und entschiedener Widerstand gegen Hitler-Deutschland macht deutlich, dass er sich von den reaktionären Versuchungen seines fragwürdigsten Buches zu lösen vermochte.